Opinion of Advocate General Medina delivered on 9 November 2023.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2023:855
Date09 November 2023
Celex Number62021CC0795
CourtCourt of Justice (European Union)

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

LAILA MEDINA

vom 9. November 2023(1)

Verbundene Rechtssachen C795/21 P und C796/21 P

WEPA Hygieneprodukte GmbH,

WEPA Deutschland GmbH & Co. KG, vormals Wepa Leuna und Wepa Papierfabrik Sachsen

gegen

Europäische Kommission (C795/21 P)

und

Bundesrepublik Deutschland

gegen

WEPA Hygieneprodukte GmbH,

WEPA Deutschland GmbH & Co. KG, vormals Wepa Leuna und Wepa Papierfabrik Sachsen,

Europäische Kommission (C796/21 P)

„Rechtsmittel – Staatliche Beihilfen – Deutschland – Beihilferegelung zugunsten bestimmter stromintensiver Unternehmen – Netzentgeltbefreiung für den Zeitraum 2012 bis 2013 – Beschluss, mit dem die Beihilferegelung für mit dem Binnenmarkt unvereinbar und rechtswidrig erklärt und die Rückforderung der gewährten Beihilfen angeordnet wird – Nichtigkeitsklage – Klagefrist – Zulässigkeit – Begriff der Beihilfe – Staatliche Mittel – Parafiskalische Abgabe oder sonstige verpflichtende Abgaben – Staatliche Kontrolle über die Gelder“






1. Die vorliegenden Schlussanträge werden in den verbundenen Rechtssachen C‑795/21 P und C‑796/21 P vorgelegt. Sie sind in Verbindung mit meinen drei weiteren, ebenfalls heute vorgelegten Schlussanträgen in parallelen Rechtsmittelverfahren(2) zu verstehen, die alle dieselbe Beihilferegelung betreffen. Mit ihrem Rechtsmittel in der Rechtssache‑795/21 P beantragen die WEPA Hygieneprodukte GmbH und die WEPA Deutschland GmbH & Co. KG (im Folgenden zusammen: WEPA-Gesellschaften), Hersteller von Toilettenpapier, die Aufhebung des Urteils vom 6. Oktober 2021, Wepa Hygieneprodukte u. a./Kommission (T‑238/19, EU:T:2021:648, im Folgenden: angefochtenes Urteil). Mit diesem Urteil wurde ihre Klage auf Nichtigerklärung des Beschlusses der Europäischen Kommission vom 28. Mai 2018 über die staatliche Beihilfe Deutschlands für Bandlastverbraucher nach Paragraf 19 StromNEV(3) für die Jahre 2012 und 2013 (im Folgenden: streitiger Beschluss) abgewiesen. Mit ihrem Rechtsmittel in der Rechtssache C‑796/21 P beantragt die Bundesrepublik Deutschland (im Folgenden der Einfachheit halber: Deutschland) die Aufhebung des angefochtenen Urteils. Die Kommission hat in beiden vorgenannten Rechtssachen ein Anschlussrechtsmittel eingelegt, mit dem sie ebenfalls die Aufhebung des angefochtenen Urteils beantragt.

I. Vorgeschichte des Rechtsstreits

2. Der Hintergrund des Rechtsstreits ist in den Rn. 1 bis 22 des angefochtenen Urteils dargestellt. Da der Hintergrund mit demjenigen identisch ist, den ich in den parallelen Schlussanträgen in den verbundenen Rechtssachen C‑790/21 P und C‑791/21 P (im Folgenden: parallele Schlussanträge) zusammengefasst habe, ist lediglich auf die Nummern 3 bis 14 der parallelen Schlussanträge zu verweisen; die parallelen Schlussanträge und die Schlussanträge der vorliegenden parallelen Rechtssachen sind in Verbindung miteinander zu sehen.

II. Rechtliche Würdigung

3. Mit ihren beiden identischen Anschlussrechtsmitteln in den Rechtssachen C‑795/21 P und C‑796/21 P macht die Kommission zwei Rechtsmittelgründe geltend. Die beiden Gründe der Anschlussrechtsmittel sind im Wesentlichen identisch mit den ersten beiden Gründen der Anschlussrechtsmittel in den Rechtssachen C‑790/21 P und C‑791/21 P. In der Rechtssache C‑795/21 P machen die WEPA-Gesellschaften zwei Rechtsmittelgründe geltend. In der Rechtssache C‑796/21 P macht Deutschland einen einzigen Rechtsmittelgrund geltend. Entsprechend dem Ersuchen des Gerichtshofs werden in den vorliegenden Schlussanträgen jedoch nur der erste Grund der Anschlussrechtsmittel der Kommission (Zulässigkeit einer Nichtigkeitsklage) und der einzige Rechtsmittelgrund Deutschlands behandelt, der dem ersten und dem zweiten Rechtsmittelgrund der WEPA-Gesellschaften entspricht (da diese Gründe die Voraussetzung des Vorliegens einer Maßnahme unter Inanspruchnahme „staatlicher Mittel“ betreffen).

A. Erster Grund der Anschlussrechtsmittel der Kommission: Zulässigkeit einer Nichtigkeitsklage

1. Hauptvorbringen der Parteien

4. Die Kommission bringt vor, das Gericht habe den Begriff „Bekanntgabe“ im Sinne von Art. 263 Abs. 6 AEUV rechtsfehlerhaft weit ausgelegt. Erstens stehe die Auslegung des Gerichts im Widerspruch zur Rechtsprechung des Gerichtshofs, in der dieser eine Parallele zwischen Art. 263 Abs. 6 AEUV und Art. 297 AEUV gezogen habe. Aus dieser Rechtsprechung ergebe sich eindeutig, dass die Klagefrist nur dann mit der Bekanntgabe beginne, wenn sie Voraussetzung für das Inkrafttreten der betreffenden Handlung sei und im Vertrag selbst vorgesehen sei. Zweitens stelle, was insbesondere die Veröffentlichung eines Beschlusses der Kommission, durch den das förmliche Prüfverfahren abgeschlossen werde, im Amtsblatt der Europäischen Union (im Folgenden: Amtsblatt) angehe, diese keine „Veröffentlichung“ im Sinne von Art. 297 Abs. 2 Unterabs. 2 AEUV dar. Sie löse daher nicht den Beginn der Klagefrist aus. Drittens führt die Kommission einen Argumentationsstrang für ihre Auslegung von Art. 263 Abs. 6 AEUV an, wie etwa die Systematik dieser Bestimmung, den Grundsatz der Waffengleichheit oder den zwingenden Charakter der Klagefristen.

5. Deutschland und die WEPA-Gesellschaften bringen im Wesentlichen vor, dass die vom Gericht vorgenommene Auslegung des Begriffs „Bekanntgabe“ im Sinne von Art. 263 Abs. 6 AEUV rechtsfehlerfrei sei.

2. Würdigung

6. Da diese Anschlussrechtsmittel wortwörtlich mit denjenigen übereinstimmen, die ich bereits in den parallelen Schlussanträgen behandelt habe, werde ich mich darauf beschränken, auf diese Schlussanträge zu verweisen. All diese Schlussanträge sind in Verbindung miteinander zu sehen.

7. Die Kommission argumentiert, dass entgegen den Feststellungen des Gerichts im angefochtenen Urteil für die Berechnung der Klagefrist für eine Nichtigkeitsklage auf den Zeitpunkt abzustellen sei, zu dem der Beihilfeempfänger Kenntnis von dem streitigen Beschluss erlangt habe, und nicht auf den Zeitpunkt seiner Veröffentlichung im Amtsblatt. Somit hätte das Gericht die von den WEPA-Gesellschaften erhobene Klage für unzulässig erklären müssen, da sie verspätet gewesen sei.

8. Wie in den Nrn. 20 bis 30 der parallelen Schlussanträge ausgeführt, ist die von der Kommission vertretene Auslegung meines Erachtens abzulehnen, da sie weder durch den Wortlaut von Art. 263 Abs. 6 AEUV noch durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs noch durch den Zweck dieser Bestimmung gestützt wird.

9. Außerdem würde die Auslegung der Kommission, wie in Nr. 31 der parallelen Schlussanträge ausgeführt, zu einer Einschränkung des wirksamen Rechtsschutzes des Beihilfeempfängers führen.

10. Schließlich lege ich in den Nrn. 32 bis 35 der parallelen Schlussanträge dar, dass das Argument der Kommission, dass im vorliegenden Fall die WEPA-Gesellschaften – die den streitigen Beschluss im Rahmen des nationalen Verfahrens zur Rückforderung der Beihilfen erhalten haben – ihre Nichtigkeitsklage vor der Veröffentlichung des streitigen Beschlusses im Amtsblatt erhoben haben, dieses Ergebnis meines Erachtens unberührt lässt.

11. Aus den vorstehenden Erwägungen folgt meines Erachtens, dass das Gericht zu Recht befunden hat, dass die von der Kommission im ersten Rechtszug erhobene Einrede der Unzulässigkeit zurückzuweisen und die Anschlussrechtsmittel der Kommission als unbegründet zurückzuweisen waren.

B. Erster und zweiter Rechtsmittelgrund der WEPA-Gesellschaften und einziger Rechtsmittelgrund Deutschlands: Verstoß gegen Art. 107 Abs. 1 AEUV in Bezug auf staatliche Mittel

12. Die von Deutschland eingelegten Rechtsmittel (Rechtssache C‑791/21 P und Rechtssache C‑796/21 P) sind identisch. Zudem entspricht ein Großteil der im Rahmen des Rechtsmittels von Covestro (Rechtssache C‑790/21 P) vorgetragenen Argumente denjenigen der WEPA-Gesellschaften im Rahmen des vorliegenden Rechtsmittelverfahrens (Rechtssache C‑795/21 P). Daher sind die Schlussanträge in diesen parallelen Rechtssachen in Verbindung miteinander zu sehen.

13. Mit dem ersten Rechtsmittelgrund rügen die WEPA-Gesellschaften (Rechtssache C‑795/21 P) eine Verfälschung von Tatsachen und des nationalen Rechts, soweit das Gericht sich auf folgende Gesichtspunkte gestützt habe: i) Die BNetzA habe die Höhe der streitigen Umlage verbindlich festgesetzt, ii) die BNetzA habe sehr detaillierte Vorgaben gemacht, und iii) die den Netzbetreibern entstandenen Einnahmeverluste seien durch diese Umlage vollständig abgedeckt gewesen. Die für das Gericht entscheidungserheblichen Tatsachen, die eine staatliche Kontrolle der durch die Umlage eingenommenen Gelder hätten belegen sollten, hätten nicht vorgelegen. Mit dem zweiten Rechtsmittelgrund machen die WEPA-Gesellschaften geltend, dass das Gericht i) verkenne, dass es sich bei der streitigen Umlage nicht um eine Abgabe, Zwangsabgabe oder parafiskalische Abgabe gehandelt habe, und ii) verkenne, dass die Befreiung der Bandlastverbraucher und die streitige Umlage keine aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfe gewesen seien. Ferner sei der Tatbestand von Art. 107 Abs. 1 AEUV jedenfalls nicht erfüllt, weil die Umlage keine staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfe sei.

14. Der einzige Rechtsmittelgrund Deutschlands (Rechtssache‑796/21 P) beruht auf drei Argumenten: i) Das Gericht habe rechtsfehlerhaft befunden, dass die verpflichtende Belastung der Verbraucher oder Letztverbraucher und die staatliche Kontrolle über die Gelder oder die Verwalter dieser Gelder alternative Kriterien seien; ii) das Gericht habe im Zusammenhang mit der Beurteilung, ob eine „verpflichtende Belastung der Verbraucher oder Letztverbraucher“ vorliege, rechtsfehlerhaft befunden, dass es nicht auf das Verhältnis zwischen Stromlieferant und Stromletztverbraucher ankomme, und habe rechtsfehlerhaft auf die Verpflichtung zur Erhebung und nicht auf die gesetzlich begründete Verpflichtung zur Zahlung der Netzentgelte abgestellt sowie iii) rechtsfehlerhaft befunden, dass die Zweckbindung der vereinnahmten Netzentgelte nicht ausschließe, dass...

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