Opinion of Advocate General Bobek delivered on 6 May 2021.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2021:371
Date06 May 2021
Celex Number62019CC0428
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MICHAL BOBEK

vom 6. Mai 2021(1)

Rechtssache C428/19

OL,

PM,

RO

gegen

Rapidsped Fuvarozási és Szállítmányozási Zrt.

(Vorabentscheidungsersuchen des Gyulai Törvényszék [Gerichtshof Gyula, Ungarn], vormals Gyulai Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság [Verwaltungs- und Arbeitsgericht Gyula, Ungarn])

„Vorabentscheidungsersuchen – Richtlinie 96/71/EG – Freier Dienstleistungsverkehr – Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen – Kraftfahrer im internationalen Verkehr – Einhaltung der Mindestlohnsätze des Landes der Entsendung – Tagegeld – Verordnung (EG) Nr. 561/2006 – Treibstoffeinsparungszulage“






I. Einführung

1. Die Kläger im Ausgangsverfahren sind Kraftfahrer im internationalen Verkehr. Sie werden regelmäßig von Ungarn nach Frankreich entsandt. Da sie der Ansicht sind, dass ihr für die Entsendungen tatsächlich erhaltenes Entgelt weit unter dem anwendbaren französischen Mindestlohn liege und damit gegen die in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 96/71/EG(2) (im Folgenden: Entsenderichtlinie) verankerten Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen verstoßen werde, haben die Kläger vor der Gyulai Törvényszék (Gerichtshof Gyula, Ungarn) Klage gegen ihren ungarischen Arbeitgeber erhoben.

2. In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht unter anderem wissen, ob erstens die Entsenderichtlinie auf die Kläger Anwendung findet, ob zweitens an die Kläger gezahlte Tagegelder als Bestandteil des Mindestlohns anzusehen sind und ob drittens eine Treibstoffeinsparungszulage, die den Klägern gelegentlich gezahlt wird, die Verkehrssicherheit gefährden und damit gegen die Verordnung (EG) Nr. 561/2006(3) verstoßen könnte.

II. Rechtlicher Rahmen

1. Richtlinie 96/71

3. Nach ihrem Art. 1 Abs. 1 gilt die Entsenderichtlinie „für Unternehmen mit Sitz in einem Mitgliedstaat, die im Rahmen der länderübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen Arbeitnehmer … in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats entsenden“.

4. In Art. 2 der Entsenderichtlinie ist der Begriff „entsandter Arbeitnehmer“ definiert als „jeder Arbeitnehmer, der während eines begrenzten Zeitraums seine Arbeitsleistung im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als demjenigen erbringt, in dessen Hoheitsgebiet er normalerweise arbeitet“.

5. Art. 3 der Entsenderichtlinie betrifft die „Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen“. Im hier maßgeblichen Teil sieht er vor:

„(1) Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass unabhängig von dem auf das jeweilige Arbeitsverhältnis anwendbaren Recht die in Artikel 1 Absatz 1 genannten Unternehmen den in ihr Hoheitsgebiet entsandten Arbeitnehmern bezüglich der nachstehenden Aspekte die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen garantieren, die in dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet die Arbeitsleistung erbracht wird,

– durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften und/oder

festgelegt sind:

c) Mindestlohnsätze einschließlich der Überstundensätze; dies gilt nicht für die zusätzlichen betrieblichen Altersversorgungssysteme;

Zum Zweck dieser Richtlinie wird der in Unterabsatz 1 Buchstabe c) genannte Begriff der Mindestlohnsätze durch die Rechtsvorschriften und/oder Praktiken des Mitgliedstaats bestimmt, in dessen Hoheitsgebiet der Arbeitnehmer entsandt wird.

(7) Die Absätze 1 bis 6 stehen der Anwendung von für die Arbeitnehmer günstigeren Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen nicht entgegen.

Die Entsendungszulagen gelten als Bestandteil des Mindestlohns, soweit sie nicht als Erstattung für infolge der Entsendung tatsächlich entstandene Kosten wie z. B. Reise‑, Unterbringungs‑ und Verpflegungskosten gezahlt werden.“

2. Verordnung Nr. 561/2006

6. Kapitel III („Haftung von Verkehrsunternehmen“) der Verordnung Nr. 561/2006 besteht lediglich aus Art. 10. Nach Art. 10 Abs. 1 dürfen „Verkehrsunternehmen angestellten oder ihnen zur Verfügung gestellten Fahrern keine Zahlungen in Abhängigkeit von der zurückgelegten Strecke und/oder der Menge der beförderten Güter leisten, auch nicht in Form von Prämien oder Lohnzuschlägen, falls diese Zahlungen geeignet sind, die Sicherheit im Straßenverkehr zu gefährden und/oder zu Verstößen gegen diese Verordnung ermutigen“.

III. Sachverhalt, nationales Verfahren und Vorlagefragen

7. In den Jahren 2015 und 2016 schlossen die Kläger des Ausgangsverfahrens mit Rapidsped (im Folgenden: Beklagte), einer in Ungarn ansässigen juristischen Person, Arbeitsverträge, um als Kraftfahrer im internationalen Verkehr zu arbeiten.

8. Nach diesen Verträgen ist die Beklagte verpflichtet, ihren Arbeitnehmern zusätzlich zum Grundlohn Tagesgelder zu zahlen, die mit zunehmender Dauer der Entsendung ansteigen. Dem vorlegenden Gericht zufolge beschreibt eine Informationsbroschüre der Beklagten, dass die Tagegelder „im Ausland entstandene Kosten“ decken sollen. Im Einklang mit dem Arbeitsvertrag, jedoch nach eigenem Ermessen gewährt die Beklagte ihren Kraftfahrern außerdem eine Treibstoffeinsparungszulage, wenn der Treibstoffverbrauch unter dem „Normalverbrauch“ liegt.

9. Zur Ausübung ihrer Tätigkeit mussten die Kläger in einem Kleinbus nach Frankreich fahren und sodann im Zuge der Erbringung ihrer Arbeitsleistung mehrfach Grenzen überqueren. Zu Beginn jeder Entsendung händigte die Beklagte den Kraftfahrern eine von einem ungarischen Notar beglaubigte Erklärung sowie eine Attestation de détachement (Entsendebescheinigung) des Ministère du Travail, de l’Emploi et de l’Insertion (französisches Arbeitsministerium) aus, aus denen sich ergab, dass die Arbeitnehmer einen Stundenlohn von 10,40 Euro erhielten. Dieser Lohn ist höher als der französische Mindeststundenlohn für in dieser Branche Beschäftigte, der mit 9,76 Euro festgelegt worden ist.

10. Die Kläger des Ausgangsverfahrens erhoben gegen die Beklagte vor dem Gyulai Törvényszék (Gerichtshof Gyula, Ungarn) Klage und machten geltend, dass ihr Lohn für die in Frankreich erbrachte Arbeitsleistung nicht dem französischen Mindestlohn entspreche. Sie hätten gemäß ihrem Arbeitsvertrag ein monatliches Bruttogehalt in Höhe von 544 Euro erhalten, was ungefähr 3,24 Euro pro Stunde entspreche. Dies ergebe eine Differenz von 6,52 Euro pro Stunde zwischen dem französischen Mindestlohn und dem von diesen Kraftfahrern erhaltenen Stundenlohn.

11. Die Beklagte meint, dass mit den Tagegeldern und der Treibstoffeinsparungszulage, die die Kläger erhielten, die Differenz von 6,52 Euro pro Stunde zwischen dem französischen Mindestlohn und dem von den Kraftfahrern erhaltenen Stundenlohn abgedeckt sei. Diese beiden Zulagen seien Bestandteil des Gehalts der Kläger, und daher hätten die Kläger eine Vergütung erhalten, die dem französischen Mindestlohn entspreche.

12. In Anbetracht dessen hat das Gyulai Törvényszék (Gerichtshof Gyula) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist Art. 1 Abs. 1 der Entsenderichtlinie – unter Berücksichtigung ihrer Art. 3 und 5 sowie der §§ 285 und 299 des ungarischen Arbeitsgesetzbuchs – dahin auszulegen, dass sich ungarische Arbeitnehmer gegenüber ihren ungarischen Arbeitgebern in einem vor den ungarischen Gerichten anhängig gemachten Verfahren auf einen Verstoß gegen diese Richtlinie und die französischen Mindestlohnvorschriften berufen können?

2. Sind Tagegelder, die die Kosten decken sollen, die Arbeitnehmern während ihrer Entsendung ins Ausland entstehen, als Bestandteil des Arbeitsentgelts anzusehen?

3. Verstößt eine Praxis, nach der ein Arbeitgeber Kraftfahrern bei einer nach dem Verhältnis zwischen zurückgelegter Strecke und Treibstoffverbrauch bemessenen Einsparung eine auf einer Formel beruhende Zuwendung gewährt, die nicht Bestandteil des in ihrem Arbeitsvertrag vereinbarten Arbeitsentgelts ist und auf die auch keine Steuern oder Sozialversicherungsbeiträge entrichtet werden, gegen Art. 10 der Verordnung Nr. 561/2006, wenn die Treibstoffeinsparungszulage die Kraftfahrer zu einer Fahrweise ermutigt, die die Verkehrssicherheit gefährden könnte (beispielsweise dazu, auf Gefällstrecken so lange wie möglich im Freilauf zu fahren)?

4. Ist die Entsenderichtlinie auf den internationalen Güterverkehr anwendbar, insbesondere in Anbetracht dessen, dass die Europäische Kommission gegen Frankreich und Deutschland Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hat, weil diese ihre Rechtsvorschriften über Mindestlöhne auch auf den Straßenverkehrssektor anwenden?

5. Kann eine Richtlinie allein – im Fall ihrer Nichtumsetzung in nationales Recht – Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen und somit allein als Grundlage für eine Klage gegen einen Einzelnen in einem bei einem innerstaatlichen Gericht anhängig gemachten Rechtsstreit dienen?

13. Schriftliche Erklärungen sind von den Klägern, der Beklagten, der französischen, der ungarischen, der niederländischen und der polnischen Regierung sowie von der Europäischen Kommission eingereicht worden. Die Kläger, die Beklagte und die ungarische Regierung haben außerdem Antworten auf schriftliche Fragen des Gerichtshofs eingereicht.

IV. Würdigung

14. Die vorliegenden Schlussanträge folgen dem folgenden Aufbau. Zunächst werde ich mich der Frage 4 über die Anwendbarkeit der Entsenderichtlinie zuwenden (A). Danach folge ich der Reihenfolge der vom vorlegenden Gericht vorgelegten Fragen 1 bis 5 (B bis E).

A. Zur vierten Frage

15. Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Entsenderichtlinie auf die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen im Straßenverkehrssektor anwendbar ist, und insbesondere ob die Richtlinie auf die Entsendung von Kraftfahrern in diesem Sektor anwendbar ist.

16. Gerade diese Frage wurde in dem kürzlich ergangenen Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Federatie Nederlandse Vakbeweging(4) geklärt, einer Rechtssache aus den Niederlanden, die die Anwendung der Entsenderichtlinie auf Kraftfahrer im grenzüberschreitenden Güterverkehr betraf. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass...

To continue reading

Request your trial

VLEX uses login cookies to provide you with a better browsing experience. If you click on 'Accept' or continue browsing this site we consider that you accept our cookie policy. ACCEPT