Opinion of Advocate General Kokott delivered on 14 December 2023.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2023:998
Date14 December 2023
Celex Number62022CC0519
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 14. Dezember 2023(1)

Rechtssache C519/22

MAX7 Design Kft.

gegen

Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága

(Vorabentscheidungsersuchen des Fővárosi Törvényszék [Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – nachträgliche Festsetzung einer Sicherheitsleistung – Sicherheitsleistung, die an die Höhe der Steuerschulden eines Dritten gekoppelt ist – Löschung der Steuernummer bei Nichtbezahlung der Sicherheitsleistung – Grundrechte – Eigentumsfreiheit und unternehmerische Freiheit – Verhältnismäßigkeitsgrundsatz – Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne – Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf“






I. Einführung

1. Dieses Vorabentscheidungsverfahren zeigt erneut, wie schwierig es im Mehrwertsteuerrecht für die Mitgliedstaaten ist, einen angemessenen Ausgleich zwischen einer wirksamen Steuererhebung und den Rechtspositionen der Steuerpflichtigen zu schaffen. Einerseits ist ein indirektes Steuererhebungssystem über alle Transaktionsstufen unter gleichzeitiger Gewährung eines Vorsteuerabzugs besonders missbrauchsanfällig. Auch trägt der Mitgliedstaat ein gewisses Insolvenzrisiko für Steuerpflichtige mit Steuerrückständen, während deren Leistungsempfänger noch einen Vorsteuerabzug geltend machen können. Andererseits erlaubt dies den Mitgliedstaaten einen konstanten Mittelzufluss, geringe Erhebungskosten durch die Einschaltung der Privaten als Steuereinnehmer, eine hohe Kontrolldichte auch für andere Steuerarten und insgesamt einen relativ geringen Erhebungsaufwand.

2. Einige Mitgliedstaaten neigen derzeit dazu, die Vorteile des derzeitigen Mehrwertsteuersystems in Anspruch zu nehmen, die systemimmanenten Risiken aber dem Steuerpflichtigen aufzubürden. Es überrascht daher nicht, dass mehrwertsteuerrechtliche Vorlagen immer häufiger die Reichweite der Grundrechte des Steuerpflichtigen betreffen. Im konkreten Fall verlangt Ungarn von einem Unternehmen eine zusätzliche Sicherheit, wenn einer seiner leitenden Angestellten bis zu fünf Jahre zuvor bei einer anderen Gesellschaft in der gleichen Position tätig war, diese andere Gesellschaft Steuerschulden von mehr als ca. 2 500 Euro aufwies und aufgelöst wurde. Die Höhe der Sicherheit für die eigenen potenziellen Steuerschulden knüpft an die Höhe der Steuerschulden der anderen Gesellschaft an. Dieser Bescheid muss binnen acht Tagen angefochten werden. Ansonsten bleibt die Sicherheitsleistung bestehen, auch wenn der leitende Angestellte zeitnah entlassen wird. Ohne Sicherheitsleistung wird die Löschung der Steuernummer angeordnet, was einem Tätigkeitsverbot gleichkommt.

3. Offensichtlich soll damit verhindert werden, dass dieselben Personen immer wieder neue Gesellschaften gründen, mit diesen Steuerrückstände anhäufen und sie dann liquidieren, so dass Teile des Steueraufkommens ausfallen. Andererseits erfasst diese Regelung wohl auch Unternehmen, die zu dem liquidierten Unternehmen keinen näheren Bezug aufweisen. Auch scheint sie nicht vorauszusetzen, dass der leitende Angestellte den Steuerrückstand bei seinem früheren Arbeitgeber verursacht hat. Daher ist die Verhältnismäßigkeit dieser Regelung im Hinblick auf die damit verbundenen Eingriffe in die Grundrechte der Betroffenen näher zu untersuchen.

II. Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht

4. Der unionsrechtliche Rahmen ergibt sich aus Art. 16, 17, 47 und 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).(2)

5. Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht Möglichkeiten der Mitgliedstaaten zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung etc. vor:

„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen. …“

B. Ungarisches Recht

6. Im ungarischen Recht sind die §§ 19, 24, 26, 28 und 246 des Az adózás rendjéről szóló 2017. évi CL. törvény (Gesetz CL von 2017 über die Besteuerungsordnung, im Folgenden: Besteuerungsordnung) relevant.

7. Gemäß den genannten Bestimmungen der Besteuerungsordnung ist nach der Erteilung der Steuernummer eine Steuersicherheit zu stellen, wenn ein leitender Angestellter des Steuerpflichtigen zuvor die gleiche Position bei einem anderen Steuerpflichtigen innehatte, der innerhalb von fünf Jahren vor dem Tag des Antrags auf Erteilung einer Steuernummer mit Steuerschulden, die 1 Mio. Forint (HUF) (ca. 2 500 Euro) übersteigen, ohne Rechtsnachfolge aufgelöst wurde. Gegen den Bescheid über die Verpflichtung zur Leistung einer Steuersicherheit kann innerhalb von acht Tagen ab seiner Bekanntgabe ein Rechtsbehelf eingelegt werden, über den spätestens binnen 23 Tagen zu entscheiden ist. Dieser Rechtsbehelf hat für die Leistung der Steuersicherheit keine aufschiebende Wirkung.

8. Ebenfalls binnen acht Tagen kann der betroffene leitende Angestellte eine Befreiung von der Sicherheitsleistung beantragen, wenn – so die Ausführungen Ungarns in der mündlichen Verhandlung – drei Bedingungen erfüllt sind. Erstens muss die damalige Nichtbezahlung der Steuerschulden auf der Nichtbezahlung durch die Kunden beruhen, zweitens diese offenen Forderungen dem Betrag der Steuerschuld entsprechen oder diesen übersteigen und drittens der leitende Angestellte damals sorgfältig gehandelt haben. Über diesen Antrag ist binnen 30 Tagen zu entscheiden. Auch dieser Antrag auf Befreiung hat laut Auskunft Ungarns in der mündlichen Verhandlung keine aufschiebende Wirkung gegenüber der Anforderung der Sicherheitsleistung gegenüber dem Steuerpflichtigen. Wurde dieser abgelehnt und die Sicherheitsleistung in der Zwischenzeit nicht gezahlt, wird die Steuernummer gelöscht. Die Steuersicherheit ist auch dann noch zu leisten, wenn der betreffende leitende Angestellte nach der Bestandskraft des Bescheids, aber noch vor Ablauf der Zahlungsfrist das Unternehmen verlässt, so dass dadurch der Grund für die Steuersicherheit nicht mehr besteht.

9. Die Steuersicherheit für die eigenen zukünftigen Steuerschulden entspricht laut Auskunft Ungarns in der mündlichen Verhandlung der Höhe nach der offenen Steuerschuld des Steuerpflichtigen, bei dem der leitende Angestellte zuvor die gleiche Position innehatte und kann mittels Einmalzahlung oder Vorlage einer Bankgarantie geleistet werden. Die Frist für die Leistung beträgt 30 Tage ab Zustellung des Bescheids über die Verpflichtung zur Leistung einer Steuersicherheit. Dieser Betrag wird laut Auskunft Ungarns in der mündlichen Verhandlung nach zwölf Monaten zurückerstattet. Im Fall der Versäumung der Zahlungsfrist ist ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht zulässig. Leistet der Steuerpflichtige die Steuersicherheit nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist, ordnet die Steuerbehörde die Löschung seiner Steuernummer an.

10. Im Rahmen der Vorschriften über das Steuerregistrierungsverfahren sieht die Besteuerungsordnung vor, dass die Steuerbehörde die Erteilung einer Steuernummer verweigert, wenn ein leitender Angestellter des Steuerpflichtigen die gleiche Position bei einem anderen Steuerpflichtigen ausübt oder ausgeübt hat, der zum Zeitpunkt des Antrags auf Erteilung einer Steuernummer Steuerschulden in Höhe von mehr als 5 Mio. HUF (ca. 12 500 Euro) hat. In einem solchen Fall fordert die Steuerbehörde den Steuerpflichtigen auf, das Hindernis für die Erteilung einer Steuernummer innerhalb von 45 Tagen nach Zustellung der Aufforderung zu beseitigen. Kommt der Steuerpflichtige dieser Aufforderung nicht nach, ordnet die Steuerbehörde die Löschung seiner Steuernummer an.

11. Nach den §§ 3:17 und 3:190 des A Polgári Törvénykönyvről szóló 2013. évi V. törvény (Gesetz Nr. V von 2013 über das Bürgerliche Gesetzbuch, im Folgenden: Bürgerliches Gesetzbuch) sind die Gesellschafter unter Mitteilung der Tagesordnung zur Gesellschafterversammlung einzuladen. Zwischen dem Verschicken der Einladungen und dem Tag der Gesellschafterversammlung müssen mindestens 15 Tage liegen.

III. Sachverhalt und Vorabentscheidungsverfahren

12. Mit Bescheid vom 19. Dezember 2019 verpflichtete die Nemzeti Adó- és Vámhivatal Észak-Budapesti Adó- és Vámigazgatósága (Steuer- und Zolldirektion Budapest-Nord der nationalen Steuer- und Zollverwaltung, Ungarn, im Folgenden: Steuerbehörde) die Klägerin des Ausgangsverfahrens, die MAX7 Design Kft. (im Folgenden: Klägerin), eine Steuersicherheit in Höhe von 1 930 979 HUF (etwa 4 900 Euro) für etwaige spätere eigene Steuerschulden zu leisten. Diese Verpflichtung wurde damit begründet, dass einer der leitenden Angestellten der Klägerin zwischen dem 14. Februar 2017 und dem 2. Juni 2017 leitender Angestellter einer anderen Gesellschaft in Liquidation war, die mit einer Steuerschuld in Höhe der Steuersicherheit aufgelöst worden war.

13. Der Bescheid über die Verpflichtung zur Leistung einer Steuersicherheit wurde von der Steuerbehörde an die Klägerin und den betreffenden leitenden Angestellten gesandt. In beiden Fällen nahm der betreffende leitende Angestellte den Bescheid entgegen. Tag der Entgegennahme war der 21. Dezember 2019. Die Steuersicherheit hätte innerhalb von 30 Tagen nach dem Eingangsdatum, d. h. spätestens bis zum 20. Januar 2020, geleistet werden müssen. Ein Rechtsbehelf gegen den Bescheid hätte innerhalb von acht Tagen nach der Zustellung eingereicht werden müssen. Da dies nicht geschah, wurde der Bescheid am 31. Dezember 2019 bestandskräftig.

14. Am 7. Januar 2020 entließen die Gesellschafter der Klägerin den betreffenden leitenden Angestellten und ernannten an seiner Stelle einen...

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