Opinion of Advocate General Richard de la Tour delivered on 7 September 2023.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2023:647
Date07 September 2023
Celex Number62021CC0822
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JEAN RICHARD DE LA TOUR

vom 7. September 2023(1)

Rechtssache C822/21

Republik Lettland

gegen

Königreich Schweden

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Richtlinie 2014/49/EU – Einlagensicherungssysteme – Nichtübertragung der Beiträge auf den Einlagensicherungsfonds – Praktische Wirksamkeit – Loyale Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union“






I. Einleitung

1. Mit der vorliegenden Vertragsverletzungsklage wirft die Republik Lettland dem Königreich Schweden vor, gegen die ihm nach Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2014/49/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über Einlagensicherungssysteme(2) obliegenden Verpflichtungen verstoßen zu haben. Konkret betrifft diese Klage die Modalitäten für die Erhebung des Beitrags, der von bestimmten Banken jährlich an das im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats errichtete Einlagensicherungssystem geschuldet wird, und zwar im Zusammenhang mit Veräußerungen von sich in anderen Mitgliedstaaten befindlichen Bankzweigstellen; dies führt nach Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2014/49 dazu, dass die Beiträge, die für diese Zweigstellen in den zwölf Monaten vor der Veräußerung an das Einlagensicherungssystem des Sitzes der Bank gezahlt wurden, auf die nach diesen Veräußerungen zuständigen nationalen Einlagensicherungssysteme übertragen werden. Die Republik Lettland rügt ferner, das Königreich Schweden habe dadurch, dass es die Übertragung dieser Beiträge verweigert habe, gegen seine Pflichten aus Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen, indem es die Integration des Binnenmarkts beeinträchtigt habe und damit den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens(3) zwischen den Mitgliedstaaten untergraben habe.

2. Zur Unterstützung der Republik Lettland sind die Republik Estland, die Republik Litauen und die Europäische Kommission dem Rechtsstreit beigetreten. Der Sitz der Bank befand sich nämlich in Schweden, und die veräußerten Zweigstellen lagen in Estland, Lettland und Litauen.

3. Da es wenige Vertragsverletzungsklagen zwischen Mitgliedstaaten gibt(4), wird diese Rechtssache dem Gerichtshof die Gelegenheit bieten, nähere Ausführungen zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Vertragsverletzungsklage gemäß Art. 259 AEUV zu machen.

4. Am Ende meiner Ausführungen werde ich dem Gerichtshof vorschlagen, die Klage für zulässig zu erklären, sie aber unter Berücksichtigung dessen, dass eine rein teleologische Auslegung einer Richtlinie keine Vertragsverletzungsklage stützen kann, wenn die eindeutigen Bestimmungen dieser Richtlinie wörtlich umgesetzt worden sind und keine allgemeine und verfestigte gegenteilige Praxis nachgewiesen worden ist, in der Sache zurückzuweisen.

II. Rechtlicher Rahmen

A. Richtlinie 2014/49

5. Folgende Bestimmungen der Richtlinie 2014/49 kommen zur Anwendung: die Erwägungsgründe 3 und 37, Art. 6 Abs. 1, Art. 7 Abs. 1, Art. 10 Abs. 1, 2, 6 und 8, Art. 13 Abs. 1 sowie Art. 14 Abs. 1 bis 4.

B. Schwedisches Recht

6. Art. 13 der Lag om insättningsgaranti (Gesetz über die Einlagensicherung)(5) vom 20. Dezember 1995 sieht vor, dass die Sicherungsbehörde die Höhe der fälligen Beiträge jährlich durch Entscheidung bestimmt und dass diese innerhalb eines Monats nach dem Zeitpunkt dieser Entscheidung zu entrichten sind.

7. Nach Art. 14 dieses Gesetzes werden dann, wenn ein Kreditinstitut ganz oder zum Teil übertragen wird und einem anderen Einlagensicherungssystem angehören wird, die Beiträge, die von ihm in den zwölf Monaten vor der Übertragung entrichtet wurden, auf das andere Einlagensicherungssystem übertragen.

III. Vorgeschichte des Rechtsstreits und Vorverfahren

8. Ein europäischer Finanzdienstleistungskonzern, der seinen Gesellschaftssitz in Schweden hatte (die Nordea Bank AB) und die für die Einlagensicherung fälligen Beiträge – auch für seine in anderen Mitgliedstaaten gelegenen Zweigstellen – an das schwedische Einlagensicherungssystem entrichtete, wurde in den Jahren 2017 und 2018 umstrukturiert.

9. Am 1. Oktober 2017 wurden drei Zweigstellen(6) dieses Konzerns, die in Estland, Lettland und Litauen lagen, an eine andere Bank veräußert. Die Einlagensicherungsbehörden dieser Mitgliedstaaten beantragten bei der schwedischen Einlagensicherungsbehörde jeweils die Übertragung der für jede veräußerte Zweigstelle entrichteten Beiträge. Mit Entscheidung vom 3. Oktober 2017 lehnte diese Behörde die Anträge ab und begründete dies damit, dass in den zwölf Monaten vor dem 1. Oktober 2017 keine Beiträge entrichtet worden seien.

10. Am 1. Oktober 2018 verlegte die Nordea Bank, die Veräußerin der betreffenden Zweigstellen, ihren Gesellschaftssitz von Schweden nach Finnland. Auf Antrag der finnischen Einlagensicherungsbehörde übertrug die schwedische Einlagensicherungsbehörde am 4. Oktober und 13. November 2018 die Beiträge, die in den zwölf Monaten vor dem 1. Oktober 2018 von diesem Finanzdienstleistungskonzern entrichtet worden waren.

11. In Schweden sind die Beiträge an das Einlagensicherungssystem für die Zeit von Januar bis Dezember innerhalb eines Monats nach der Entscheidung der Sicherungsbehörde über die Festlegung der Höhe fällig(7). Für das Jahr 2016 datiert die jährliche Entscheidung dieser Behörde vom 2. September 2016, und die Nordea Bank entrichtete ihren Beitrag am 30. September 2016(8). Im Jahr 2017 erließ die Behörde ihre Entscheidung am 14. September 2017, und die Beiträge wurden am 13. Oktober 2017(9) gezahlt. Im Jahr 2018 datiert die jährliche Entscheidung der Behörde vom 27. September 2018, und die Nordea Bank entrichtete ihre Beiträge am 28. September 2018(10).

12. Die Republik Lettland und die Republik Litauen fochten die Entscheidung, mit der die Übertragung der Beiträge vom schwedischen Einlagensicherungssystem abgelehnt wurde, nicht vor den schwedischen Gerichten an.

13. Die Anfechtung der ablehnenden Entscheidung durch die Republik Estland wurde dagegen durch ein bestätigendes Urteil des Kammarrätt i Stockholm (Oberverwaltungsgericht Stockholm, Schweden) vom 15. Mai 2018 zurückgewiesen; zur Begründung wurde angeführt, dass das Unionsrecht im schwedischen Recht richtig umgesetzt werde. In einem Urteil vom 7. November 2018 ließ es der Högsta förvaltningsdomstol (Oberstes Verwaltungsgericht, Schweden) nicht zu, dass die Republik Estland gegen dieses bestätigende Urteil einen Rechtsbehelf einlegte, und wies ihren Antrag auf Vorabentscheidung zurück, weil er der Auffassung war, dass der Rechtsstreit keine Auslegung des Unionsrechts betreffe, der eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs erfordere.

14. In Beantwortung eines Schreibens, das die lettische Einlagensicherungsbehörde am 27. März 2019 an die Kommission gerichtet hatte, räumt diese in einem Schreiben vom 9. Oktober 2020 ein, dass die unvollständige Formulierung von Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2014/49 im Wesentlichen keine spezifischen Szenarien zum Tätigwerden für die Fälle vorsehe, in denen eine nationale Einlagensicherungsbehörde Entscheidungen getroffen hat wie diejenige, die Frist für die Zahlung der Beiträge zu verlängern, wodurch mithin abweichende Auslegungen möglich würden.

15. Die estnische, die lettische und die litauische Einlagensicherungsbehörde strengten ein Vermittlungsverfahren mit der schwedischen Einlagensicherungsbehörde unter der Ägide der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde (EBA) an, das die Sache mangels Einigung im Laufe des Jahres 2019 abschloss.

16. Gemäß Art. 259 Abs. 2 und 3 AEUV befasste die Republik Lettland am 10. Mai 2021 die Kommission mit einem Antrag auf Abgabe einer mit Gründen versehenen Stellungnahme (im Folgenden: ursprüngliche Beschwerde). Nachdem die Kommission das Königreich Schweden aufgefordert hatte, sich zu äußern, und die Parteien angehört hatte, gab sie am 30. Juli 2021 eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab. Darin vertrat sie die Auffassung, dass das Königreich Schweden durch seine Weigerung, die von der Nordea Bank in den zwölf Monaten vor der Veräußerung für ihre lettische Zweigstelle entrichteten Beiträge auf das lettische Einlagensicherungssystem zu übertragen, gegen seine Verpflichtungen aus Art. 14 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2014/49 verstoßen habe. Den angeblichen Verstoß des Königreichs Schweden gegen den in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit sah die Kommission dagegen nicht als gegeben an.

IV. Verfahren vor dem Gerichtshof

17. Mit Klageschrift vom 30. Dezember 2021 befasste die Republik Lettland den Gerichtshof mit einer gegen das Königreich Schweden gerichteten Vertragsverletzungsklage und beantragte,

– festzustellen, dass das Königreich Schweden dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2014/49 verstoßen hat, dass es durch seine Weigerung, die von der lettischen Zweigstelle der Nordea Bank gezahlten und für den Beitragszeitraum gemäß dieser Bestimmung berechneten Beiträge auf das lettische Einlagensicherungssystem zu übertragen, dem Ziel der Richtlinie 2014/49 zuwidergehandelt und die praktische Wirksamkeit ihrer Bestimmungen nicht gewährleistet hat;

– festzustellen, dass das Königreich Schweden dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen hat, dass es durch seine Weigerung, die von der lettischen Zweigstelle der Nordea Bank gezahlten und für den Beitragszeitraum gemäß Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2014/49 berechneten Beiträge auf das lettische Einlagensicherungssystem zu übertragen, die Integration des Binnenmarkts beeinträchtigt und damit das gegenseitige Vertrauen(11) zwischen den Mitgliedstaaten untergräbt, das eine Voraussetzung für die grenzüberschreitende Integration ist;

– sollte der Gerichtshof feststellen, dass das Königreich Schweden gegen seine Verpflichtungen aus Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2014/49 und Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen hat, dem Königreich Schweden die Verpflichtung aufzuerlegen, den festgestellten Verstoß abzustellen, indem das schwedische Einlagensicherungssystem den vollen Betrag der von...

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