Conclusiones del Abogado General Sr. J. Richard de la Tour, presentadas el 14 de diciembre de 2023.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2023:995
Date14 December 2023
Celex Number62022CC0687
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JEAN RICHARD DE LA TOUR

vom 14. Dezember 2023(1)

Rechtssache C687/22

Julieta,

Rogelio

gegen

Agencia Estatal de la Administración Tributaria

(Vorabentscheidungsersuchen der Audiencia Provincial de Alicante [Provinzgericht Alicante, Spanien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Insolvenzverfahren – Umstrukturierungsplan – Richtlinie (EU) 2019/1023 – Ausschluss öffentlich-rechtlicher Forderungen – Rechtswirkungen von Richtlinien – Verpflichtung, die Erreichung des in der Richtlinie vorgeschriebenen Zieles nicht ernstlich zu gefährden“






I. Einleitung

1. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs‑, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz)(2).

2. Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen zwei zahlungsunfähig gewordenen natürlichen Personen (im Folgenden: Schuldner) und der Agencia Estatal de Administración Tributaria (staatliche Steuerverwaltung, Spanien) (im Folgenden: AEAT) wegen eines von den Schuldnern in ihrem Insolvenzverfahren gestellten Antrags auf Entschuldung. Die AEAT wandte sich gegen die Entschuldung hinsichtlich der Steuerforderung.

3. Diese Rechtssache gibt dem Gerichtshof Gelegenheit, den Handlungsspielraum zu klären, über den die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2019/1023 verfügen. Diese Vorschrift sieht vor, dass bestimmte Schuldenkategorien von der vollen Entschuldung ausgeschlossen werden können.

4. In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich nach meiner Würdigung vorschlagen, der Audiencia Provincial de Alicante (Provinzgericht Alicante, Spanien), dem vorlegenden Gericht, zu antworten, dass die Mitgliedstaaten den Ausschluss öffentlich-rechtlicher Forderungen von der vollen Entschuldung vorsehen können, sofern dies ausreichend gerechtfertigt ist.

II. Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht

5. Art. 23 („Ausnahmeregelungen“) Abs. 4 der Richtlinie 2019/1023 sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten können bestimmte Schuldenkategorien von der Entschuldung ausschließen, den Zugang zur Entschuldung beschränken oder eine längere Entschuldungsfrist festlegen, wenn solche Ausschlüsse, Beschränkungen oder längeren Fristen ausreichend gerechtfertigt sind, etwa im Falle von

a) besicherten Schulden,

b) aus strafrechtlichen Sanktionen entstandenen oder damit in Verbindung stehenden Schulden,

c) aus deliktischer Haftung entstandenen Schulden,

d) Schulden bezüglich Unterhaltspflichten, die auf einem Familien‑, Verwandtschafts- oder eherechtlichen Verhältnis oder auf Schwägerschaft beruhen,

e) Schulden, die nach dem Antrag auf ein zu einer Entschuldung führendes Verfahren oder nach dessen Eröffnung entstanden sind, und

f) Schulden, die aus der Verpflichtung, die Kosten des zur Entschuldung führenden Verfahrens zu begleichen, entstanden sind.“

6. Aus dem Wortlaut von Art. 34 Abs. 1 und 2 sowie Art. 35 dieser Richtlinie ergibt sich, dass diese Richtlinie am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft getreten ist und dass die Umsetzungsfrist am 17. Juli 2021 abgelaufen ist, wobei diese Frist im Fall besonderer Schwierigkeiten um ein Jahr verlängert werden kann. Dem Königreich Spanien wurde diese Fristverlängerung gewährt.

B. Spanisches Recht

7. Mit dem Real Decreto-ley 1/2015 de mecanismo de segunda oportunidad, reducción de carga financiera y otras medidas de orden social (Real Decreto-ley 1/2015 über den Mechanismus der zweiten Chance, die Verringerung der finanziellen Belastung und andere Maßnahmen sozialer Art)(3) vom 27. Februar 2015 wurde die Ley 22/2003 Concursal (Konkursgesetz 22/2003)(4) vom 9. Juli 2003 (im Folgenden: Konkursgesetz) dahin geändert, dass ein neuer Art. 178bis eingeführt wurde, um den Zugang zur Entschuldung zu regeln. Mit dieser Vorschrift wurde ein zweistufiges System eingeführt, bei dem der Schuldner zwischen einer sofortigen Entschuldung (Art. 178bis Abs. 3 Nr. 4) und einer Entschuldung über einen Zeitraum von fünf Jahren mit Zahlungsplan wählen kann (Art. 178bis Abs. 3 Nr. 5). Zur späteren Entschuldung mit Zahlungsplan sah Art. 178bis Abs. 5 Nr. 1 des Konkursgesetzes vor:

„Die den in Abs. 3 Nr. 5 genannten Schuldnern gewährte Entschuldung erstreckt sich auf den nicht befriedigten Teil der folgenden Forderungen:

1. Gewöhnliche und nachrangige Forderungen, die zum Zeitpunkt der Beendigung des Kollektivverfahrens offen sind, auch wenn sie nicht angemeldet wurden, mit Ausnahme von öffentlich-rechtlichen Forderungen und Unterhaltsforderungen.“

8. Mit dem Real Decreto Legislativo 1/2020 por el que se aprueba el texto refundido de la Ley Concursal (Real Decreto Legislativo 1/2020 über die Annahme der Neufassung des Konkursgesetzes)(5) vom 5. Mai 2020 (im Folgenden: Neufassung des Konkursgesetzes) wurde das Konkursgesetz erneut geändert, indem Art. 178bis des Konkursgesetzes durch ein neues Kapitel dieses Gesetzes ersetzt wurde und darin öffentlich-rechtliche Forderungen sowohl vom Bereich der sofortigen als auch vom Bereich der späteren Entschuldung ausgeschlossen wurden.

9. Art. 491 Abs. 1 der Neufassung des Konkursgesetzes sah vor:

„Sind die Masseverbindlichkeiten sowie die bevorrechtigten Insolvenzforderungen vollständig befriedigt worden und hat der Schuldner, der die Voraussetzungen hierfür erfüllt, zuvor eine außergerichtliche Zahlungsvereinbarung getroffen, so erstreckt sich die Entschuldung auf alle unbefriedigten Forderungen, mit Ausnahme von öffentlich-rechtlichen Forderungen und Unterhaltsforderungen.“

10. Art. 497 Abs. 1 Nr. 1 der Neufassung des Konkursgesetzes bestimmte:

„Die Entschuldung, die Schuldnern gewährt wird, die sich einem Zahlungsplan unterworfen haben, erstreckt sich auf den Teil der folgenden Forderungen, der nach dem Zahlungsplan unbefriedigt bleibt:

1. Gewöhnliche und nachrangige Forderungen, die zum Zeitpunkt der Beendigung des Insolvenzverfahrens offen sind, auch wenn sie nicht angemeldet wurden, mit Ausnahme von öffentlich-rechtlichen Forderungen und Unterhaltsforderungen.“

11. Mit der Ley 16/2022 de reforma del texto refundido de la Ley Concursal, aprobado por el Real Decreto Legislativo 1/2020, de 5 de mayo, para la transposición de la [Directiva 2019/1023] (Gesetz 16/2022 zur Änderung der Neufassung des Konkursgesetzes, angenommen durch [das Real Decreto Legislativo 1/2020] zur Umsetzung der [Richtlinie 2019/1023](6) vom 5. September 2022 (im Folgenden: Gesetz 16/2022), wurde die Neufassung des Konkursgesetzes geändert, allerdings der Ausschluss öffentlich-rechtlicher Forderungen sowohl vom Bereich der sofortigen als auch vom Bereich der späteren Entschuldung bestätigt. Der neue Wortlaut von Art. 489 Abs. 1 Nr. 5 der Neufassung des Konkursgesetzes sieht vor:

„Die Entschuldung erstreckt sich auf alle nicht beglichenen Schulden mit Ausnahme folgender:

5. Schulden aus öffentlich-rechtlichen Forderungen. Ist jedoch für die Beitreibung der Schulden die [AEAT] zuständig, so ist eine Entschuldung bis zu einem Höchstbetrag von 10 000 Euro pro Schuldner möglich; für die ersten 5 000 Euro der Schulden umfasst die Entschuldung den gesamten Betrag und ab diesem Betrag umfasst die Entschuldung 50 % der Schulden bis zu dem genannten Höchstbetrag. Ebenso ist eine Entschuldung in Bezug auf Schulden bei der Sozialversicherung in gleicher Höhe und unter den gleichen Bedingungen möglich. Die Entschuldung erfolgt bis zur oben genannten Obergrenze in umgekehrter Reihenfolge der in diesem Gesetz festgelegten Rangfolge und in jeder Klasse nach Maßgabe der Fälligkeit.“

12. Die Präambel des Gesetzes 16/2022 sieht in Abschnitt IV u. a. vor:

„Die Richtlinie 2019/1023 verpflichtet alle Mitgliedstaaten, einen Mechanismus der zweiten Chance einzurichten, um zu verhindern, dass Schuldner versucht sind, in andere Länder abzuwandern, die diese Mechanismen bereits vorsehen, was Kosten sowohl für den Schuldner als auch für seine Gläubiger mit sich bringen würde. Gleichzeitig wird die Homogenisierung in diesem Punkt als wesentlich für das Funktionieren des europäischen Binnenmarkts angesehen.

Es werden zwei Modalitäten der Entschuldung eingeführt: die Entschuldung mit Liquidation der aktiven Masse und die Entschuldung mit Zahlungsplan. …

Die Entschuldung erstreckt sich auf alle Forderungen im Rahmen des Kollektivverfahrens und auf alle Masseforderungen. Die Ausnahmen gründen sich in bestimmten Fällen auf die besondere Bedeutung ihrer Befriedigung für eine gerechte und solidarische sowie auf der Rechtsstaatlichkeit beruhende Gesellschaft (z. B. Unterhaltsschulden, Schulden aus öffentlich-rechtlichen Forderungen, Schulden aus Straftaten oder auch Schulden aus deliktischer Haftung). So unterliegt die Entschuldung im Zusammenhang mit öffentlich-rechtlichen Schulden bestimmten Beschränkungen und ist nur bei der erstmaligen Entschuldung und nicht in weiterer Folge möglich. …“

III. Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen

13. Die Schuldner stellten in dem gegen sie geführten Insolvenzverfahren am 3. März 2021 einen Antrag auf Entschuldung, gegen den sich die AEAT hinsichtlich ihrer Forderung in Höhe von 192 366,21 Euro wandte, die sie für eine bevorrechtigte öffentlich-rechtliche Forderung hält.

14. Am 30. Juli 2021 beendete der Juzgado de Primera Instancia n.º 1 de Dénia (Gericht erster Instanz Nr. 1 Dénia, Spanien) dieses Insolvenzverfahren und gewährte den Schuldnern mit Ausnahme der öffentlich-rechtlichen Forderungen und der Unterhaltsforderungen eine Entschuldung.

15. Gegen diesen Beschluss legten die Schuldner bei der Audiencia Provincial de Alicante (Provinzgericht Alicante) Berufung ein.

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