Dyrektor Krajowej Informacji Skarbowej v P. w W.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2023:312
Date20 April 2023
Docket NumberC-282/22
Celex Number62022CJ0282
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer)

20. April 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 14, 15 und 24 – Ladepunkte für Elektrofahrzeuge – Bereitstellung von Vorrichtungen zum Aufladen von Elektrofahrzeugen, Lieferung der erforderlichen Elektrizität sowie Leistung von technischer Unterstützung und von IT‑Diensten – Einstufung als ‚Lieferung von Gegenständen‘ oder ‚Dienstleistung‘“

In der Rechtssache C‑282/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) mit Entscheidung vom 23. Februar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 26. April 2022, in dem Verfahren

Dyrektor Krajowej Informacji Skarbowej

gegen

P. w W.,

Beteiligter:

Rzecznik Małych i Średnich Przedsiębiorców,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten D. Gratsias (Berichterstatter) sowie der Richter M. Ilešič und I. Jarukaitis,

Generalanwältin: T. Ćapeta,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– des Dyrektor Krajowej Informacji Skarbowej, vertreten durch B. Kołodziej, D. Pach und T. Wojciechowski,

– des Rzecznik Małych i Średnich Przedsiębiorców, vertreten durch P. Chrupek, Radca prawny,

– der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

– der tschechischen Regierung, vertreten durch O. Serdula, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Armenia und U. Małecka als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 14 Abs. 1 und Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2009/162/EU des Rates vom 22. Dezember 2009 (ABl. 2010, L 10, S. 14) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2006/112).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Dyrektor Krajowej Informacji Skarbowej (Direktor der nationalen Steuerinformationsbehörde, Polen) (im Folgenden: Steuerbehörde) und P. w W. wegen eines Antrags auf Aufhebung eines Steuervorbescheids vom 16. Mai 2017 (im Folgenden: Steuervorbescheid).

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2006/112

3 In Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 heißt es:

„Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:

a) Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt;

c) Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt;

…“

4 Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:

„Als ‚Lieferung von Gegenständen‘ gilt die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen.“

5 Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 lautet:

„Einem körperlichen Gegenstand gleichgestellt sind Elektrizität, Gas, Wärme oder Kälte und ähnliche Sachen.“

6 Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:

„Als ‚Dienstleistung‘ gilt jeder Umsatz, der keine Lieferung von Gegenständen ist.“

Richtlinie 2014/94/EU

7 Art. 4 Abs. 8 der Richtlinie 2014/94/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2014 über den Aufbau der Infrastruktur für alternative Kraftstoffe (ABl. 2014, L 307, S. 1) lautet:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Betreiber von öffentlich zugänglichen Ladepunkten von jedem Elektrizitätsversorgungsunternehmen in der Union – vorbehaltlich der Zustimmung des Versorgungsunternehmens – ungehindert Strom beziehen können. Die Betreiber von Ladepunkten dürfen den Kunden Leistungen zum Aufladen von Elektrofahrzeugen auf der Grundlage eines Vertrags, auch im Namen und Auftrag anderer Dienstleister, erbringen.“

Polnisches Recht

8 Art. 7 Abs. 1 der Ustawa o podatku od towarów i usług (Gesetz über die Steuer auf Gegenstände und Dienstleistungen) vom 11. März 2004 (Dz. U., Nr. 54, Position 535) in ihrer auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) bestimmt:

„Als Lieferung von Gegenständen im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Nr. 1 gilt die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über die Gegenstände zu verfügen …“

9 Art. 8 Abs. 1 des Mehrwertsteuergesetzes sieht vor:

„Als Dienstleistung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Nr. 1 gilt jede Leistung an eine natürliche Person, eine juristische Person oder eine nicht rechtsfähige Organisationseinheit, die keine Lieferung von Gegenständen im Sinne von Art. 7 ist …“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

10 P. w W. beabsichtigt, eine Tätigkeit auszuüben, die in der Errichtung und dem Betrieb von öffentlich zugänglichen Ladestationen für Elektrofahrzeuge besteht. Diese Ladestationen würden mit sogenannten Multistandard-Ladegeräten ausgestattet, die sowohl über Schnellladeanschlüsse mit Gleichstrom als auch über Langsamladeanschlüsse mit Wechselstrom verfügten. Die normale Ladezeit eines Elektrofahrzeugs auf 80 % der Batteriekapazität mittels Schnellladeanschlüssen werde etwa 20 bis 30 Minuten betragen. Die Ladezeit eines Fahrzeugs mittels Langsamladeanschlüssen werde etwa vier bis sechs Stunden betragen.

11 Der den Nutzern in Rechnung gestellte Preis werde insbesondere von der Ladezeit, ausgedrückt in Stunden für Langsamladeanschlüsse bzw. in Minuten für Schnellladeanschlüsse, sowie von der von dem betreffenden Nutzer gewählten Art des Anschlusses abhängen. Die Zahlungen könnten nach jedem Ladevorgang oder am Ende eines vereinbarten Abrechnungszeitraums geleistet werden, ohne dass die Möglichkeit ausgeschlossen werde, ein System einzurichten, das den Kauf von Guthaben ermögliche, die in einer elektronischen Geldbörse angesammelt werden und zum Aufladen des betreffenden Elektrofahrzeugs verwendet werden könnten.

12 Die bei jedem Ladevorgang erbrachte Leistung könne grundsätzlich je nach dem Bedarf des betreffenden Nutzers folgende Umsätze umfassen:

– Bereitstellung von Ladevorrichtungen, einschließlich der Verbindung des Ladegeräts mit dem Betriebssystem des Fahrzeugs,

– Übertragung von Elektrizität mit entsprechend angepassten Parametern an die Batterie des Elektrofahrzeugs sowie

– notwendige technische Unterstützung.

13 P. w W. beabsichtige auch, eine spezielle Plattform, Website oder Anwendungssoftware bereitzustellen, über die die jeweiligen Nutzer einen bestimmten Anschluss reservieren und den Verlauf der getätigten Umsätze und der erfolgten Zahlungen einsehen könnten.

14 Für alle diese Leistungen werde P. w W. einen einheitlichen Preis in Rechnung stellen.

15 P. w W. beantragte bei der Steuerbehörde die Erteilung eines Steuervorbescheids, mit dem bescheinigt werde, dass es sich bei der geplanten Tätigkeit um eine „Dienstleistung“ im Sinne von Art. 8 des Mehrwertsteuergesetzes handele.

16 In dem Steuervorbescheid vertrat die Steuerbehörde die Auffassung, dass die Lieferung der für das Aufladen eines Elektrofahrzeugs erforderlichen Elektrizität als die Hauptleistung anzusehen sei, während die anderen von P. w W. angebotenen (Dienst‑)Leistungen als Nebenleistungen anzusehen seien. Daraus folge, dass die Bereitstellung von Geräten, die ein rasches Aufladen von Elektrofahrzeugen ermöglichten, durch P. w W. nicht als der dominierende Bestandteil des betreffenden Umsatzes anzusehen sei und dass das Aufladen des Fahrzeugs nicht von untergeordneter Bedeutung sei.

17 Auf eine Klage von P. w W. hob der Wojewódzki Sąd Administracyjny w Warszawie (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Warschau, Polen) mit Urteil vom 6. Juni 2018 den Steuervorbescheid auf. Dieses Gericht meinte, die primäre...

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