Laudamotion GmbH v Flightright GmbH.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2024:73
Date25 January 2024
Docket NumberC-474/22
Celex Number62022CJ0474
CourtCourt of Justice (European Union)
62022CJ0474

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

25. Januar 2024 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Luftverkehr – Verordnung (EG) Nr. 261/2004 – Art. 3 Abs. 2 Buchst. a – Art. 5 Abs. 1 – Art. 7 Abs. 1 – Ausgleichszahlungen für Fluggäste bei großer Verspätung von Flügen – Erfordernis des rechtzeitigen Einfindens zur Abfertigung“

In der Rechtssache C‑474/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 3. Mai 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Juli 2022, in dem Verfahren

Laudamotion GmbH

gegen

flightright GmbH

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Dritten Kammer sowie der Richter N. Piçarra, N. Jääskinen und M. Gavalec (Berichterstatter),

Generalanwältin: L. Medina,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der flightright GmbH, vertreten durch Rechtsanwälte M. Michel und R. Weist,

der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, P. Busche, J. Heitz und M. Hellmann als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braun, K. Simonsson, G. Wilms und N. Yerrell als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 2 Buchst. a und der Art. 5 bis 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Luftfahrtunternehmen Laudamotion GmbH und der Rechtshilfegesellschaft flightright GmbH – an die ein Fluggast seine Ansprüche gegen Laudamotion abgetreten hat – über eine Ausgleichszahlung wegen großer Verspätung eines Fluges, für den dieser Fluggast über eine bestätigte Buchung verfügte.

Rechtlicher Rahmen

3

Der zweite Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 261/2004 lautet:

„Nichtbeförderung und Annullierung oder eine große Verspätung von Flügen sind für die Fluggäste ein Ärgernis und verursachen ihnen große Unannehmlichkeiten.“

4

Art. 2 Buchst. l dieser Verordnung definiert den Begriff „Annullierung“ als „die Nichtdurchführung eines geplanten Fluges, für den zumindest ein Platz reserviert war“.

5

Art. 3 („Anwendungsbereich“) Abs. 1 und 2 dieser Verordnung bestimmt:

„(1) Diese Verordnung gilt

a)

für Fluggäste, die auf Flughäfen im Gebiet eines Mitgliedstaats, das den Bestimmungen des Vertrags unterliegt, einen Flug antreten;

(2) Absatz 1 gilt unter der Bedingung, dass die Fluggäste

a)

über eine bestätigte Buchung für den betreffenden Flug verfügen und – außer im Fall einer Annullierung gemäß Artikel 5 – sich

wie vorgegeben und zu der zuvor schriftlich (einschließlich auf elektronischem Wege) von dem Luftfahrtunternehmen, dem Reiseunternehmen oder einem zugelassenen Reisevermittler angegebenen Zeit zur Abfertigung einfinden

oder, falls keine Zeit angegeben wurde,

spätestens 45 Minuten vor der veröffentlichten Abflugzeit zur Abfertigung einfinden …

…“

6

Art. 5 („Annullierung“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 sieht vor:

„Bei Annullierung eines Fluges [wird] den betroffenen Fluggästen

c)

vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 eingeräumt, es sei denn,

iii)

sie werden über die Annullierung weniger als sieben Tage vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen.“

7

Art. 6 („Verspätung“) Abs. 1 dieser Verordnung lautet:

„Ist für ein ausführendes Luftfahrtunternehmen nach vernünftigem Ermessen absehbar, dass sich der Abflug

a)

bei allen Flügen über eine Entfernung von 1500 km oder weniger um zwei Stunden oder mehr oder

b)

bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1500 km und 3500 km um drei Stunden oder mehr oder

c)

bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b) fallenden Flügen um vier Stunden oder mehr

gegenüber der planmäßigen Abflugzeit verzögert, so werden den Fluggästen vom ausführenden Luftfahrtunternehmen

i)

die Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe a) und Absatz 2 angeboten,

ii)

wenn die nach vernünftigem Ermessen zu erwartende Abflugzeit erst am Tag nach der zuvor angekündigten Abflugzeit liegt, die Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstaben b) und c) angeboten und,

iii)

wenn die Verspätung mindestens fünf Stunden beträgt, die Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 8 Absatz 1 Buchstabe a) angeboten.“

8

Art. 7 („Ausgleichsanspruch“) Abs. 1 dieser Verordnung bestimmt:

„Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe:

a)

250 EUR bei allen Flügen über eine Entfernung von 1500 km oder weniger,

…“

9

Art. 12 („Weiter gehender Schadensersatz“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 sieht vor:

„Diese Verordnung gilt unbeschadet eines weiter gehenden Schadensersatzanspruchs des Fluggastes. Die nach dieser Verordnung gewährte Ausgleichsleistung kann auf einen solchen Schadensersatzanspruch angerechnet werden.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

10

Ein Fluggast verfügte über eine bestätigte Buchung bei Laudamotion für einen für den 26. Juni 2018 geplanten Flug von Düsseldorf (Deutschland) nach Palma de Mallorca (Spanien). Da der Fluggast der Meinung war, dass er aufgrund der angekündigten Verspätung des Fluges einen Geschäftstermin verpassen würde, entschied er sich, den Flug nicht anzutreten. Dieser erreichte den Zielort mit drei Stunden und 32 Minuten Verspätung.

11

Der Fluggast trat seine Ansprüche an flightright ab, die bei dem zuständigen deutschen Gericht Klage auf Ausgleichszahlung in Höhe von 250 Euro gemäß Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 261/2004 erhob. Nachdem flightright in erster Instanz unterlegen war, obsiegte sie in der Berufung.

12

In Anbetracht der Rechtsprechung des Gerichtshofs, in der die Situation der Fluggäste von Flügen mit großer Verspätung, d. h. einer Verspätung von drei Stunden oder mehr bei ihrer Ankunft am Endziel, mit der Situation der Fluggäste annullierter Flüge gleichgesetzt wird, hat das Berufungsgericht Art. 3 Abs. 2 Buchst. a dieser Verordnung dahin ausgelegt, dass ein Fluggast, der vor seinem Abflug über eine Verspätung von drei Stunden oder mehr unterrichtet wurde, die in den Art. 5 und 7 der Verordnung vorgesehene Ausgleichszahlung beanspruchen kann, selbst wenn er sich nicht am Flughafen eingefunden hat.

13

Laudamotion legte gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts Revision beim Bundesgerichtshof (Deutschland) ein, der das vorlegende Gericht ist.

14

Dieses Gericht weist darauf hin, dass sich der betroffene Fluggast entgegen Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 261/2004 nicht spätestens 45 Minuten vor der veröffentlichten Abflugzeit zur Abfertigung eingefunden habe, obwohl diese Formalität nach Art. 2 Buchst. l und Art. 5 dieser Verordnung nur bei Annullierung des Fluges ausgeschlossen sei. Der Fluggast könnte jedoch aufgrund der vom Gerichtshof im Urteil vom 19. November 2009, Sturgeon u. a. (C‑402/07 und C‑432/07, EU:C:2009:716), vorgenommenen Gleichsetzung der großen Ankunftsverspätung eines Fluges mit der Annullierung eines Fluges von einer solchen Formalität befreit werden.

15

Allerdings wiesen die Annullierung eines Fluges und die große Verspätung eines Fluges nicht unerhebliche Unterschiede auf. Im Fall einer Annullierung stehe nämlich fest, dass der geplante Flug nicht durchgeführt werde, so dass es folgerichtig sei, von den Fluggästen nicht zu verlangen, sich zur Abfertigung einzufinden, um zur Geltendmachung des Ausgleichsanspruchs nach den Art. 5 und 7 der Verordnung Nr. 261/2004 berechtigt zu sein. Dagegen lägen, selbst wenn die Verspätung eines Fluges vor dessen Durchführung wahrscheinlich erscheine, möglicherweise spätestens 45 Minuten vor der Abflugzeit noch keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass der Flug mit einer Verspätung von drei Stunden oder mehr durchgeführt werde.

16

Auch der Beschluss vom 24. Oktober 2019, easyJet Airline (C‑756/18, EU:C:2019:902), lege nahe, dass ein Fluggast, um eine Ausgleichszahlung wegen der großen Verspätung eines Fluges zu erhalten, mit dem er nicht befördert worden sei, sich jedenfalls zur Abfertigung eingefunden haben müsse, was er mit der Bordkarte oder einem anderen Beweismittel nachweisen könne.

17

Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass für die Anwendung von Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 261/2004 eine große Ankunftsverspätung eines Fluges grundsätzlich nicht mit der Annullierung eines Fluges gleichgesetzt...

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