Die EU-Strafverfahrensrechtsrichtlinien vor deutschen Gerichten

Date21 April 2017
Year2017
AuthorThomas Wahl
Pages52
DOIhttps://doi.org/10.30709/eucrim-2017-007

Mission completed“ könnte man sagen, nachdem der EU Gesetzgeber den Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten in Strafverfahren aus dem Jahre 2009 „abgearbeitet“ hat.1 Erst Fahrt aufgenommen hat dagegen die Rechtsprechung des EuGH zu den entsprechenden Legislativakten, insbesondere zu den ersten beiden Richtlinien 2010/64 (im Folgenden: „RL Übersetzung“) und 2012/13 (im Folgenden: „RL Belehrung“). Die ersten Verfahren vor dem EuGH zur Auslegung und praktischen Anwendung dieser beiden Richtlinien im Strafverfahren wurden durch Vorabentscheidungsersuchen deutscher Gerichte angestrengt.

Verfahrensgegenstand war das deutsche Strafbefehlsverfahren. Das Strafbefehlsverfahren erlaubt es, Fälle minder schwerer Kriminalität schnell und unkompliziert abzuschließen. Auf der ersten Stufe ist es ein schriftliches Verfahren, ohne dass dem Beschuldigten rechtliches Gehör gewährt werden muss. Er kann jedoch eine Hauptverhandlung und damit ein kontradiktorisches Verfahren erzwingen, wenn er innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des Strafbefehls Einspruch einlegt. Wird kein Einspruch innerhalb der Frist eingelegt, wird der Strafbefehl rechtskräftig und vollstreckbar. Der Strafbefehl wird auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom Richter am Amtsgericht erlassen. Die Sanktionsmöglichkeiten eines Strafbefehls sind nicht unbeachtlich, u.a. können Geldstrafe, Verfall, Einziehung, Geldbuße gegen juristische Personen, Fahrverbot und Entziehung der Fahrerlaubnis (bei Sperre bis 2 Jahren) festgesetzt werden.2 Im Folgenden werden die Verfahren der deutschen Gerichte vor dem EuGH und die darin begründeten Rechtsprobleme skizziert.

Episode 1: Das Verfahren in der Rs. Covaci

Probleme entstehen, wenn Strafbefehlsverfahren gegen ausländische Beschuldigte durchgeführt werden, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind und in Deutschland keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt haben. Das Amtsgericht Laufen hegte erstens Zweifel, ob § 184 GVG, wonach schriftliche Eingaben, wie der Einspruch, auf Deutsch abzufassen sind, mit den Verpflichtungen aus der RL Übersetzung vereinbar sind. Zweitens war unklar, ob das deutsche Zustelllungsrecht, welches bei den besagten ausländischen Beschuldigten mit Zustellungsbevollmächtigten und –fiktionen operiert, mit der RL Belehrung in Einklang steht.3

Hinsichtlich der ersten Frage, ob ein nicht in deutscher Sprache abgefasster Einspruch übersetzt werden muss, entschied der EuGH, dass sich weder aus Art. 2 – d.h. dem Recht, Dolmetschleistungen während des Strafverfahrens zu erhalten – noch aus Art. 3 Abs. 1 und 2 – d.h. dem Recht auf schriftliche Übersetzung wesentlicher Unterlagen des Strafverfahrens – der RL 2010/64 ein Anspruch auf Übersetzung in die Verfahrenssprache des Gerichts ergebe. Der EuGH stellte maßgeblich darauf ab, dass die besagten Verpflichtungen aus der RL die Übersetzung in der Verfahrenssprache abgefasster Dokumente in die Sprache, die der Beschuldigte versteht, regelt, also die Übersetzung „aus“ der Sprache des Gerichts. Allerdings überließ der EuGH dem Vorlagegericht die Einordnung, ob der Einspruch gegen einen Strafbefehl als „weiteres wesentliches Dokument“ i.S.v. Art. 3 Abs. 3 der RL anzusehen ist. Die Regelung stellt eine Art Generalklausel dar, nach der das erkennende Gericht ermessensfehlerfrei entscheiden kann, ob andere als die in der RL aufgezählten Dokumente „wesentlich“ und damit zu übersetzen sind.

Zum Verständnis der zweiten Frage ist die deutsche Praxis relevant, die von im Inland nicht wohnhaften Ausländern im Falle von Verstößen, die nur mit Geldstrafe geahndet werden, eine Sicherheitsleistung sowie die Benennung eines im Gerichtsbezirk wohnenden Zustellungsbevollmächtigten (welcher auch ein Angehöriger des Gerichts sein kann) verlangt. Der EuGH hat das Konzept des Zustellungsbevollmächtigten zwar nicht angetastet, allerdings der bisher allgemeinen Auffassung einen Riegel vorgeschoben, dass Fristen bereits mit Zustellung an den Bevollmächtigten beginnen. Zunächst stellt der EuGH fest, dass die Zustellung des Strafbefehls als eine Form der Unterrichtung über den Tatvorwurf anzusehen sei. Damit greift auch die Verpflichtung aus Art. 6 Abs. 1 und 3 der RL Belehrung, wonach die Mitgliedsstaaten detaillierte Informationen über den Tatvorwurf spätestens bei Vorlage der Anklageschrift, zu erteilen haben, wobei die Unterrichtung unter der Maßgabe steht, dass ein faires...

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