Conclusiones del Abogado General Sr. M. Campos Sánchez-Bordona, presentadas el 29 de junio de 2023.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2023:532
Date29 June 2023
Celex Number62023CC0107
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA

vom 29. Juni 2023(1)

Rechtssache C107/23 (PPU)

C. I.,

C. O.,

K. A.,

L. N.,

S. P.

gegen

Statul român

(Vorabentscheidungsersuchen der Curtea de Apel Brașov [Berufungsgericht Brașov, Rumänien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz der finanziellen Interessen der Union – Mehrwertsteuerbetrug – Art. 325 Abs. 1 AEUV – SFI‑Übereinkommen – Richtlinie (EU) 2017/1371 – Verpflichtung zur Bekämpfung von Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union durch abschreckende und wirksame Maßnahmen – Entscheidung 2006/928/EG – Verfahren für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung – Verjährungsfrist in Strafsachen – Urteil, mit dem die nationalen Vorschriften über die Unterbrechung der Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für verfassungswidrig erklärt werden – Systemische Gefahr der Straflosigkeit – Schutz der Grundrechte – Art. 49 Abs. 1 letzter Satz der Charta – Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes (lex mitior) – Nationaler Schutzstandard für die Grundrechte – Verpflichtung der nationalen Richter, den Urteilen der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) volle Wirksamkeit zu verschaffen – Disziplinarische Verantwortlichkeit der Richter im Fall der Nichtbeachtung dieser Entscheidungen – Befugnis, Entscheidungen der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof), die nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sind, unangewendet zu lassen – Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts“






1. Im vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Auslegung verschiedener Bestimmungen des Unionsrechts, um zu entscheiden, ob es einer als außerordentlicher Rechtsbehelf eingelegten Nichtigkeitsbeschwerde von Personen, die aufgrund von als Steuerhinterziehung und Bildung einer organisierten kriminellen Vereinigung eingestuften Handlungen zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden, stattgibt oder nicht.

2. Gegenstand des Rechtsstreits ist die Frage, ob eine nationale Regelung der Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, wonach nach Erlass eines Urteils der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof, Rumänien) für einen bestimmten Zeitraum keine Möglichkeit zur Unterbrechung der Verjährungsfristen bestand, mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts könnte eine solche Regelung zur Straffreiheit zahlreicher gegen die finanziellen Interessen der Union gerichteter Straftaten führen.

3. Die Beantwortung der Vorlagefragen stellt den Gerichtshof vor die Aufgabe, seine noch in der Entwicklung befindliche Rechtsprechung zum durch Art. 49 Abs. 1 letzter Satz der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: „Charta“) garantierten Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes (lex mitior) auszugestalten.

I. Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht

1. SFI-Übereinkommen(2)

4. Art. 1 Abs. 1 des SFI-Übereinkommens legt fest:

„Für die Zwecke dieses Übereinkommens umfasst der Tatbestand des Betrugs zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften

b) im Zusammenhang mit Einnahmen jede vorsätzliche Handlung oder Unterlassung betreffend

– die Verwendung oder Vorlage falscher, unrichtiger oder unvollständiger Erklärungen oder Unterlagen mit der Folge, dass Mittel aus dem Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften oder aus den Haushalten, die von den Europäischen Gemeinschaften oder in deren Auftrag verwaltet werden, rechtswidrig vermindert werden;

…“

5. Art. 2 dieses Übereinkommens bestimmt:

„(1) Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die in Artikel 1 genannten Handlungen sowie die Beteiligung an den Handlungen im Sinne von Artikel 1 Absatz 1, die Anstiftung dazu oder der Versuch solcher Handlungen durch wirksame, angemessene und abschreckende Strafen geahndet werden können, die zumindest in schweren Betrugsfällen auch Freiheitsstrafen umfassen, die zu einer Auslieferung führen können; als schwerer Betrug gilt jeder Betrug, der einen in jedem Mitgliedstaat festzusetzenden Mindestbetrag zum Gegenstand hat. Dieser Mindestbetrag darf 50 000 [Euro] nicht überschreiten.

…“

2. Entscheidung 2006/928/EG(3)

6. In Art. 1 der Entscheidung 2006/928 heißt es:

„Bis zum 31. März jedes Jahres und zum ersten Mal bis zum 31. März 2007 erstattet Rumänien der Kommission Bericht über die Fortschritte bei der Erfüllung der im Anhang aufgeführten Vorgaben.

…“

7. Der Anhang dieser Entscheidung hat folgenden Wortlaut:

„Vorgaben für Rumänien nach Artikel 1:

1. Gewährleistung transparenterer und leistungsfähigerer Gerichtsverfahren durch Stärkung der Kapazitäten und Rechenschaftspflicht des Obersten Richterrats, Berichterstattung und Kontrolle der Auswirkungen neuer Zivil- und Strafprozessordnungen,

2. Einrichtung einer Behörde für Integrität mit folgenden Zuständigkeiten: Überprüfung von Vermögensverhältnissen, Unvereinbarkeiten und möglichen Interessenskonflikten und Verabschiedung verbindlicher Beschlüsse als Grundlage für abschreckende Sanktionen,

3. Konsolidierung bereits erreichter Fortschritte bei der Durchführung fachmännischer und unparteiischer Untersuchungen bei Korruptionsverdacht auf höchster Ebene,

4. Ergreifung weiterer Maßnahmen zur Prävention und Bekämpfung von Korruption, insbesondere in den Kommunalverwaltungen“.

3. Richtlinie (EU) 2017/1371(4)

8. Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2017/1371 legt fest:

„In Bezug auf Einnahmen aus den Mehrwertsteuer-Eigenmitteln findet diese Richtlinie nur bei schwerwiegenden Verstößen gegen das gemeinsame Mehrwertsteuersystem Anwendung. Für die Zwecke dieser Richtlinie gilt ein gegen das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gerichteter Verstoß als schwerwiegend, wenn vorsätzliche Handlungen oder Unterlassungen nach Artikel 3 Absatz 2 Buchstabe d mit dem Hoheitsgebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten der Union verbunden sind und einen Gesamtschaden von mindestens 10 000 000 EUR umfassen.“

9. Art. 16 dieser Richtlinie lautet:

„Das Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften vom 26. Juli 1995 und die diesbezüglichen Protokolle vom 27. September 1996, 29. November 1996 und 19. Juni 1997 werden durch diese Richtlinie für die Mitgliedstaaten, die durch sie gebunden sind, mit Wirkung vom 6. Juli 2019 ersetzt.

Für die Mitgliedstaaten, die durch diese Richtlinie gebunden sind, gelten Verweise auf das Übereinkommen als Verweise auf diese Richtlinie.“

10. Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten erlassen und veröffentlichen bis 6. Juli 2019 die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie nachzukommen. Sie teilen der Kommission unverzüglich den Wortlaut dieser Maßnahmen mit. Sie wenden diese Maßnahmen ab dem 6. Juli 2019 an.

…“

B. Rumänisches Recht

1. Rumänische Verfassung

11. Art. 15 Abs. 2 der rumänischen Verfassung sieht vor, dass „[d]as Gesetz …, mit Ausnahme von milderen Straf- oder Verwaltungsrechtsvorschriften, nur für die Zukunft [gilt]“.

12. Art. 147 dieser Verfassung bestimmt:

„(1) Die Bestimmungen von geltenden Gesetzen und Anordnungen sowie die Bestimmungen von Verordnungen, deren Verfassungswidrigkeit festgestellt wurde, verlieren 45 Tage nach der Veröffentlichung der Entscheidung des Verfassungsgerichts ihre Rechtswirkung, wenn das Parlament bzw. die Regierung in dieser Zeit die verfassungswidrigen Bestimmungen nicht mit den Bestimmungen der Verfassung in Einklang bringt. Während dieses Zeitraums sind die als verfassungswidrig befundenen Bestimmungen von Rechts wegen außer Kraft gesetzt.

(4) Die Entscheidungen des Verfassungsgerichts werden im Monitorul Oficial al României [(Amtsblatt Rumäniens)] veröffentlicht. Ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung sind diese Entscheidungen allgemein verbindlich und haben Rechtswirkung nur für die Zukunft.“

2. Strafrecht

a) Strafgesetzbuch von 1969, in der im Jahr 1996 geänderten Fassung(5)

13. Nach Art. 123 Abs. 1 wird „[d]ie Verjährung … durch die Vornahme einer jeden Handlung unterbrochen, die dem Verdächtigen oder Beschuldigten nach dem Gesetz im Lauf des Strafverfahrens mitgeteilt werden muss.“

b) Strafgesetzbuch von 2009(6)

14. Art. 5 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs von 2009 sieht vor: „[W]enn zwischen der Begehung der Straftat und dem verfahrensbeendenden Urteil eines oder mehrere Strafgesetze erlassen wurden, findet das mildeste Anwendung.“

15. Nach Art. 5 Abs. 2 dieses Strafgesetzbuchs gilt der vorstehende Absatz auch dann, wenn für verfassungswidrig erklärte Gesetze oder einige ihrer Vorschriften mildere Strafbestimmungen enthalten.

16. Art. 6 Abs. 1 bestimmt: „Ist ein Gesetz, das eine mildere Strafe vorsieht, nach Rechtskraft des Urteils und vor der vollständigen Vollstreckung der Freiheitsstrafe oder der Geldstrafe in Kraft getreten, wird die auferlegte Strafe, sofern sie das im neuen Gesetz für die begangene Straftat festgelegte besondere Höchstmaß übersteigt, auf dieses Höchstmaß herabgesetzt.“

17. Art. 154 Abs. 1 bestimmt:

„Die Fristen für die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit betragen:

a) 15 Jahre, wenn die begangene Straftat nach dem Gesetz mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder mit einer Freiheitsstrafe von mehr als 20 Jahren bedroht ist;

b) zehn Jahre, wenn die begangene Straftat nach dem Gesetz mit Freiheitsstrafe von mindestens zehn Jahren und höchstens 20 Jahren bedroht ist;

c) acht Jahre, wenn die begangene Straftat nach dem Gesetz mit Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren und höchstens zehn Jahren bedroht ist;

d) fünf Jahre, wenn die begangene Straftat nach dem Gesetz mit Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr und höchstens fünf Jahren bedroht ist;

e) drei Jahre, wenn die begangene Straftat nach dem Gesetz mit Freiheitsstrafe von weniger als einem Jahr oder mit einer...

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