Opinion of Advocate General Ćapeta delivered on 22 February 2024.

JurisdictionEuropean Union
Date22 February 2024
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

TAMARA ĆAPETA

vom 22. Februar 2024(1)

Rechtssache C603/22

M. S.,

J. W.,

M. P.,

Beteiligte:

Prokurator Rejonowy w Słupsku,

D. G., als Prozesspfleger von M. B. und B. B.

(Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Rejonowy w Słupsku [Rayongericht Słupsk, Polen])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie (EU) 2016/800 – Verfahrensgarantien für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind – Art. 4 der Richtlinie 2016/800 – Auskunftsrecht – Art. 6 der Richtlinie 2016/800 – Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand – Zulässigkeit von Beweisen“






I. Einleitung

1. In der Europäischen Union sind Strafverfahren in erster Linie Sache der Mitgliedstaaten. Um das gegenseitige Vertrauen zu stärken, hat die Europäische Union jedoch eine Reihe von Richtlinien zur Mindestharmonisierung erlassen, mit denen bestimmte Rechte in solchen Verfahren geschützt werden(2).

2. Die vorliegende Rechtssache gibt dem Gerichtshof Gelegenheit, einige dieser Rechte in ihrer Anwendung auf Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, zu klären.

3. Die Fragen sind dem Gerichtshof vom Sąd Rejonowy w Słupsku (Rayongericht Słupsk, Polen) in einer bei ihm anhängigen Strafsache gegen drei Personen, M. S., J. W. und M. P., vorgelegt worden, die zum Zeitpunkt der Einleitung der strafrechtlichen Ermittlungen alle minderjährig waren, aber (zumindest in einem Fall) im Verlauf des Verfahrens 18 Jahre alt wurden.

4. Das vorlegende Gericht ersucht um die Auslegung mehrerer Bestimmungen der Richtlinie (EU) 2016/800 (über die Rechte von Kindern in Strafverfahren)(3) in Verbindung mit den Richtlinien 2013/48/EU (über den Zugang zu einem Rechtsbeistand)(4), 2012/13/EU (über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung)(5) und (EU) 2016/343 (über die Unschuldsvermutung und das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung)(6).

II. Sachverhalt des Ausgangsverfahrens, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

5. Der Prokurator Rejonowy w Słupsku (Rayonstaatsanwalt, Słupsk, Polen) erhob beim vorlegenden Gericht Anklage gegen M. S. wegen wiederholten Hausfriedensbruchs auf dem Gelände einer Ferienanlage im Zeitraum von Dezember 2021 bis Januar 2022. Anklagen wegen der gleichen Straftat wurden auch gegen J. W. und M. P. erhoben, aber lediglich wegen einmaliger Begehung. Alle drei Angeklagten waren zum Zeitpunkt der Tatbegehung 17 Jahre alt.

6. Die Polizei informierte M. S. weder über sein Recht auf Anwesenheit eines Rechtsbeistands während der Vernehmung noch über sein Recht auf Einsicht in die Verfahrensakte. Ferner gestattete die Polizei der Mutter von M. S. nicht, während seiner Vernehmung anwesend zu sein, und verweigerte ihr die Auskunft über den Fortgang des Ermittlungsverfahrens.

7. M. S. legte im Verlauf der polizeilichen Vernehmung, die nicht in Form einer audiovisuellen Aufzeichnung festgehalten wurde, eine Reihe von Sachverhaltsumständen offen, mit denen er sich selbst belastete, und gab eine detaillierte Schilderung der Ereignisse, zu denen es in der Ferienanlage gekommen war. Die Staatsanwaltschaft änderte nachfolgend den gegen M. S. erhobenen Vorwurf von einem einmaligen in einen mehrfachen Hausfriedensbruch auf dem Gelände der Ferienanlage.

8. Am Ende der Vernehmung händigte die Polizei M. S. ein Schriftstück mit einer Zusammenfassung seiner allgemeinen Rechte und Pflichten in Strafverfahren aus. M. S. unterzeichnete dieses Schriftstück, dessen Inhalt er jedoch aufgrund seines Umfangs und seiner Komplexität nicht las.

9. Bei J. W. und M. P. wurde in ähnlicher Weise vorgegangen. Anders als im Fall von M. S. wurde ihren Eltern gestattet, ihre Kinder bei der Vernehmung zu begleiten. Ansonsten ähnelte das Vorgehen in diesen beiden Fällen dem Vorgehen gegen M. S. sehr, abgesehen davon, dass bei ihnen der Vorwurf des einmaligen Hausfriedensbruchs auf dem Gelände der Ferienanlage nicht geändert wurde.

10. Während des Ermittlungsverfahrens wurde keine individuelle Begutachtung der Beschuldigten vorgenommen.

11. Die Anklageschriften wurden am 31. Mai 2022 von der Staatsanwaltschaft unterzeichnet und dem vorlegenden Gericht übermittelt. Da die Angeklagten keine Rechtsbeistände hatten, bestellte das vorlegende Gericht für jeden von ihnen einen Pflichtverteidiger.

12. Die Verteidiger der Angeklagten widersprachen jeweils der Verwertung ihrer im Ermittlungsverfahren gemachten Aussagen, weil der Beweis rechtswidrig, und zwar im Rahmen einer polizeilichen Vernehmung ohne Anwesenheit eines Rechtsbeistands, dessen Beteiligung zwingend vorgeschrieben sei, erlangt worden sei. Das so erlangte Beweismaterial könne nicht als Grundlage für die Sachverhaltsfeststellung dienen.

13. Das vorlegende Gericht gab diesen Einwänden in allen Fällen statt und lehnte die Anträge der Staatsanwaltschaft auf Verwertung der im Ermittlungsverfahren ohne Anwesenheit eines Rechtsbeistands gemachten Aussagen der Angeklagten als unzulässig ab.

14. M. P. wurde im August 2022, während des Verfahrens, 18 Jahre alt. Sein Verteidiger beantragte, ihn weiterhin zu vertreten, und das vorlegende Gericht gab diesem Antrag statt. Es liegen keine konkreten Informationen darüber vor, ob J. W. und M. S. im Verlauf des Verfahrens vor der Einreichung das Vorabentscheidungsersuchens 18 Jahre alt geworden sind.

15. Das vorlegende Gericht, das als Einzelrichter entscheidet, hat dem Gerichtshof nicht nur Fragen nach der Auslegung der Richtlinie 2016/800 in Bezug darauf vorgelegt, wie das Ermittlungsverfahren durchgeführt wurde, sondern auch Fragen nach der richterlichen Unabhängigkeit in Bezug auf zeitlich vor dem Ausgangsverfahren liegende Ereignisse.

16. Wie in der Vorlageentscheidung erläutert wird, wurde von derselben Richterin in einer anderen Rechtssache mit Beschluss vom 29. November 2021 dem Antrag einer Partei auf Ausschluss eines anderen Richters wegen mangelnden Vertrauens in ein Gericht, dessen Besetzung mit dem Unionsrecht und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht vereinbar ist, stattgegeben. Der Beschluss erging, weil der andere Richter in einem Verfahren unter Mitwirkung der nach 2018 errichteten Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat, Polen) ernannt worden war.

17. Daraufhin informierte der Prokurator Rejonowy w Słupsku (Rayonstaatsanwalt von Słupsk) die Prokurator Regionalna w Gdańsku (Regionalstaatsanwältin von Gdańsk [Danzig], Polen) über den Beschluss der Richterin des vorlegenden Gerichts. Diese unterrichtete ihrerseits den vom Justizminister ernannten Zastępca Rzecznika Dyscyplinarnego Sędziów Sądów Powszechnych (Stellvertretender Disziplinarbeauftragter der Richter der ordentlichen Gerichte, Polen), der den Justizminister informierte. Diese Kette von Mitteilungen führte dazu, dass die Richterin des vorlegenden Gerichts für die Zeit vom 9. Februar bis zum 8. März 2022, also vor dem gerichtlichen Verfahren gegen M. S., J. W. und M. P., vorübergehend vom Dienst suspendiert wurde.

18. Vor diesem Hintergrund hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Sind Art. 6 Abs. 1, 2, 3 Buchst. a und 7 sowie Art. 18 in Verbindung mit den Erwägungsgründen 25, 26 und 27 der Richtlinie 2016/800 dahin auszulegen, dass die handelnden Behörden ab dem Zeitpunkt, zu dem gegen einen Verdächtigen, der das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ein Tatvorwurf erhoben wird, sicherstellen müssen, dass das Kind das Recht auf Unterstützung durch einen Pflichtverteidiger hat, wenn es keinen Wahlverteidiger hat (weil das Kind oder der Träger der elterlichen Verantwortung nicht von sich aus für einen solchen Beistand gesorgt hat), und dass an Handlungen im Ermittlungsverfahren wie der Vernehmung des Minderjährigen als Beschuldigter ein Verteidiger beteiligt ist, sowie dahin, dass sie einer Handlung in Form der Vernehmung eines Minderjährigen ohne Beteiligung eines Verteidigers entgegenstehen?

2. Ist Art. 6 Abs. 6 und 8 in Verbindung mit den Erwägungsgründen 16, 30, 31 und 32 der Richtlinie 2016/800 dahin auszulegen, dass es in Sachen, die mit einer Freiheitsstrafe bedrohte Straftaten betreffen, in keinem Fall zulässig ist, von der unverzüglichen Unterstützung durch einen Verteidiger abzuweichen, und dass eine vorübergehende Abweichung von der Anwendung des Rechts auf Unterstützung durch einen Verteidiger im Sinne von Art. 6 Abs. 8 der Richtlinie nur im vorgerichtlichen Stadium des Verfahrens und nur unter den in Art. 6 Abs. 8 Buchst. a und b genau aufgeführten Umständen möglich ist, die in der grundsätzlich anfechtbaren Entscheidung über die Vernehmung in Abwesenheit eines Rechtsbeistands ausdrücklich anzugeben sind?

3. Für den Fall, dass zumindest eine der Fragen 1 und 2 bejaht wird: Sind die genannten Bestimmungen der Richtlinie 2016/800 daher dahin auszulegen, dass sie nationalen Bestimmungen wie den folgenden entgegenstehen:

a) Art. 301 Satz 2 der Strafprozessordnung (Kodeks postępowania karnego), wonach der Beschuldigte nur auf seinen Antrag hin unter Beteiligung eines bestellten Verteidigers vernommen wird und das Nichterscheinen des Verteidigers zur Vernehmung des Beschuldigten kein Hinderungsgrund für die Vernehmung ist;

b) Art. 79 § 3 der Strafprozessordnung, wonach bei einer Person, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat (Art. 79 § 1 Nr. 1 der Strafprozessordnung), die Teilnahme des Verteidigers nur in der Hauptverhandlung und in den Sitzungen vorgeschrieben ist, in denen die Anwesenheit des Angeklagten vorgeschrieben ist, d. h. im Gerichtsverfahren?

4. Sind die in den Fragen 1 und 2 genannten Bestimmungen sowie der Grundsatz des Vorrangs und der Grundsatz der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien dahin auszulegen, dass sie ein nationales Gericht, das mit einer unter die Richtlinie 2016/800 fallenden Strafsache befasst ist, und jede staatliche Behörde berechtigen (oder verpflichten), mit der Richtlinie unvereinbare Bestimmungen des nationalen...

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