Conclusiones del Abogado General Sr. P. Pikamäe, presentadas el 16 de marzo de 2023.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2023:222
Date16 March 2023
Celex Number62022CC0026
CourtCourt of Justice (European Union)

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PRIIT PIKAMÄE

vom 16. März 2023(1)

Verbundene Rechtssachen C26/22 und C64/22

UF (C26/22),

AB (C64/22)

gegen

Land Hessen,

Beteiligte:

SCHUFA Holding AG

(Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichts Wiesbaden [Deutschland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten – Verordnung (EU) 2016/679 – Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. f – Rechtmäßigkeit der Verarbeitung – Art. 17 Abs. 1 Buchst. d – Recht auf Löschung im Fall einer unrechtmäßigen Verarbeitung personenbezogener Daten – Art. 40 – Verhaltensregeln – Art. 77 Abs. 1 – Recht auf Beschwerde – Art. 78 Abs. 1 – Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen eine Aufsichtsbehörde – Art. 7 und 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Beschluss der Aufsichtsbehörde über eine Beschwerde – Umfang der gerichtlichen Überprüfung dieses Beschlusses – Private Wirtschaftsauskunftei – Speicherung von Daten aus einem öffentlichen Register – Berechtigtes Interesse – Dauer der Speicherung“






I. Einleitung

1. Die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichts Wiesbaden (Deutschland) nach Art. 267 AEUV betreffen die Auslegung der Art. 7 und 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie von Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. f, Art. 17 Abs. 1 Buchst. d, Art. 40, Art. 77 Abs. 1 und Art. 78 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung)(2) (im Folgenden: DSGVO).

2. Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von zwei Rechtsstreitigkeiten, die erste zwischen UF (Rechtssache C‑26/22) und dem Land Hessen (Deutschland), vertreten durch den Hessischen Beauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit (im Folgenden: HBDI), die zweite zwischen AB (Rechtssache C‑64/22) und ebenfalls dem HBDI, über Anträge von UF bzw. AB beim HBDI auf Löschung einer Eintragung betreffend eine Restschuldbefreiung bei der SCHUFA Holding AG (im Folgenden: SCHUFA).

3. Die beiden Rechtssachen werfen eine Vielzahl neuer Rechtsfragen auf, die u. a. die Rechtsnatur der Entscheidung der mit einer Beschwerde befassten Aufsichtsbehörde sowie den Umfang der gerichtlichen Kontrolle betreffen, die das Gericht im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine solche Entscheidung ausüben kann. Die Rechtssachen betreffen auch die Frage der Rechtmäßigkeit der Speicherung personenbezogener Daten aus öffentlichen Registern bei Wirtschaftsauskunfteien.

II. Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht

1. Verordnung (EU) 2015/848

4. Art. 79 Abs. 4 und 5 der Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren(3) bestimmt:

„(4) Es obliegt den Mitgliedstaaten gemäß der Richtlinie 95/46/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (ABl. 1995, L 281, S. 31)], Daten zu erheben und in nationalen Datenbanken zu speichern und zu entscheiden, diese Daten im vernetzten Register, das über das Europäische Justizportal eingesehen werden kann, zugänglich zu machen.

(5) Als Teil der Information, die betroffene Personen erhalten, um ihre Rechte und insbesondere das Recht auf Löschung von Daten wahrnehmen zu können, teilen die Mitgliedstaaten betroffenen Personen mit, für welchen Zeitraum ihre in Insolvenzregistern gespeicherten personenbezogenen Daten zugänglich sind.“

2. DSGVO

5. Art. 5 Abs. 1 DSGVO bestimmt:

„Personenbezogene Daten müssen

b) für festgelegte, eindeutige und legitime Zwecke erhoben werden und dürfen nicht in einer mit diesen Zwecken nicht zu vereinbarenden Weise weiterverarbeitet werden; … (,Zweckbindung‘);

…“

6. Art. 6 Abs. 1 DSGVO sieht vor:

„Die Verarbeitung ist nur rechtmäßig, wenn mindestens eine der nachstehenden Bedingungen erfüllt ist:

f) die Verarbeitung ist zur Wahrung der berechtigten Interessen des Verantwortlichen oder eines Dritten erforderlich, sofern nicht die Interessen oder Grundrechte und Grundfreiheiten der betroffenen Person, die den Schutz personenbezogener Daten erfordern, überwiegen …

…“

7. Art. 17 Abs. 1 DSGVO bestimmt:

„Die betroffene Person hat das Recht, von dem Verantwortlichen zu verlangen, dass sie betreffende personenbezogene Daten unverzüglich gelöscht werden, und der Verantwortliche ist verpflichtet, personenbezogene Daten unverzüglich zu löschen, sofern einer der folgenden Gründe zutrifft:

c) Die betroffene Person legt gemäß Artikel 21 Absatz 1 Widerspruch gegen die Verarbeitung ein und es liegen keine vorrangigen berechtigten Gründe für die Verarbeitung vor, oder die betroffene Person legt gemäß Artikel 21 Absatz 2 Widerspruch gegen die Verarbeitung ein.

d) Die personenbezogenen Daten wurden unrechtmäßig verarbeitet.

…“

8. Art. 21 Abs. 1 DSGVO bestimmt:

„Die betroffene Person hat das Recht, aus Gründen, die sich aus ihrer besonderen Situation ergeben, jederzeit gegen die Verarbeitung sie betreffender personenbezogener Daten, die aufgrund von Artikel 6 Absatz 1 Buchstaben e oder f erfolgt, Widerspruch einzulegen; dies gilt auch für ein auf diese Bestimmungen gestütztes Profiling. Der Verantwortliche verarbeitet die personenbezogenen Daten nicht mehr, es sei denn, er kann zwingende schutzwürdige Gründe für die Verarbeitung nachweisen, die die Interessen, Rechte und Freiheiten der betroffenen Person überwiegen, oder die Verarbeitung dient der Geltendmachung, Ausübung oder Verteidigung von Rechtsansprüchen.“

9. Art. 40 DSGVO bestimmt:

„(1) Die Mitgliedstaaten, die Aufsichtsbehörden, der Ausschuss und die Kommission fördern die Ausarbeitung von Verhaltensregeln, die nach Maßgabe der Besonderheiten der einzelnen Verarbeitungsbereiche und der besonderen Bedürfnisse von Kleinstunternehmen sowie kleinen und mittleren Unternehmen zur ordnungsgemäßen Anwendung dieser Verordnung beitragen sollen.

(2) Verbände und andere Vereinigungen, die Kategorien von Verantwortlichen oder Auftragsverarbeitern vertreten, können Verhaltensregeln ausarbeiten oder ändern oder erweitern, mit denen die Anwendung dieser Verordnung beispielsweise zu dem Folgenden präzisiert wird:

a) faire und transparente Verarbeitung;

b) die berechtigten Interessen des Verantwortlichen in bestimmten Zusammenhängen;

c) Erhebung personenbezogener Daten;

(5) Verbände und andere Vereinigungen gemäß Absatz 2 des vorliegenden Artikels, die beabsichtigen, Verhaltensregeln auszuarbeiten oder bestehende Verhaltensregeln zu ändern oder zu erweitern, legen den Entwurf der Verhaltensregeln bzw. den Entwurf zu deren Änderung oder Erweiterung der Aufsichtsbehörde vor, die nach Artikel 55 zuständig ist. Die Aufsichtsbehörde gibt eine Stellungnahme darüber ab, ob der Entwurf der Verhaltensregeln bzw. der Entwurf zu deren Änderung oder Erweiterung mit dieser Verordnung vereinbar ist[,] und genehmigt diesen Entwurf der Verhaltensregeln bzw. den Entwurf zu deren Änderung oder Erweiterung, wenn sie der Auffassung ist, dass er ausreichende geeignete Garantien bietet.

…“

10. Art. 77 Abs. 1 DSGVO sieht vor:

„Jede betroffene Person hat unbeschadet eines anderweitigen verwaltungsrechtlichen oder gerichtlichen Rechtsbehelfs das Recht auf Beschwerde bei einer Aufsichtsbehörde, insbesondere in dem Mitgliedstaat ihres gewöhnlichen Aufenthaltsorts, ihres Arbeitsplatzes oder des Orts des mutmaßlichen Verstoßes, wenn die betroffene Person der Ansicht ist, dass die Verarbeitung der sie betreffenden personenbezogenen Daten gegen diese Verordnung verstößt.“

11. Art. 78 DSGVO bestimmt:

„(1) Jede natürliche oder juristische Person hat unbeschadet eines anderweitigen verwaltungsrechtlichen oder außergerichtlichen Rechtsbehelfs das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen einen sie betreffenden rechtsverbindlichen Beschluss einer Aufsichtsbehörde.

(2) Jede betroffene Person hat unbeschadet eines anderweitigen verwaltungsrechtlichen oder außergerichtlichen Recht[s]behelfs das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf, wenn die nach den Artikeln 55 und 56 zuständige Aufsichtsbehörde sich nicht mit einer Beschwerde befasst oder die betroffene Person nicht innerhalb von drei Monaten über den Stand oder das Ergebnis der gemäß Artikel 77 erhobenen Beschwerde in Kenntnis gesetzt hat.

…“

B. Deutsches Recht

12. § 9 Abs. 1 der Insolvenzordnung in seiner für die Ausgangsrechtsstreitigkeiten maßgeblichen Fassung bestimmt:

„Die öffentliche Bekanntmachung erfolgt durch eine zentrale und länderübergreifende Veröffentlichung im Internet; diese kann auszugsweise geschehen. Dabei ist der Schuldner genau zu bezeichnen, insbesondere sind seine Anschrift und sein Geschäftszweig anzugeben. Die Bekanntmachung gilt als bewirkt, sobald nach dem Tag der Veröffentlichung zwei weitere Tage verstrichen sind.“

13. § 3 Abs. 1 und 2 der Verordnung zu öffentlichen Bekanntmachungen in Insolvenzverfahren im Internet (im Folgenden: InsBekV) lautet:

„(1) Die in einem elektronischen Informations- und Kommunikationssystem erfolgte Veröffentlichung von Daten aus einem Insolvenzverfahren einschließlich des Eröffnungsverfahrens wird spätestens sechs Monate nach der Aufhebung oder der Rechtskraft der Einstellung des Insolvenzverfahrens gelöscht. Wird das Verfahren nicht eröffnet, beginnt die Frist mit der Aufhebung der veröffentlichten Sicherungsmaßnahmen.

(2) Für die Veröffentlichungen im Restschuldbefreiungsverfahren einschließlich des Beschlusses nach § 289 der Insolvenzordnung gilt Absatz 1 Satz 1 mit der Maßgabe, dass die Frist mit Rechtskraft der Entscheidung über die Restschuldbefreiung zu laufen beginnt.“

III. Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

14. Im Rahmen der sie betreffenden Insolvenzverfahren wurde UF und AB mit gerichtlichen Beschlüssen vom 17. Dezember 2020...

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