Opinion of Advocate General Campos Sánchez-Bordona delivered on 18 April 2024.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2024:332
Date18 April 2024
Celex Number62023CC0157
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA

vom 18. April 2024(1)

Rechtssache C157/23

Ford Italia SpA

gegen

ZP,

Stracciari SpA

(Vorabentscheidungsersuchen der Corte suprema di cassazione [Kassationsgerichtshof, Italien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Haftung für fehlerhafte Produkte – Richtlinie 85/374/EWG – Art. 3 Abs. 1 – Begriff des Herstellers – Ausdehnung der Haftung auf den Lieferanten – Namen, Warenzeichen oder ein anderes Erkennungszeichen des Lieferanten, der/das auf dem Produkt angebracht ist und der/das teilweise mit jenem des Herstellers übereinstimmt – Art. 3 Abs. 3 – Haftungsbefreiung des Lieferanten – Feststellung des Herstellers – Nationale Vorschrift, die dem Lieferanten die Pflicht zur Streitverkündung an den Hersteller in einem anhängigen Gerichtsverfahren auferlegt“






1. Dieses Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Haftung der Wirtschaftsteilnehmer (Hersteller und Lieferant) für Schäden, die durch einen Verkehrsunfall in Italien verursacht wurden, bei dem ein Airbag eines Fahrzeugs der Marke Ford nicht funktionierte.

2. Im Ausgangsverfahren ist streitig, ob diese Haftung gemäß Art. 3 der Richtlinie 85/374/EWG(2) den Hersteller des Fahrzeugs in Deutschland (Ford Werke Aktiengesellschaft, im Folgenden: Ford WAG) oder dessen Lieferanten in Italien (Ford Italia SpA, im Folgenden: Ford Italia) trifft.

I. Rechtsrahmen

A. Unionsrecht. Richtlinie 85/374

3. Art. 1 bestimmt:

„Der Hersteller eines Produkts haftet für den Schaden, der durch einen Fehler dieses Produkts verursacht worden ist.“

4. Art. 3 sieht vor:

„(1) ‚Hersteller‘ ist der Hersteller des Endprodukts, eines Grundstoffs oder eines Teilprodukts sowie jede Person, die sich als Hersteller ausgibt, indem sie ihren Namen, ihr Warenzeichen oder ein anderes Erkennungszeichen auf dem Produkt anbringt.

(3) Kann der Hersteller des Produkts nicht festgestellt werden, so wird jeder Lieferant als dessen Hersteller behandelt, es sei denn, dass er dem Geschädigten innerhalb angemessener Zeit den Hersteller oder diejenige Person benennt, die ihm das Produkt geliefert hat. …“

5. Art. 5 lautet:

„Haften aufgrund dieser Richtlinie mehrere Personen für denselben Schaden, so haften sie unbeschadet des einzelstaatlichen Rückgriffsrechts gesamtschuldnerisch.“

B. Italienisches Recht. Decreto del Presidente della Repubblica 24 maggio 1988, n. 224 (Dekret Nr. 224 des Präsidenten der Republik vom 24. Mai 1988)(3)

6. Art. 3 Abs. 1 bestimmt im Wesentlichen, dass Hersteller der Hersteller des Endprodukts oder eines Bestandteils davon sowie der Hersteller des Grundstoffs ist. Nach Art. 3 Abs. 3 gilt als Hersteller auch derjenige, der sich als solcher ausgibt, indem er seinen Namen, sein Warenzeichen oder ein anderes Erkennungszeichen auf dem Produkt oder dessen Verpackung anbringt.

7. Art. 4 über die Haftung des Lieferanten bestimmt in Abs. 1, dass, wenn der Hersteller nicht festgestellt wird, der Lieferant, der das Produkt im Rahmen einer gewerblichen Tätigkeit vertrieben hat, in gleicher Weise haftet, wenn er es unterlassen hat, dem Geschädigten innerhalb von drei Monaten nach dem Ersuchen den Hersteller und dessen Anschrift oder die Person, die ihm das Produkt geliefert hat, zu benennen.

8. In diesem Art. 4 ist in Abs. 5 vorgesehen, dass dem als Hersteller oder Lieferanten angegebenen Dritten gemäß Art. 106 des Codice di procedura civile (Zivilprozessordnung) der Streit verkündet und der beklagte Lieferant von der Haftung befreit werden kann, wenn die angegebene Person erscheint und die Angabe nicht bestreitet.

II. Sachverhalt, Rechtsstreit und Vorlagefrage

9. Am 4. Juli 2001 erwarb ZP von dem in Italien ansässigen und als Vertragshändler für die Marke „Ford“ tätigen Unternehmen Stracciari einen „Ford Mondeo“.

10. Das Fahrzeug war von der Ford WAG, ein in Deutschland ansässiges Unternehmen, das seine Fahrzeuge in Italien über Ford Italia vertreibt, hergestellt worden. Das letztgenannte Unternehmen ist ein innergemeinschaftlicher Importeur und lieferte das Fahrzeug an den Vertragshändler der Marke Ford (Stracciari).

11. Die Ford WAG und Ford Italia gehören zur selben Unternehmensgruppe.

12. Am 27. Dezember 2001 erlitt ZP einen Verkehrsunfall, bei dem der Airbag des Fahrzeugs nicht funktionierte.

13. Am 8. Januar 2004 erhob ZP beim Tribunale di Bologna (Gericht Bologna, Italien) Klage auf Ersatz der erlittenen Schäden. Die Klage war gegen Stracciari in deren Eigenschaft als Verkäuferin und gegen Ford Italia gerichtet.

14. Ford Italia erschien vor Gericht und machte dabei geltend, dass sie das Fahrzeug nicht hergestellt habe, und gab die Ford WAG als Herstellerin an. Ford Italia argumentierte, dass sie als Lieferantin nicht für den angeblichen Fehler des Fahrzeugs hafte und dass ihre Haftung ausgeschlossen sei, wenn der Hersteller festgestellt sei.(4)

15. Am 5. November 2012 entschied das Tribunale di Bologna (Gericht Bologna), dass Ford Italia der außervertraglichen Haftung für die durch das fehlerhafte Produkt verursachten Schäden unterliege.

16. Gegen das erstinstanzliche Urteil legte Ford Italia bei der Corte d’appello di Bologna (Berufungsgericht Bologna, Italien) Berufung ein(5), die die Berufung am 21. Dezember 2018 zurückwies.

17. Ford Italia hat bei der Corte suprema di cassazione (Oberster Kassationsgerichtshof, Italien) Kassationsbeschwerde eingelegt, die dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt hat:

Steht eine Auslegung, wonach die Haftung des Herstellers, auch wenn der Lieferant seinen Namen, sein Warenzeichen oder ein anderes Erkennungszeichen nicht tatsächlich auf der Ware angebracht hat, auf den Lieferanten ausgedehnt wird, nur weil er einen Namen, ein Warenzeichen oder ein anderes Erkennungszeichen hat, der bzw. das mit dem des Herstellers ganz oder teilweise übereinstimmt, mit Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 85/374/EWG im Einklang – und wenn nicht, warum nicht?

III. Verfahren vor dem Gerichtshof

18. Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 13. März 2023 beim Gerichtshof eingegangen.

19. Stracciari(6), Ford Italia und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen abgegeben und an der mündlichen Verhandlung vom 8. Februar 2024 teilgenommen.

IV. Würdigung

A. Vorbemerkung

20. Die Zweifel des vorlegenden Gerichts konzentrieren sich auf die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 85/374, wobei eine Klärung der Haftung für Schäden aus fehlerhaftem Produkt herbeigeführt werden soll. Dieses Gericht will konkret wissen, ob diese Haftung von einem Lieferanten verlangt werden kann, der seinen Namen, sein Warenzeichen oder ein anderes Erkennungszeichen nicht physisch auf der Ware angebracht hat, aber dessen Erkennungsdaten mit jenen des Herstellers ganz oder teilweise übereinstimmen.

21. Aufgrund dieser – gewiss beschränkten – Schwerpunktsetzung der Vorlagefrage ist unter Berücksichtigung der Umstände des Falles das Augenmerk vor allem auf den Begriff des Scheinherstellers (jener Hersteller, der sich als solcher ausgibt, indem er seinen Namen auf dem Produkt anbringt) zu richten.

22. Der Gerichtshof kann dem vorlegenden Gericht aber auch weitere Hinweise für die Auslegung der durch die Richtlinie 85/374 begründeten Haftungsregelung geben, wenn er es für zweckdienlich erachtet, gestützt auf einer Anwendung von Art. 3 Abs. 3 dieser Richtlinie, zu dem von Ford Italia gesetzten Schwerpunkt Stellung zu nehmen.

23. Vor diesem Hintergrund ist der Blick nicht nur auf eine Abgrenzung des Begriffs „Hersteller“, sei es der tatsächliche Hersteller oder der Scheinhersteller (Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 85/374), zu richten, sondern auch auf die Frage der Haftungsbefreiung des Lieferanten, der den tatsächlichen Hersteller benannt hat (Art. 3 Abs. 3 dieser Richtlinie).

B. Vollständige Harmonisierung der mit der Richtlinie 85/374 eingeführten Haftungsregelung

24. Nach ständiger Rechtsprechung „[wird] der Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten bei der Regelung der Haftung für fehlerhafte Produkte zur Gänze von der Richtlinie [85/374] selbst festgelegt …“(7).

25. Nach Prüfung von Wortlaut, Zweck und Systematik der Richtlinie 85/374 „ist der Gerichtshof zu dem Ergebnis gelangt, dass die Richtlinie für die darin geregelten Punkte eine vollständige Harmonisierung der Rechts‑ und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten bezweckt“(8).

26. Somit bedeutet das konkret: „Der Kreis der haftenden Personen, gegen die der Geschädigte eine Klage im Rahmen des in der Richtlinie 85/374 vorgesehenen Haftungssystems erheben kann, ist in den Art. 1 und 3 der Richtlinie festgelegt. Da die Richtlinie für die in ihr geregelten Punkte eine vollständige Harmonisierung bezweckt, ist die in den Art. 1 und 3 vorgenommene Festlegung des Kreises der haftenden Personen als erschöpfend anzusehen; sie kann nicht von der Festsetzung zusätzlicher Kriterien abhängig gemacht werden, die sich nicht aus dem Wortlaut der Art. 1 und 3 der Richtlinie 85/374 ergeben“(9).

27. Abgesehen von der Person, die ein Endprodukt herstellt, „[dürfen] nur in abschließend aufgezählten Fällen … andere Personen als Hersteller angesehen werden, nämlich die Person, die sich als Hersteller ausgibt, indem sie ihren Namen, ihr Warenzeichen oder ein anderes Erkennungszeichen auf dem Produkt anbringt (Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie), die Person, die ein Produkt in die Gemeinschaft einführt (Artikel 3 Absatz 2), und der Lieferant, der, falls der Hersteller des Produkts nicht festgestellt werden kann, dem Geschädigten nicht innerhalb angemessener Zeit den Hersteller oder diejenige Person benennt, die ihm das Produkt geliefert hat (Artikel 3 Absatz 3)“(10).

C. Begriff des Scheinherstellers: Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 85/374

28. Die Klage richtete sich in diesem Rechtsstreit gegen die Lieferantin des Fahrzeugs (Ford Italia) in deren Eigenschaft als Herstellerin. Der geltend gemachte Fehler betraf ein Fahrzeug der Marke Ford, das in Deutschland von der Ford WAG hergestellt und in Italien von...

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