VB contre GUPFINGER Einrichtungsstudio GmbH.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2022:971
Date08 December 2022
Docket NumberC-625/21
Celex Number62021CJ0625
CourtCourt of Justice (European Union)

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)

8. Dezember 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 93/13/EWG – Missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen – Unberechtigter Rücktritt des Verbrauchers vom Vertrag – Für missbräuchlich erklärte Klausel, mit der der Anspruch des Gewerbetreibenden auf Ersatz des Schadens festgelegt wird – Anwendung dispositiven nationalen Rechts“

In der Rechtssache C‑625/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Obersten Gerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 22. September 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Oktober 2021, in dem Verfahren

VB

gegen

GUPFINGER Einrichtungsstudio GmbH

erlässt

DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin L. S. Rossi, des Richters S. Rodin (Berichterstatter) und der Richterin O. Spineanu-Matei,

Generalanwalt: A. M. Collins,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– von VB, vertreten durch Rechtsanwälte G. Hamminger und S. Langer,

– der GUPFINGER Einrichtungsstudio GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt S. Glaser,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch B.‑R. Killmann und N. Ruiz García als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. 1993, L 95, S. 29).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen VB und der GUPFINGER Einrichtungsstudio GmbH (im Folgenden: Gupfinger) über den Ersatz des Schadens, der Letzterer durch den unberechtigten Rücktritt von einem Kaufvertrag entstanden ist.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3 Der 13. Erwägungsgrund der Richtlinie 93/13 lautet:

„Bei Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten, in denen direkt oder indirekt die Klauseln für Verbraucherverträge festgelegt werden, wird davon ausgegangen, dass sie keine missbräuchlichen Klauseln enthalten. Daher sind Klauseln, die auf bindenden Rechtsvorschriften oder auf Grundsätzen oder Bestimmungen internationaler Übereinkommen beruhen, bei denen die Mitgliedstaaten oder die Gemeinschaft Vertragsparteien sind, nicht dieser Richtlinie zu unterwerfen; der Begriff ‚bindende Rechtsvorschriften‘ in Artikel 1 Absatz 2 umfasst auch Regeln, die nach dem Gesetz zwischen den Vertragsparteien gelten, wenn nichts anderes vereinbart wurde.“

4 Art. 1 Abs. 2 dieser Richtlinie lautet:

„Vertragsklauseln, die auf bindenden Rechtsvorschriften oder auf Bestimmungen oder Grundsätzen internationaler Übereinkommen beruhen, bei denen die Mitgliedstaaten oder die Gemeinschaft – insbesondere im Verkehrsbereich – Vertragsparteien sind, unterliegen nicht den Bestimmungen dieser Richtlinie.“

5 Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie hat folgenden Wortlaut:

„Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass missbräuchliche Klauseln in Verträgen, die ein Gewerbetreibender mit einem Verbraucher geschlossen hat, für den Verbraucher unverbindlich sind, und legen die Bedingungen hierfür in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften fest; sie sehen ferner vor, dass der Vertrag für beide Parteien auf derselben Grundlage bindend bleibt, wenn er ohne die missbräuchlichen Klauseln bestehen kann.“

6 Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass im Interesse der Verbraucher und der gewerbetreibenden Wettbewerber angemessene und wirksame Mittel vorhanden sind, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln durch einen Gewerbetreibenden in den Verträgen, die er mit Verbrauchern schließt, ein Ende gesetzt wird.“

Österreichisches Recht

7 § 921 des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs vom 11. Juni 1811 in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: ABGB) bestimmt:

„Der Rücktritt vom Vertrage lässt den Anspruch auf Ersatz des durch verschuldete Nichterfüllung verursachten Schadens unberührt. Das bereits empfangene Entgelt ist auf solche Art zurückzustellen oder zu vergüten, dass kein Teil aus dem Schaden des anderen Gewinn zieht.“

Vorgeschichte des Rechtsstreits und Vorlagefragen

8 Am 12. November 2017 verkaufte Gupfinger an VB eine Einbauküche zum Preis von 10 924,70 Euro.

9 Der Kaufvertrag beruhte auf den Allgemeinen Geschäftsbedingungen von Gupfinger, deren Punkt V vorsah, dass dieses Unternehmen, wenn der Kunde, ohne dazu berechtigt zu sein, vom Vertrag zurücktritt oder dessen Aufhebung begehrt, entweder die Erfüllung des Vertrags verlangen oder dessen Aufhebung zustimmen kann, und dass im letzteren Fall der Käufer verpflichtet ist, Gupfinger nach ihrer Wahl Schadenersatz in Höhe eines pauschal auf 20 % des Verkaufspreises festgelegten Betrags oder in Höhe des tatsächlich entstandenen Schadens zu zahlen (im Folgenden: streitige Klausel).

10 Am 28. November 2017 trat VB vom Kaufvertrag zurück, weil er jenes Haus nicht erwerben konnte, für das die Küche bestimmt war.

11 Am 14. Mai 2018 brachte Gupfinger eine Klage ein, mit der sie die Verurteilung von VB zur Zahlung von 5 270,60 Euro als vertraglichen Schadenersatz entsprechend dem entgangenen Gewinn begehrte. Der Anspruch wurde nicht auf die Bedingungen des Kaufvertrags, sondern auf die Bestimmungen des ABGB gestützt.

12 VB wandte die Missbräuchlichkeit der streitigen Klausel ein. Da diese vorsieht, dass der Verkäufer im Fall des unberechtigten Rücktritts die Möglichkeit hat, entweder Ersatz des ihm entstandenen Schadens oder einen pauschalierten Schadenersatz in Höhe von 20 % des Kaufpreises zu verlangen, macht VB geltend, dass die Missbräuchlichkeit dieser Klausel dazu führe, dass seine Haftung auf Zahlung höchstens dieses pauschalierten Schadenersatzes beschränkt sei.

13 Das Gericht des ersten Rechtszugs entschied, dass die streitige Klausel missbräuchlich sei, lehnte es jedoch ab, sie für nichtig zu erklären, mit der Begründung, dass die Nichtigerklärung der Klausel für VB nachteilig wäre. Bei Nichtigerklärung der streitigen Klausel wäre VB nämlich verpflichtet gewesen, Gupfinger gemäß dem ABGB nicht in Höhe des vertraglichen Schadenersatzes von 20 % des Verkaufspreises, sondern in Höhe des gesamten Schadens zu entschädigen, d. h. eines Wertes, der fast die Hälfte des Verkaufspreises ausmache. Dementsprechend verurteilte dieses Gericht VB zur Zahlung von 2 184,94 Euro, was 20 % des Verkaufspreises entspricht.

14 Das Berufungsgericht änderte diese Entscheidung ab und verurteilte VB zum Ersatz des gesamten...

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