Opinion of Advocate General Ćapeta delivered on 23 March 2023.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2023:243
Date23 March 2023
Celex Number62022CC0271
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

TAMARA ĆAPETA

vom 23. März 2023(1)

Verbundene Rechtssachen C271/22 bis C275/22

XT (C271/22)

KH (C272/22)

BX (C273/22)

FH (C274/22)

NW (C275/22)

gegen

Keolis Agen SARL,

Beteiligte:

Syndicat national des transports urbains SNTU-CFDT

(Vorabentscheidungsersuchen des Conseil de Prud’hommes d’Agen [Arbeitsgericht Agen, Frankreich])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Arbeitszeitgestaltung – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 31 Abs. 2 – Richtlinie 2003/88/EG – Art. 7 – Möglichkeit der Geltendmachung in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen – Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub – Übertragung bezahlten Jahresurlaubs aufgrund langfristiger Krankschreibung – Nationale Rechtsprechung, die die Übertragung von Urlaub ohne zeitliche Begrenzung zulässt“






I. Einleitung

1. Kann ein Arbeitnehmer Tage nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubs zeitlich unbegrenzt ansammeln, oder verpflichtet Art. 7 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie(2) die Mitgliedstaaten dazu, begrenzte Übertragungsfristen vorzusehen? Falls ja, was ist eine angemessene Dauer für eine solche Frist?

2. Dies sind die Hauptfragen, die das vorlegende Gericht, der Conseil de Prud’hommes d’Agen (Arbeitsgericht Agen, Frankreich), aufwirft. Darüber hinaus bittet das vorlegende Gericht um Klärung der unmittelbaren Wirkung der Arbeitszeitrichtlinie in horizontalen Situationen, da es sich bei der Beklagten des Ausgangsverfahrens um die private Betreiberin eines öffentlichen Verkehrsnetzes handelt.

3. Die vorliegende Rechtssache geht auf mehrere Vorabentscheidungsersuchen zurück, die im Rahmen von fünf Rechtsstreitigkeiten vor dem vorlegenden Gericht eingereicht wurden. Sämtliche dieser Rechtsstreitigkeiten betreffen Arbeitnehmer, die gegenwärtig oder früher bei der Keolis Agen SARL beschäftigt waren, dem Unternehmen, das das Busnetz für die Stadt Agen (Frankreich) und ihr Umland betreibt. Diese Arbeitnehmer forderten ihren Arbeitgeber auf, ihre Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub anzuerkennen, die sie für das Bezugsjahr, in dem diese Ansprüche entstanden sind, nicht geltend machen konnten, und riefen das vorlegende Gericht an, als der Arbeitgeber diese Ersuchen ablehnte. Eine Gewerkschaft, das Syndicat national des transports urbains SNTU-CFDT, ist dem Verfahren vor dem vorlegenden Gericht zur Unterstützung der Arbeitnehmer beigetreten.

II. Ausgangsverfahren, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

4. Keolis Agen ist ein privatrechtliches Unternehmen, das einen öffentlichen Personennahverkehr mit Bussen anbietet. Die fünf Kläger, die dieses Unternehmen vor dem vorlegenden Gericht verklagen, sind oder waren dessen Arbeitnehmer.

5. Im Verlauf ihrer jeweiligen Arbeitsverhältnisse waren alle Kläger über längere Zeiten krankgeschrieben(3). Nachdem sie ihre Arbeit wieder aufgenommen hatten bzw. ihre Arbeitsverhältnisse wegen Arbeitsunfähigkeit beendet worden waren, forderten die Kläger Keolis Agen auf, ihnen entweder die Tage des Jahresurlaubs, die ihnen während ihrer Krankheitszeiten verlustig gegangen seien, zu gewähren, oder ihnen – im Falle der Beendigung der Arbeitsverhältnisse – ersatzweise eine finanzielle Vergütung zu zahlen.

6. Keolis Agen lehnte diese Ersuchen ab. Unter Berufung auf den französischen Code du travail (Arbeitsgesetzbuch)(4) vertrat sie die Auffassung, dass die Kläger keinen Anspruch auf Jahresurlaub hätten, wenn sie wegen einer Krankheit, die nicht in Zusammenhang mit ihrer Arbeit stehe, mehr als ein Jahr nicht zur Arbeit erschienen seien. Dieses nationale Recht könne auch dann nicht unberücksichtigt gelassen werden, wenn es gegen Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie verstoße, da diese Richtlinie keine Verpflichtungen für Private begründe.

7. Keolis Agen macht geltend, dass ihr die Arbeitszeitrichtlinie aufgrund der Liberalisierung der Verkehrsdienste in Frankreich(5) nicht entgegengehalten werden könne. Zwar sei sie im Bereich der Erbringung öffentlicher Verkehrsdienste tätig, gleichwohl würde die Möglichkeit einer unmittelbaren Berufung auf die Arbeitszeitrichtlinie durch Arbeitnehmer ihre Wettbewerbsposition gegenüber anderen privatrechtlichen Unternehmen verschlechtern, die weiterhin dem französischen Recht und nicht der Richtlinie unterlägen.

8. Die Kläger sind der Ansicht, dass sie sich gegenüber ihrem Arbeitgeber auf Art. 7 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) berufen könnten und dass diese unionsrechtlichen Bestimmungen Ansprüche auf Jahresurlaub auch während der Zeiten längerer Krankheit für sie begründeten. Französisches Recht, das dem entgegenstehe, sei daher unberücksichtigt zu lassen.

9. Der Streit um die unmittelbare Wirkung der Arbeitszeitrichtlinie im vorliegenden Fall führte zur ersten Frage des vorlegenden Gerichts.

10. Die zweite und die dritte Frage werden relevant, wenn die Kläger Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub für die Bezugsjahre haben, in denen sie krankgeschrieben waren. Diese Fragen stellten sich, weil das französische Recht, so das vorlegende Gericht, keine Regelungen zu Übertragungsfristen für nicht genommenen Jahresurlaub treffe; es lege nicht fest, ob ein solcher Anspruch bestehe oder nicht. Aus den Vorlageentscheidungen und den Erklärungen der Parteien geht hervor, dass die beiden höchsten französischen Gerichte in dieser Frage widersprüchliche Standpunkte entwickelt haben. Einerseits legt die Rechtsprechung der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich)(6) nahe, dass es im französischen Recht keine Begrenzung für die Übertragung nicht wahrgenommener Ansprüche auf Jahresurlaub gibt. Andererseits scheint der Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) davon auszugehen, dass der Anspruch auf nicht genommenen Jahresurlaub 15 Monate nach Ende des Bezugsjahrs erlischt, in dem der Anspruch auf diesen bezahlten Jahresurlaub entstanden ist(7). Die zuletzt genannte Argumentation scheint sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu ergeben, wonach eine 15-monatige Frist nicht als Verstoß gegen die Arbeitszeitrichtlinie anzusehen ist(8).

11. Im Ausgangsverfahren möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht eine solche Verpflichtung zur Gewährung einer Übertragungsfrist enthält. Wenn dem so ist, möchte es zudem wissen, was eine „angemessene Frist“ darstellt, nach deren Ablauf der Anspruch auf Jahresurlaub verfallen kann. In diesem Zusammenhang führt es aus, dass die Ansprüche auf nicht genommenen Jahresurlaub im vorliegenden Fall alle innerhalb von 15 Monaten nach Ende des Bezugszeitraums, in dem diese Ansprüche entstanden sind, geltend gemacht wurden.

12. Keolis Agen ersuchte beim vorlegenden Gericht darum, dem Gerichtshof die streitigen Fragen vorzulegen. Die Kläger hielten diese Vorlage für unnötig und widersprachen diesem Ersuchen.

13. Unter diesen Umständen hat der Conseil de Prud’hommes d’Agen (Arbeitsgericht Agen, Frankreich) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen (die Fragen sind in allen fünf verbundenen Rechtssachen identisch):

1. Ist Art. 7 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie dahin auszulegen, dass er auf die Beziehungen zwischen einem privaten Verkehrsbetreiber, der lediglich mit der Erbringung öffentlicher Dienstleistungen betraut wurde, und seinen Arbeitnehmern unmittelbar anwendbar ist, und zwar insbesondere unter Berücksichtigung der Liberalisierung des Sektors des Schienenpersonenverkehrs?

2. Welche Übertragungsfrist ist für die im Sinne von Art. 7 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie erworbenen vier Wochen bezahlten Urlaubs angemessen, wenn der Bezugszeitraum für Ansprüche auf bezahlten Urlaub ein Jahr beträgt?

3. Verstößt es nicht gegen Art. 7 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie, wenn in Ermangelung einer nationalen gesetzlichen oder vertraglichen Bestimmung eine unbegrenzte Übertragungsfrist angewandt wird?

14. Die Kläger des Ausgangsverfahrens sowie das Syndicat national des transports urbains SNTU-CFDT (im Folgenden zusammen: Kläger), Keolis Agen, die französische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht. Eine mündliche Verhandlung hat nicht stattgefunden.

III. Würdigung

15. In den letzten Jahren hat die Zahl der beim Gerichtshof anhängig gemachten Rechtssachen im Zusammenhang mit bezahltem Jahresurlaub zugenommen(9).

16. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen bietet dem Gerichtshof eine weitere Gelegenheit, zu einem besseren Verständnis der Arbeitszeitrichtlinie beizutragen und auf seiner bisherigen Rechtsprechung zu diesem Thema aufzubauen.

17. Die Vorlagefragen lassen sich zweiteilen: in die erste Frage bezüglich des gefestigten Begriffs der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien (A) und in die Fragen zwei und drei, die ich gemeinsam beantworten werde, bezüglich der Übertragungsfristen für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub (B).

A. Zur unmittelbaren Wirkung der Arbeitszeitrichtlinie in horizontalen Situationen

18. Aus den Vorlageentscheidungen geht hervor, dass das französische Arbeitsgesetzbuch der Begründung eines Anspruchs auf Jahresurlaub durch Arbeitnehmer entgegensteht, die länger als ein Jahr krankgeschrieben sind und deren Krankheitszeit nicht in Zusammenhang mit ihrer Arbeit steht(10).

19. Dieses nationale Recht stünde im Widerspruch zu Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie in der Auslegung des Gerichtshofs. Dies folgt eindeutig aus dem Urteil in der Rechtssache Dominguez(11).

20. In dieser Rechtssache, die sich aus der Anwendung derselben französischen Bestimmungen ergab, stützte sich der Gerichtshof auf seine frühere Rechtsprechung(12) und entschied, dass die Arbeitszeitrichtlinie es nicht gestattet, den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub von der Bedingung abhängig zu machen, dass der Arbeitnehmer tatsächlich gearbeitet hat. Keinem Arbeitnehmer darf der Anspruch auf bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen...

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