Opinion of Advocate General Collins delivered on 9 March 2023.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2023:189
Date09 March 2023
Celex Number62021CC0568
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

ANTHONY COLLINS

vom 9. März 2023(1)

Rechtssache C568/21

Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid

Beteiligte:

E.,

S.,

und deren minderjährigen Kinder

(Vorabscheidungsersuchen des Raad van State [Staatsrat, Niederlande])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Verordnung [EU] Nr. 604/2013 – Art. 2 Buchst. 1 – Begriff „Aufenthaltstitel“ – Von einem Mitgliedstaat ausgestellter Diplomatenausweis – Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats – Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen – Vorrechte und Immunitäten – Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats“






I. Einleitung

1. Die vorliegenden Schlussanträge betreffen die Frage, ob Diplomatenausweise, die von einem Mitgliedstaat gemäß dem am 18. April 1961 in Wien geschlossenen Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen (im Folgenden: Wiener Übereinkommen)(2) an Drittstaatsangehörige als Personal einer diplomatischen Vertretung in diesem Staat ausgestellt werden, Aufenthaltstitel im Sinne von Art. 2 Buchst. l der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (im Folgenden: Dublin‑III-Verordnung)(3), sind mit der Folge, dass dieser Mitgliedstaat für die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz, die von Inhabern solcher Ausweise gestellt werden, zuständig ist.

II. DublinIII-Verordnung

2. Die Erwägungsgründe 4 und 5 der Dublin‑III-Verordnung lauten:

„(4) Entsprechend den Schlussfolgerungen von Tampere sollte das [Gemeinsame Europäische Asylsystem] auf kurze Sicht eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats umfassen.

(5) Eine solche Formel sollte auf objektiven und für die Mitgliedstaaten und die Betroffenen gerechten Kriterien basieren. Sie sollte insbesondere eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglichen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung des internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden.“

3. In Art. 1 („Gegenstand“) der Dublin‑III-Verordnung heißt es: „Diese Verordnung legt die Kriterien und Verfahren fest, die bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, zur Anwendung gelangen (im Folgenden ,zuständiger Mitgliedstaat‘).“

4. Im Sinne der Dublin‑III-Verordnung wird in deren Art. 2 Buchst. l der Begriff „Aufenthaltstitel“ definiert als „jede von den Behörden eines Mitgliedstaats erteilte Erlaubnis, mit der der Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats gestattet wird, einschließlich der Dokumente, mit denen die Genehmigung des Aufenthalts im Hoheitsgebiet im Rahmen einer Regelung des vorübergehenden Schutzes oder bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die eine Ausweisung verhindernden Umstände nicht mehr gegeben sind, nachgewiesen werden kann; ausgenommen sind Visa und Aufenthaltstitel, die während der zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats entsprechend dieser Verordnung erforderlichen Frist oder während der Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz oder eines Antrags auf Gewährung eines Aufenthaltstitels erteilt wurden.“

5. Gemäß Art. 7 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung „[finden die] Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats … in der in diesem Kapitel genannten Rangfolge Anwendung“.

6. In Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 der Dublin‑III-Verordnung sind die maßgebenden Kriterien festgelegt. Art. 12 („Ausstellung von Aufenthaltstiteln oder Visa“) Abs. 1 bestimmt: „Besitzt der Antragsteller einen gültigen Aufenthaltstitel, so ist der Mitgliedstaat, der den Aufenthaltstitel ausgestellt hat, für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig.“ Art. 14 („Visafreie Einreise“) der Dublin‑III-Verordnung lautet:

„(1) Reist ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ein, in dem für ihn kein Visumzwang besteht, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig.

(2) Der Grundsatz nach Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Drittstaatsangehörige oder Staatenlose seinen Antrag auf internationalen Schutz in einem anderen Mitgliedstaat stellt, in dem er ebenfalls kein Einreisevisum vorweisen muss. In diesem Fall ist dieser andere Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig.“

7. Art. 29 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung bestimmt:

„Die Überstellung des Antragstellers … aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat erfolgt … spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Artikel 27 Absatz 3 aufschiebende Wirkung hat.“

III. Sachverhalt des Ausgangsverfahrens, Vorlagefrage und Verfahren vor dem Gerichtshof

8. Die Personen, die internationalen Schutz beantragt haben (im Folgenden: Antragsteller), sind Drittstaatsangehörige, die eine Familie bilden. Der Ehemann arbeitete in der Botschaft seines Herkunftsstaats im Mitgliedstaat X. Der Ehemann, die Ehefrau und die beiden Kinder besaßen die Vorrechte und Immunitäten nach dem Wiener Übereinkommen und erhielten vom Außenministerium dieses Staates Diplomatenausweise. Einige Jahre später verließ die Familie den Mitgliedstaat X und beantragte internationalen Schutz in den Niederlanden(4).

9. Am 31. Juli 2019 teilte der Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Staatssekretär für Justiz und Sicherheit, Niederlande, im Folgenden: Staatssekretär) den Antragstellern mit, dass nach seiner Auffassung der Mitgliedstaat X für die Prüfung ihrer Anträge zuständig sei und zwar entweder nach Art. 12 Abs. 1 oder nach Art. 12 Abs. 3 der Dublin‑III-Verordnung.

10. Am 30. August 2019 lehnte der Mitgliedstaat X die Aufnahmegesuche des Staatssekretärs ab und wies darauf hin, dass er den Antragstellern weder Aufenthaltstitel noch Visa erteilt habe, da sie sich ausschließlich aufgrund ihres Diplomatenstatus in diesem Mitgliedstaat aufgehalten hätten. Die Antragsteller seien mit einem von ihrem Herkunftsstaat ausgestellten Diplomatenpass in den Mitgliedstaat X und in die Niederlande eingereist und hätten daher kein Visum benötigt. Gemäß Art. 14 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung seien somit die Niederlande für die Prüfung ihrer Anträge zuständig.

11. Am 11. September 2019 ersuchte der Staatssekretär den Mitgliedstaat X, die Aufnahmegesuche nochmals zu prüfen. Unter Berufung auf das Handbuch des Mitgliedstaats X über diplomatische Vorrechte und Immunitäten vertrat der Staatssekretär die Auffassung, dass die vom Mitgliedstaat X ausgestellten Diplomatenausweise einen Aufenthaltstitel darstellten. Die Zuständigkeit für die Prüfung der Anträge liege gemäß Art. 12 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung beim Mitgliedstaat X.

12. Am 25. September 2019 gab der Mitgliedstaat X den Aufnahmegesuchen statt.

13. Mit Bescheiden vom 29. Januar 2020 lehnte der Staatssekretär die Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz ab.

14. Die Antragsteller klagten gegen diese Bescheide. Sie machten vor der Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag, Niederlande) geltend, dass der Mitgliedstaat X für die Prüfung ihrer Anträge nicht zuständig sei, da sich ihr Recht auf Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat aus dem Wiener Übereinkommen herleite. Die vom Mitgliedstaat X ausgestellten Diplomatenausweise seien deklaratorisch und würden dieses Recht bloß bestätigen.

15. Die Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag) gab der Klage statt und hob die Bescheide des Staatssekretärs mit der Begründung auf, dass die Diplomatenausweise nicht als Aufenthaltserlaubnis im Mitgliedstaat X angesehen werden könnten, da die Antragsteller nach dem Wiener Übereinkommen bereits ein Aufenthaltsrecht in diesem Mitgliedstaat hätten. Die Diplomatenausweise hätten daher für dieses Aufenthaltsrecht eine rein deklaratorische (und nicht konstitutive) Bedeutung. Der Staatssekretär sei daher verpflichtet, ihre Anträge zu prüfen.

16. Der Staatssekretär legte gegen das Urteil Rechtsmittel beim Raad van State (Staatsrat, Niederlande) ein.

17. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist der Begriff „Aufenthaltstitel“ weder durch den Wortlaut noch durch den Zusammenhang von Art. 2 Buchst. l der Dublin‑III-Verordnung hinreichend klar definiert. In dieser Verordnung sei nicht ausdrücklich festgelegt, dass dieser ein nach nationalem Recht ausgestelltes Dokument sein müsse. Es müsse sich zwar um eine von den Behörden eines Mitgliedstaats ausgestellte Erlaubnis zum Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet handeln, aber es werde nicht im Einzelnen gesagt, was diese Erlaubnis beinhalten müsse. Auch aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebe sich insoweit keine Klarheit. Das Wiener Übereinkommen verpflichte die Vertragsstaaten, dem diplomatischen Personal und seinen Familienangehörigen den Aufenthalt in ihrem Hoheitsgebiet zu gestatten. Der Empfangsstaat sei nicht befugt, Diplomaten die Erlaubnis zum Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet zu erteilen oder zu verweigern(5).

18. In Anbetracht dieser Feststellungen hat das vorlegende Gericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 2 Buchst. l der Dublin‑III-Verordnung dahin auszulegen, dass ein von einem...

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