Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl v JF.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2024:192
Date29 February 2024
Docket NumberC-222/22
Celex Number62022CJ0222
CourtCourt of Justice (European Union)

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

29. Februar 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Asylpolitik – Richtlinie 2011/95/EU – Voraussetzungen für einen Anspruch auf internationalen Schutz – Inhalt des zu gewährenden Schutzes – Art. 5 – Aus Nachfluchtgründen entstehender Bedarf an internationalem Schutz – Folgeantrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft – Art. 5 Abs. 3 – Begriff der Umstände, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslands selbst geschaffen hat – Missbrauchsabsicht und Absicht, das anwendbare Verfahren zu instrumentalisieren – Aktivitäten im Aufnahmemitgliedstaat, die nicht Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind – Religionswechsel“

In der Rechtssache C‑222/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgerichtshof (Österreich) mit Beschluss vom 16. März 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 29. März 2022, in dem Verfahren

Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl

gegen

JF

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe sowie der Richter N. Piçarra (Berichterstatter) und N. Jääskinen,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– von JF, vertreten durch Rechtsanwalt C. Schmaus,

– der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, J. Schmoll und V.‑S. Strasser als Bevollmächtigte,

– der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und A. Hoesch als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azéma und L. Hohenecker als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. Juni 2023

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9, berichtigt in ABl. 2017, L 167, S. 58).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich) (im Folgenden: BFA) und JF, einem Drittstaatsangehörigen, über die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung, mit der JF nach einem Folgeantrag auf internationalen Schutz die Anerkennung als Flüchtling verweigert wurde.

Rechtlicher Rahmen

Völkerrecht

3 Art. 1 Abschnitt A des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]), das am 22. April 1954 in Kraft trat und durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, das am 4. Oktober 1967 in Kraft trat, ergänzt wurde (im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention), sieht vor:

„Im Sinne dieses Abkommens findet der Ausdruck ‚Flüchtling‘ auf jede Person Anwendung:

2. die … aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als staatenlose … außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will.

…“

4 Art. 2 („Allgemeine Verpflichtungen“) dieser Konvention bestimmt:

„Jeder Flüchtling hat gegenüber dem Land, in dem er sich befindet, Pflichten, zu denen insbesondere [die] Verpflichtung gehört, die Gesetze und sonstigen Rechtsvorschriften sowie die zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung getroffenen Maßnahmen zu beachten.“

5 Art. 33 („Verbot der Ausweisung und Zurückweisung“) Ziff. 1 der Konvention sieht vor, dass „[k]einer der vertragschließenden Staaten … einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen [wird], in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde“.

6 Nach Art. 42 Ziff. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention kann „[i]m Zeitpunkt der Unterzeichnung, der Ratifikation oder des Beitritts … jeder Staat zu den Artikeln [dieses] Abkommens, mit Ausnahme der Artikel 1, 3, 4, 16 (1), 33, 36 bis 46 einschließlich, Vorbehalte machen“.

Unionsrecht

Richtlinie 2011/95

7 In den Erwägungsgründen 4, 12, 24 und 25 der Richtlinie 2011/95 heißt es:

„(4) Die Genfer Flüchtlingskonvention und das Protokoll stellen einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen dar.

(12) Das wesentliche Ziel dieser Richtlinie besteht darin, einerseits zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich [internationalen] Schutz benötigen, und andererseits sicherzustellen, dass diesen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestniveau von Leistungen geboten wird.

(24) Es müssen gemeinsame Kriterien für die Anerkennung von Asylbewerbern als Flüchtlinge im Sinne von Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention eingeführt werden.

(25) Insbesondere ist es erforderlich, gemeinsame Konzepte zu entwickeln zu: [dem Begriff] aus Nachfluchtgründen (‚sur place‘) entstehendem Schutzbedarf …“.

8 Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) dieser Richtlinie bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

d) ‚Flüchtling‘ einen Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder einen Staatenlosen, der sich aus denselben vorgenannten Gründen außerhalb des Landes seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts befindet und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht dorthin zurückkehren will und auf den Artikel 12 keine Anwendung findet;

e) ‚Flüchtlingseigenschaft‘ die Anerkennung eines Drittstaatsangehörigen oder eines Staatenlosen als Flüchtling durch einen Mitgliedstaat;

…“

9 Art. 4 („Prüfung der Tatsachen und Umstände“) Abs. 3 der Richtlinie 2011/95, der zu ihrem Kapitel II gehört, sieht vor:

„Die Anträge auf internationalen Schutz sind individuell zu prüfen, wobei Folgendes zu berücksichtigen ist:

b) die maßgeblichen Angaben des Antragstellers und die von ihm vorgelegten Unterlagen, einschließlich Informationen zu der Frage, ob er verfolgt worden ist bzw. verfolgt werden könnte oder einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. erleiden könnte;

c) die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers, einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter, um bewerten zu können, ob in Anbetracht seiner persönlichen Umstände die Handlungen, denen er ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, einer Verfolgung oder einem sonstigen ernsthaften Schaden gleichzusetzen sind;

d) die Frage, ob die Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes ausschließlich oder hauptsächlich aufgenommen wurden, um die für die Beantragung von internationalem Schutz erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen, damit bewertet werden kann, ob der Antragsteller im Fall einer Rückkehr in dieses Land aufgrund dieser Aktivitäten verfolgt oder ernsthaften Schaden erleiden würde;

…“

10 Art. 5 („Aus Nachfluchtgründen entstehender Bedarf an internationalem Schutz“) dieser Richtlinie, der ebenfalls zu ihrem Kapitel II gehört, lautet:

„(1) Die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, kann auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Antragsteller das Herkunftsland verlassen hat.

(2) Die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, kann auf Aktivitäten des Antragstellers nach Verlassen des Herkunftslandes beruhen, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind.

(3) Unbeschadet der Genfer Flüchtlingskonvention können die Mitgliedstaaten festlegen, dass ein Antragsteller, der einen Folgeantrag stellt, in der Regel nicht als Flüchtling anerkannt wird, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslandes selbst geschaffen hat.“

11 Art. 10 („Verfolgungsgründe“) Abs. 1 der Richtlinie 2011/95, der zu ihrem Kapitel III gehört, bestimmt:

„Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe berücksichtigen die Mitgliedstaaten Folgendes:

b) der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind;

…“

12 Nach Art. 13 dieser Richtlinie „[erkennen d]ie Mitgliedstaaten einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen, der die Voraussetzungen der Kapitel II und III erfüllt, die Flüchtlingseigenschaft zu“.

...

To continue reading

Request your trial
1 practice notes
  • Opinion of Advocate General Medina delivered on 11 April 2024.
    • European Union
    • Court of Justice (European Union)
    • 11 April 2024
    ...p. 14 et 15. 5 Arrêt du 29 février 2024, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Conversion religieuse ultérieure) (C‑222/22, EU:C:2024:192, point 25 et jurisprudence 6 Arrêt du 22 février 2024, Landkreis Jerichower Land (C‑85/23, EU:C:2024:161, point 30 et jurisprudence citée). 7 Voir, en ce ......
1 cases
  • Opinion of Advocate General Medina delivered on 11 April 2024.
    • European Union
    • Court of Justice (European Union)
    • 11 April 2024
    ...p. 14 et 15. 5 Arrêt du 29 février 2024, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Conversion religieuse ultérieure) (C‑222/22, EU:C:2024:192, point 25 et jurisprudence 6 Arrêt du 22 février 2024, Landkreis Jerichower Land (C‑85/23, EU:C:2024:161, point 30 et jurisprudence citée). 7 Voir, en ce ......

VLEX uses login cookies to provide you with a better browsing experience. If you click on 'Accept' or continue browsing this site we consider that you accept our cookie policy. ACCEPT