R. A. and Others v „Luminor Bank AS“,agissant par intermédiaire de „Luminor Bank AS“ Lietuvos skyrius.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2023:774
Date12 October 2023
Docket NumberC-645/22
Celex Number62022CJ0645
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)

12. Oktober 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen – Richtlinie 93/13/EWG – Wirkungen der Feststellung der Missbräuchlichkeit einer Klausel – Wille des Verbrauchers, den Vertrag durch Änderung der darin enthaltenen missbräuchlichen Klausel aufrechtzuerhalten – Befugnisse des nationalen Gerichts“

In der Rechtssache C‑645/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberstes Gericht Litauens) mit Entscheidung vom 12. Oktober 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Oktober 2022, in dem Verfahren

R. A. u. a.

gegen

Luminor Bank AS, handelnd durch die Niederlassung der Luminor Bank AS Lietuvos skyrius,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin O. Spineanu‑Matei (Berichterstatterin), des Richters S. Rodin und der Richterin L. S. Rossi,

Generalanwalt: A. M. Collins,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der Luminor Bank AS, handelnd durch die Niederlassung der Luminor Bank AS Lietuvos skyrius, vertreten durch K. Karpickis, A. Klezys, Advokatai, und A. Sovaitė,

– der litauischen Regierung, vertreten durch K. Dieninis, S. Grigonis und V. Kazlauskaitė-Švenčionienė als Bevollmächtigte,

– der portugiesischen Regierung, vertreten durch P. Barros da Costa, A. Cunha, I. Gameiro und L. Medeiros als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Jokubauskaitė und N. Ruiz García als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. 1993, L 95, S. 29).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen R. A. u. a. gegen die Luminor Bank AS, handelnd durch die Niederlassung der Luminor Bank AS Lietuvos skyrius, wegen der Missbräuchlichkeit von Klauseln in mehreren zwischen diesen Parteien geschlossenen Darlehensverträgen und der sich daraus ergebenden Folgen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3 In den Erwägungsgründen 21 und 24 der Richtlinie 93/13 heißt es:

„Die Mitgliedstaaten müssen sicherstellen, dass in von einem Gewerbetreibenden mit Verbrauchern abgeschlossenen Verträgen keine missbräuchlichen Klauseln verwendet werden. …

Die Gerichte oder Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten müssen über angemessene und wirksame Mittel verfügen, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln in Verbraucherverträgen ein Ende gesetzt wird“.

4 Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass missbräuchliche Klauseln in Verträgen, die ein Gewerbetreibender mit einem Verbraucher geschlossen hat, für den Verbraucher unverbindlich sind, und legen die Bedingungen hierfür in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften fest; sie sehen ferner vor, dass der Vertrag für beide Parteien auf derselben Grundlage bindend bleibt, wenn er ohne die missbräuchlichen Klauseln bestehen kann.“

5 Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass im Interesse der Verbraucher und der gewerbetreibenden Wettbewerber angemessene und wirksame Mittel vorhanden sind, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln durch einen Gewerbetreibenden in den Verträgen, die er mit Verbrauchern schließt, ein Ende gesetzt wird.“

Litauisches Recht

6 Art. 6.2284 Abs. 8 des Lietuvos Respublikos civilinis kodeksas (Zivilgesetzbuch der Republik Litauen) bestimmt:

„Stellt das Gericht fest, dass eine oder mehrere Vertragsklausel(n) missbräuchlich ist/sind, so ist/sind diese Klausel(n) ab Vertragsschluss unwirksam, während die übrigen Vertragsklauseln für die Parteien verbindlich bleiben, sofern der Vertrag ohne die missbräuchlichen Klauseln aufrechterhalten werden kann.“

7 Art. 353 Abs. 1 und 2 des Lietuvos Respublikos civilinio proceso kodeksas (Zivilprozessordnung der Republik Litauen) sieht vor:

„(1) Das Kassationsgericht überprüft im Rahmen der Kassationsbeschwerde die angefochtenen Urteile und/oder Beschlüsse im Hinblick auf die Rechtsanwendung. Das Kassationsgericht ist an die vom erstinstanzlichen Gericht und vom Berufungsgericht festgestellten Tatsachen gebunden.

(2) Das Gericht ist befugt, über die Grenzen einer Kassationsbeschwerde hinauszugehen, wenn das öffentliche Interesse dies erfordert und wenn die Rechte und berechtigten Interessen einer Person, der Gesellschaft oder des Staates verletzen würden, falls nicht über die Grenzen der Kassationsbeschwerde hinausgegangen würde. …“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

8 Im Jahr 2008 schlossen die Kläger des Ausgangsverfahrens mit der Beklagten des Ausgangsverfahrens mehrere Verträge über Darlehen in Schweizer Franken (im Folgenden: streitige Verträge), mit denen sie bei der Beklagten Darlehen in Schweizer Franken aufnahmen, bestehende, auf Euro und litauische Litas lautende Darlehen in Schweizer Franken umwandelten oder bei anderen Banken in anderen Währungen als Schweizer Franken aufgenommene Darlehen refinanzierten. Die in dieser Weise gewährten Darlehen sollten in Schweizer Franken zurückgezahlt werden. Aufgrund der erheblichen Abwertung des litauischen Litas gegenüber dem Schweizer Franken hat sich der zurückzuzahlende Betrag in den Jahren nach Abschluss der streitigen Verträge fast verdoppelt.

9 Da die Kläger des Ausgangsverfahrens bestimmte Klauseln dieser Verträge für missbräuchlich hielten, erhoben sie 2017 beim Vilniaus apygardos teismas (Regionalgericht Vilnius, Litauen) Klage, u. a. auf Umstellung des Schweizer Franken auf Euro unter Berücksichtigung des am Tag der Gewährung der betreffenden Darlehen geltenden Wechselkurses sowie auf Neuberechnung aller Raten, die die Kläger zur Rückzahlung des Darlehens (Kapital und Zinsen) in Schweizer Franken gezahlt hatten, in Euro unter Berücksichtigung des am Tag dieser Zahlungen geltenden Wechselkurses.

10 Mit Entscheidung des vorgenannten Gerichts vom 20. November 2018, die in der Berufungsinstanz am 5. Mai 2020 durch Beschluss des Lietuvos apeliacinis teismas (Berufungsgericht Litauens) bestätigt wurde, wurde der Antrag der Kläger des Ausgangsverfahrens zurückgewiesen.

11 Daraufhin legten diese beim Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberstes Gericht Litauens) Kassationsbeschwerde ein. Mit Urteil vom 14. April 2021 verwies dieses Gericht die Rechtssache an den Lietuvos apeliacinis teismas (Berufungsgericht Litauens) zur erneuten Prüfung der Missbräuchlichkeit der betreffenden Klauseln der streitigen Verträge zurück. Nach Ansicht des Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberstes Gericht Litauens) entbindet die Tatsache, dass die Beklagte des Ausgangsverfahrens ihrer Verpflichtung, das Risiko von Wechselkursschwankungen des Schweizer Franken mitzuteilen, nachgekommen sei, das Gericht nicht von der Verpflichtung, zu prüfen, ob diese Klauseln missbräuchlich seien.

12 Mit Beschluss vom 4. Mai 2021 forderte der Lietuvos apeliacinis teismas (Berufungsgericht Litauens) die Kläger des Ausgangsverfahrens auf, sich dazu zu äußern, wie die betreffenden Klauseln der streitigen Verträge ihrer Ansicht nach im Fall der Feststellung ihrer Missbräuchlichkeit geändert werden müssten. Diese gaben an, dass sie die Änderung dieser Klauseln wie in der Klageschrift ausgeführt beantragten, nämlich, im Wesentlichen, durch die Umstellung von Schweizer Franken auf Euro zu dem Wechselkurs, der am Tag der Gewährung der betreffenden Darlehen gegolten habe. Die Beklagte des Ausgangsverfahrens hingegen wandte sich gegen die Feststellung der Missbräuchlichkeit dieser Klauseln sowie gegen deren Änderung, da es in...

To continue reading

Request your trial

VLEX uses login cookies to provide you with a better browsing experience. If you click on 'Accept' or continue browsing this site we consider that you accept our cookie policy. ACCEPT