Opinion of Advocate General Kokott delivered on 29 June 2023.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2023:534
Date29 June 2023
Celex Number62022CC0311
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 29. Juni 2023(1)

Rechtssache C311/22

Anklagemyndigheden

gegen

PO,

Moesgaard Meat 2012 A/S

(Vorabentscheidungsersuchen des Højesteret [Oberstes Gericht, Dänemark])

„Vorabentscheidungsersuchen – Richtlinie 2010/75 – Industrieemissionen – Integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung – Genehmigung – Betrieb von Schlachthäusern – Produktionskapazität – Schlachtkörper – Tägliche Produktionskapazität“






I. Einleitung

1. Wie ist zu beurteilen, ob ein Schlachthaus über eine Produktionskapazität von 50 t Schlachtkörpern pro Tag verfügt, die eine Genehmigung nach der Richtlinie über Industrieemissionen(2) erforderlich macht? Dies soll mit dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen geklärt werden.

2. Das streitgegenständliche Schlachthaus verfügte nämlich zunächst nicht über eine solche Genehmigung, weshalb das betreffende Unternehmen und sein Geschäftsführer mittlerweile strafrechtlich verfolgt werden. In diesem Strafverfahren ist streitig, wie die Kapazität des Schlachthauses beurteilt werden muss.

3. Dabei ist insbesondere zu klären, ob das Gewicht der Schlachtkörper vor oder nach der Zurichtung, also insbesondere nach dem Ausbluten und Ausweiden sowie der Entfernung von Hals und Kopf, für den Schwellenwert maßgeblich ist. Außerdem wird gefragt, wie die tägliche Kapazität festgestellt wird und inwiefern die tatsächliche Produktion bei der Feststellung der Kapazität berücksichtigt werden kann.

II. Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht

1. Richtlinie über Industrieemissionen

4. Die Richtlinie über Industrieemissionen fasst u. a. die Richtlinie 96/61/EG des Rates vom 24. September 1996 über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung(3) neu, die in Bezug auf die Genehmigungspflicht von Schlachthäusern weitgehend identische Regelungen enthielt.

5. Art. 3 Nr. 3 der Richtlinie über Industrieemissionen definiert den Begriff der Anlage wie folgt:

„eine ortsfeste technische Einheit, in der eine oder mehrere der in Anhang I oder Anhang VII Teil 1 genannten Tätigkeiten sowie andere unmittelbar damit verbundene Tätigkeiten am selben Standort durchgeführt werden, die mit den in den genannten Anhängen aufgeführten Tätigkeiten in einem technischen Zusammenhang stehen und die Auswirkungen auf die Emissionen und die Umweltverschmutzung haben können“.

6. Art. 4 der Richtlinie über Industrieemissionen sieht eine Genehmigungspflicht vor:

„(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass keine Anlage … ohne eine Genehmigung betrieben wird.

…“

7. Anhang I der Richtlinie über Industrieemissionen wird wie folgt eingeleitet:

„Die im Folgenden genannten Schwellenwerte beziehen sich allgemein auf Produktionskapazitäten oder Leistungen. …“

8. Anhang I Nr. 6.4 Buchst. a der Richtlinie über Industrieemissionen definiert den erfassten Betrieb von Schlachthäusern:

„Betrieb von Schlachthäusern mit einer Produktionskapazität von mehr als 50 t Schlachtkörper[n] pro Tag.“

2. Spezifische Regelungen zur Schlachtung

9. Zunächst hatte Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 64/433/EWG des Rates vom 26. Juni 1964 zur Regelung gesundheitlicher Fragen beim innergemeinschaftlichen Handelsverkehr mit frischem Fleisch(4) in der Fassung der Richtlinie 91/497/EWG des Rates vom 29. Juli 1991(5) den Begriff „Tierkörper“(6) wie folgt definiert:

„der ganze Tierkörper eines Schlachttieres nach dem Entbluten, Ausweiden und Abtrennen der Gliedmaßen in Höhe des Karpal- und Tarsalgelenks, des Kopfes, des Schwanzes und der Milchdrüse und bei Rindern, Schafen, Ziegen und Einhufern außerdem nach dem Enthäuten …“

10. Diese Regelung wurde durch die Verordnung (EG) Nr. 853/2004 mit spezifischen Hygienevorschriften für Lebensmittel tierischen Ursprungs(7) ersetzt.(8) Für die Definition des Begriffs „Schlachtkörper“ ist dieser Regelung zu entnehmen, dass er den Körper eines Tieres nach dem Schlachten und Zurichten („dressing“) bezeichnet (Anhang I, Nr. 1.9).

11. Präzisere Definitionen von Schlachtkörpern sind in Anhang IV der Verordnung (EU) Nr. 1308/2013(9) enthalten:

„A. Handelsklassenschema der Union für Schlachtkörper mindestens acht Monate alter Rinder

I. Begriffsbestimmungen

Es gelten die folgenden Begriffsbestimmungen:

1. ‚Schlachtkörper‘ ist der ganze Körper eines geschlachteten Tieres, nachdem er ausgeblutet, ausgeweidet und enthäutet wurde;

IV. Aufmachung

Die Schlachtkörper und Schlachtkörperhälften werden wie folgt aufgemacht:

a) ohne Kopf und Füße; der Kopf wird vom Schlachtkörper zwischen dem ersten Halswirbel und dem Hinterhauptbein, die Füße im Karpalgelenk oder im Tarsalgelenk abgetrennt;

b) ohne die Organe in der Brust- und Bauchhöhle, mit oder ohne Nieren, Nierenfettgewebe sowie Beckenfettgewebe;

c) ohne die Geschlechtsorgane und die dazugehörigen Muskeln, ohne das Gesäuge und das Euterfett.

B. Handelsklassenschema der Union für Schweineschlachtkörper

I. Begriffsbestimmung

Der Ausdruck ‚Schlachtkörper‘ bezeichnet den ganzen oder längs der Mittellinie geteilten Körper eines geschlachteten Schweins, ausgeblutet und ausgeweidet.

III. Aufmachung

Die Schlachtkörper werden ohne Zunge, Borsten, Klauenschuhen, Geschlechtsorgane, Flomen, Nieren und Zwerchfell aufgemacht.

C. Handelsklassenschema der Union für Schafschlachtkörper

I. Begriffsbestimmung

Die Begriffsbestimmungen ‚Schlachtkörper‘ und ‚Schlachtkörperhälfte‘ gemäß Teil A Abschnitt I dieses Anhangs finden Anwendung.

IV. Aufmachung

Die Schlachtkörper und Schlachtkörperhälften werden wie folgt aufgemacht: ohne Kopf (abgetrennt zwischen dem ersten Halswirbel und dem Hinterhauptbein), Füße (abgetrennt zwischen Kniegelenk und Mittelhand bzw. zwischen dem Hessegelenk und dem Metatarsus), Schwanz (abgetrennt zwischen dem sechsten und siebten Schwanzwirbel), Euter, Geschlechtsorgane, Leber und Geschlinge. Die Nieren und das Nierenfett gehören zum Schlachtkörper.“

B. Dänisches Recht

12. Dänemark hat die Richtlinie über Industrieemissionen durch das Lov om miljøbeskyttelse (in der aktuellen Fassung: Bekanntmachung Nr. 100 vom 19. Januar 2022, im Folgenden: dänisches Umweltschutzgesetz) und die Bekanntmachung zur Genehmigung aufgelisteter Tätigkeiten (Bekendtgørelse om godkendelse af listevirksomhed; in der aktuellen Fassung: Bekanntmachung Nr. 2080 vom 15. November 2021, im Folgenden: Genehmigungsbekanntmachung) ohne zusätzliche Präzisierung hinsichtlich des Schwellenwerts für Schlachthäuser umgesetzt.

13. Aus § 110 Abs. 2 des dänischen Umweltschutzgesetzes in Verbindung mit Abs. 1 Nr. 6 und teilweise Abs. 4 geht hervor, dass derjenige, der einen Betrieb ohne Genehmigung betreibt, mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft werden kann, falls durch den Verstoß ein Umweltschaden entstanden ist.

14. Die dänische Bekanntmachung über die Produktionsabgabe bei Schlachtung und Ausfuhr von Schweinen (Bekendtgørelse om produktionsafgift ved slagtning og eksport af svin) (in der aktuellen Fassung: Bekanntmachung Nr. 2183 vom 26. November 2021, im Folgenden: Bekanntmachung über die Produktionsabgabe) bestimmt, dass für jedes Schwein, das in Dänemark produziert, geschlachtet und im Rahmen amtlicher Kontrolle uneingeschränkt als für den menschlichen Verzehr geeignet anerkannt wird, eine Abgabe zu entrichten ist. Festgesetzt werden die Abgabensätze pro Schwein basierend auf dem abgewogenen Schlachtgewicht, worunter das Gewicht eines Schweinekörpers mit Kopf und Zehen, aber ohne Bauchfett („Flomme“), im warmen Zustand bei der Schlachtung verstanden wird.

III. Sachverhalt und Vorabentscheidungsersuchen

15. Die Moesgaard Meat 2012 A/S betrieb von 2014 bis 2016 ein Schlachthaus, ohne über eine Genehmigung nach dem dänischen Umweltschutzgesetz zu verfügen. Eine solche Genehmigung erhielt die Gesellschaft erst am 9. Mai 2018, nachdem sie bestimmte Auflagen der Umweltbehörden erfüllt hatte.

16. Daher wurden Moesgaard Meat und ihr Geschäftsführer PO angeklagt, dadurch gegen das dänische Umweltschutzgesetz verstoßen zu haben, dass das Unternehmen in dem vorgenannten Zeitraum ohne umweltrechtliche Genehmigung ein Schlachthaus mit einer Produktion von mehr als 50 t Schlachtkörpern pro Tag betrieben habe, wodurch die Gefahr eines Schadens für die Umwelt entstanden sei.

17. In diesem Strafverfahren streiten die Beteiligten darüber, ob das Gewicht der Schlachtkörper anhand des Gewichts der zu verarbeitenden Tiere, des „Rohmaterials“, bestimmt wird oder anhand des Endprodukts, d. h. der Körper ohne Kopf, die sich in einem eingefrorenen (ausgebluteten) Zustand befinden. Sie streiten auch darüber, ob bei der Berechnung der Produktion pro Tag nur die Tage der Schlachtung als solcher oder auch Tage zu berücksichtigen sind, an denen andere Arbeiten mit Bezug auf die Schlachtung durchgeführt werden. Und schließlich streiten sie darüber, ob bei der Berechnung der Kapazität eines Schlachtbetriebs sein Produktionsvolumen ausschlaggebend sein kann, wenn dieses Volumen aufgrund illegaler Maßnahmen, hier der Verwendung zusätzlicher Kühlcontainer, höher ist als die Kapazität der Anlage ohne diese illegalen Maßnahmen.

18. Dieses Verfahren ist nunmehr in dritter Instanz beim Højesteret (Oberstes Gericht, Dänemark) anhängig, der die folgenden Fragen an den Gerichtshof richtet:

1) Ist Anhang I Nr. 6.4 Buchst. a der Richtlinie über Industrieemissionen dahin auszulegen, dass die „Produktion… von … Schlachtkörper[n]“ den Schlachtungsvorgang erfasst, der vom Verbringen des Tieres aus dem Stall, seiner Betäubung und Tötung bis zum Vorliegen großer Standardangebotsformen stattfindet, so dass das Gewicht des Schlachttieres zu berechnen ist, bevor Hals und Kopf abgetrennt und die Organe und Eingeweide entfernt werden, oder erfasst die „Produktion… von … Schlachtkörper[n]“ die Produktion von Schweineschlachtkörpern, nachdem die Organe und Eingeweide entfernt und Hals und Kopf abgetrennt worden sind und nach dem Ausbluten und Einfrieren, so dass das Gewicht des...

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