Urteile nº T-74/08 of TGericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften, September 09, 2010

Resolution DateSeptember 09, 2010
Issuing OrganizationTGericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften
Decision NumberT-74/08

In der Rechtssache T‑74/08

Now Pharm AG mit Sitz in Luxemburg (Luxemburg), Prozessbevollmächtigte: zunächst Rechtsanwälte C. Kaletta und I.‑J. Tegebauer, dann Rechtsanwältin C. Kaletta,

Klägerin,

gegen

Europäische Kommission, vertreten durch B. Schima und M. Šimerdová als Bevollmächtigte,

Beklagte,

wegen Nichtigerklärung der Entscheidung C(2007) 6132 der Kommission vom 4. Dezember 2007, mit der die Ausweisung des Medikaments „Spezieller flüssiger Schöllkrautwurzelextrakt“ als Arzneimittel für seltene Leiden im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 141/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1999 über Arzneimittel für seltene Leiden (ABl. 2000, L 18, S. 1) abgelehnt wurde,

erlässt

DAS GERICHT (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten M. Vilaras sowie der Richter M. Prek (Berichterstatter) und V. M. Ciucă,

Kanzler: Katarina Andová, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. April 2010,

folgendes

Urteil

Rechtlicher Rahmen

1 Damit Patienten mit seltenen Leiden in der Europäischen Gemeinschaft wirksam behandelt werden können, haben das Europäische Parlament und der Rat die Verordnung (EG) Nr. 141/2000 vom 16. Dezember 1999 über Arzneimittel für seltene Leiden (ABl. 2000, L 18, S. 1) erlassen. Diese am 22. Januar 2000 in Kraft getretene Verordnung führt ein Anreizsystem ein, das darauf abzielt, pharmazeutische Unternehmen zu Investitionen in die Erforschung, die Entwicklung und das Inverkehrbringen von Arzneimitteln für seltene Leiden anzuregen.

2 Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 141/2000 sieht vor:

„Ein Arzneimittel wird als Arzneimittel für seltene Leiden ausgewiesen, wenn der Investor nachweisen kann, dass

a) das Arzneimittel für die Diagnose, Verhütung oder Behandlung eines Leidens bestimmt ist, das lebensbedrohend ist oder eine chronische Invalidität nach sich zieht und von dem zum Zeitpunkt der Antragstellung in der Gemeinschaft nicht mehr als fünf von zehntausend Personen betroffen sind, oder

das Arzneimittel für die Diagnose, Verhütung oder Behandlung eines lebensbedrohenden Leidens, eines zu schwerer Invalidität führenden oder eines schweren und chronischen Leidens in der Gemeinschaft bestimmt ist und dass das Inverkehrbringen des Arzneimittels in der Gemeinschaft ohne Anreize vermutlich nicht genügend Gewinn bringen würde, um die notwendigen Investitionen zu rechtfertigen,

und

b) in der Gemeinschaft noch keine zufriedenstellende Methode für die Diagnose, Verhütung oder Behandlung des betreffenden Leidens zugelassen wurde oder dass das betreffende Arzneimittel – sofern eine solche Methode besteht – für diejenigen, die von diesem Leiden betroffen sind, von erheblichem Nutzen sein wird.“

3 Das in Art. 5 der Verordnung Nr. 141/2000 in der auf den Sachverhalt des vorliegenden Falls anwendbaren Fassung geregelte Verfahren der Ausweisung ist wie folgt ausgestaltet:

„(1) Um die Ausweisung eines Arzneimittels als Arzneimittel für seltene Leiden zu erhalten, stellt der Investor bei der [Europäischen Arzneimittel‑]Agentur in einem beliebigen Stadium der Entwicklung eines Arzneimittels einen entsprechenden Antrag; dies erfolgt vor Stellung des Antrags auf Genehmigung für das Inverkehrbringen.

(2) Dem Antrag sind folgende Angaben und Unterlagen beizufügen:

a) Name oder Fi[rm]a und ständige Anschrift des Investors,

b) Wirkstoffe des Arzneimittels,

c) vorgeschlagenes therapeutisches Anwendungsgebiet,

d) Begründung, dass die Kriterien des Artikels 3 Absatz 1 erfüllt sind und Darstellung des Entwicklungsstandes einschließlich der erwarteten Anwendungsgebiete.

(3) Die Kommission erstellt in Konsultation mit den Mitgliedstaaten, der Agentur und den interessierten Parteien ausführliche Leitlinien für Form und Inhalt der Anträge auf Ausweisung von Arzneimitteln als Arzneimittel für seltene Leiden.

(4) Die Agentur prüft die Gültigkeit des Antrags und legt dem Ausschuss [für Arzneimittel für seltene Leiden] die Ergebnisse in Form eines Kurzberichts vor. Sie kann den Investor erforderlichenfalls auffordern, zusätzliche Angaben und Unterlagen bereitzustellen.

(5) Die Agentur stellt sicher, dass der Ausschuss innerhalb von 90 Tagen nach Erhalt eines gültigen Antrags ein Gutachten abgibt.

(6) Der Ausschuss bemüht sich bei der Erstellung seines Gutachtens darum, einen Konsens zu erzielen. Gelingt dies nicht, wird das Gutachten mit Zweidrittelmehrheit der Mitglieder des Ausschusses angenommen. Das Gutachten kann im schriftlichen Verfahren erstellt werden.

(7) Entspricht der Antrag nach dem Gutachten des Ausschusses nicht den Kriterien des Artikels 3 Absatz 1, so teilt die Agentur dies dem Investor unverzüglich mit. Der Investor kann innerhalb von 90 Tagen nach Erhalt des Gutachtens unter Angabe ausführlicher Gründe einen Widerspruch einlegen, den die Agentur an den Ausschuss weiterleitet. Der Ausschuss prüft auf seiner nächsten Sitzung eine etwaige Revision seines Gutachtens.

(8) Die Agentur übermittelt das endgültige Gutachten des Ausschusses unverzüglich der Kommission, die innerhalb von 30 Tagen nach Erhalt des Gutachtens eine Entscheidung annimmt. Steht der Entscheidungsentwurf ausnahmsweise nicht im Einklang mit dem Gutachten des Ausschusses, so wird die endgültige Entscheidung nach dem Verfahren des Artikels 73 der Verordnung (EWG) Nr. 2309/93 [des Rates vom 22. Juli 1993 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Schaffung einer Europäischen Agentur für die Beurteilung von Arzneimitteln, ABl. L 214, S. 1] angenommen. Die Entscheidung wird dem Investor sowie der Agentur und den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten mitgeteilt.

(9) Als Arzneimittel für seltene Leiden ausgewiesene Arzneimittel werden in das Gemeinschaftsregister für Arzneimittel für seltene Leiden eingetragen.

…“

4 Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 847/2000 der Kommission vom 27. April 2000 zur Festlegung von Bestimmungen für die Anwendung der Kriterien für die Ausweisung eines Arzneimittels als Arzneimittel für seltene Leiden und von Definitionen für die Begriffe „ähnliches Arzneimittel“ und „klinische Überlegenheit“ (ABl. L 103, S. 5) bestimmt:

„(2) Für die Durchführung des Artikels 3 der Verordnung … Nr. 141/2000 über Arzneimittel für seltene Leiden gilt folgende Begriffsbestimmung:

– ‚Erheblicher Nutzen‘ ist ein klinisch relevanter Vorteil oder ein bedeutender Beitrag zur Behandlung von Patienten.“

5 Ferner hat die Kommission der Europäischen Gemeinschaften eine Mitteilung zur Verordnung Nr. 141/2000 erlassen (ABl. 2003, C 178, S. 2), in deren Abschnitt A4 es heißt:

„…

Der erhebliche Nutzen wird in der Verordnung … Nr. 847/2000 … wie folgt definiert: ‚… ist ein klinisch relevanter Vorteil oder ein bedeutender Beitrag zur Behandlung von Patienten‘. Der Antragsteller muss nachweisen, dass zum Zeitpunkt der Ausweisung ein erheblicher Nutzen im Vergleich zu einem vorhandenen zugelassenen Arzneimittel oder einer solchen Methode besteht. Da mit dem betreffenden Arzneimittel für seltene Leiden unter Umständen wenig oder keine klinische Erfahrung vorliegt, ist von dem vom Antragsteller angenommenen Nutzen auszugehen. In allen Fällen muss der Ausschuss für Arzneimittel für seltene Leiden (Committee on Orphan Medicinal Products – COMP) bewerten, ob diese Annahmen durch die verfügbaren Daten bzw. die vom Antragsteller eingereichten Nachweise bestätigt werden.

Auf jeden Fall muss der angenommene Nutzen vom Antragsteller durch die Vorlage von Nachweisen/Daten begründet werden. Dabei sind die besonderen Merkmale des Leidens und der bestehenden Methoden zu berücksichtigen. …“

6 Außerdem bestimmt § 10 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Ausschusses für Arzneimittel für seltene Leiden der Europäischen Arzneimittelagentur (EMEA) (im Folgenden: Ausschuss) (COMP/8212/00 Rev 2) vom 8. Dezember 2004:

„Wenn erforderlich, können der Ausschuss und seine Arbeitsgruppen die Dienste von Sachverständigen für besondere Gebiete der Wissenschaft oder Technik in Anspruch nehmen. Diese Sachverständigen müssen im Verzeichnis europäischer Sachverständiger aufgeführt sein.“

7 Schließlich sieht § 11 Abs. 2 und 3 der Geschäftsordnung des Ausschusses vor:

„(2) Die Mitglieder des Ausschusses und der Arbeitsgruppen sowie die in dieser Geschäftsordnung erwähnten Sachverständigen dürfen keine unmittelbaren Interessen in der pharmazeutischen Industrie verfolgen, die ihre Unvoreingenommenheit beeinträchtigen könnten. Sie verpflichten sich, im öffentlichen Interesse und unabhängig zu handeln, und müssen jährlich ihre finanziellen Verhältnisse offen legen. Alle mittelbaren Interessen, über die sie möglicherweise mit der pharmazeutischen Industrie verbunden sind, werden in ein öffentlich zugängliches Verzeichnis bei der EMEA eingetragen. Darüber hinaus werden die Interessenerklärungen der Mitglieder auf der Website der EMEA zugänglich gemacht.

(3) Zu Beginn jeder Sitzung legen die Mitglieder des Ausschusses und der Arbeitsgruppen (sowie die an der Sitzung teilnehmenden Sachverständigen) alle Sonderinteressen offen, die die Annahme begründen könnten, dass sie sich nachteilig auf ihre Unabhängigkeit in Bezug auf die Tagesordnungspunkte auswirken. Diese Erklärungen werden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.“

Vorgeschichte des Rechtsstreits

8 Die Klägerin, die Now Pharm AG, hat ein Arzneimittel namens „Spezieller flüssiger Schöllkrautwurzelextrakt“ (im Folgenden: Ukrain) zur Behandlung von Bauchspeicheldrüsenkrebs entwickelt. Nach ihren Angaben ist dieses Arzneimittel eine aus Schöllkraut gewonnene Alkaloidverbindung, die sich, intravenös injiziert, binnen weniger Minuten im Primärtumor und in den Metastasen anreichere und im ultravioletten Licht fluoresziere, so dass krankes Gewebe von gesundem genau unterschieden werden könne. Zudem bringe es Krebszellen zum Absterben, ohne gesundes Gewebe anzugreifen.

9 Der Klägerin wurde in mehreren Staaten außerhalb der Europäischen Union eine Genehmigung für das Inverkehrbringen von Ukrain...

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