Eurecna SpA v European Commission.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:T:2023:398
Date12 July 2023
Docket NumberT-377/21
Celex Number62021TJ0377
CourtGeneral Court (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTS (Neunte Kammer)

12. Juli 2023(*)

„Zugang zu Dokumenten – Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 – Abschlussbericht des OLAF über seine Untersuchung zur Erfüllung eines durch den EEF finanzierten Dienstleistungsvertrags – Verweigerung des Zugangs – Ausnahmeregelung zum Schutz des Entscheidungsprozesses – Ausnahmeregelung zum Schutz des Zwecks von Inspektions‑, Untersuchungs- und Audittätigkeiten – Allgemeine Vermutung – Begründungspflicht“

In der Rechtssache T‑377/21,

Eurecna SpA mit Sitz in Venedig (Italien), vertreten durch Rechtsanwalt R. Sciaudone,

Klägerin,

gegen

Europäische Kommission, vertreten durch C. Ehrbar und A. Spina als Bevollmächtigte,

Beklagte,

erlässt

DAS GERICHT (Neunte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten L. Truchot sowie der Richterinnen R. Frendo und T. Perišin (Berichterstatterin),

Kanzler: V. Di Bucci,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

aufgrund des Umstands, dass keine der Parteien innerhalb von drei Wochen nach Bekanntgabe des Abschlusses des schriftlichen Verfahrens die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung beantragt hat, und der Entscheidung gemäß Art. 106 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichts, ohne mündliches Verfahren zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1 Mit ihrer Klage nach Art. 263 AEUV begehrt die Klägerin, die Eurecna SpA, die Nichtigerklärung des Beschlusses des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) vom 26. April 2021, mit dem dieses ihr nach Abschluss der Untersuchung OC/2019/0766/B4 den Zugang zu seinem Abschlussbericht und dessen Anhängen verweigert hat (im Folgenden: angefochtener Beschluss).

Vorgeschichte des Rechtsstreits

2 Die Klägerin ist ein Unternehmen, das im Bereich der Erbringung von IT‑Dienstleistungen tätig ist.

3 Im April 2014 unterzeichnete die Vereinigung der überseeischen Länder und Gebiete der Europäischen Union (OCTA) mit der Klägerin als koordinierendem Unternehmen den Dienstleistungsvertrag FED/2014/341‑873 „Territoriale Innovationsstrategien (TIS)“ (im Folgenden: Vertrag) über einen ursprünglichen Betrag von 2 900 600 Euro und mit einer Laufzeit vom 29. April 2014 bis zum 28. April 2020. Dieser Vertrag wurde vom Europäischen Entwicklungsfonds (EEF) finanziert und verfolgte die allgemeinen Ziele, die nachhaltige Entwicklung und wirtschaftliche Diversifizierung durch innovative Lösungen zu stärken und die Wettbewerbsfähigkeit der überseeischen Länder und Gebiete auf regionaler und globaler Ebene zu verbessern.

4 Zur Durchführung des Vertrags stellte die Klägerin mehrere Mitarbeiter ein, darunter einen Teamleiter und leitenden Sachverständigen Nr. 1.

5 Am 25. April 2019 übermittelte dieser Teamleiter ein Schreiben an die OCTA und die Europäische Kommission, in dem er diesen mitteilte, dass die Klägerin ihm seine Vergütung für die von 2015 bis 2018 geleistete Arbeit, d. h. 430 326,23 Euro, nicht gezahlt habe.

6 Im August 2019 benannte die Kommission eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft (im Folgenden: unabhängiger Prüfer), damit diese eine unabhängige Prüfung der Richtigkeit und Ordnungsmäßigkeit der von der Klägerin im Zeitraum vom 29. April 2014 bis zum 30. April 2019 übermittelten Berichte vornehme. Sie schaltete auch das OLAF ein, damit es in seine Zuständigkeit fallende Kontrollen in Bezug auf das etwaige Vorliegen von Betrug, Korruption und sonstigen rechtswidrigen Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Union durchführe.

7 Am 15. Juni 2020 legte der unabhängige Prüfer seinen Abschlussbericht vor, in dem festgestellt wurde, dass der Betrag von 504 434,68 Euro für eine Finanzierung durch den EEF nicht in Betracht komme. Dieser Betrag entsprach zum einen einem Betrag von 2 034,68 Euro für verschiedene Kosten, für die die entsprechenden Belege fehlten oder unzureichend waren, und zum anderen einem Betrag von 502 400 Euro, der der fehlenden Abrechnung von Honoraren der Mitarbeiter der Klägerin und Unterschieden zwischen der Zahl der Arbeitsstunden, die einerseits von diesen Mitarbeitern und andererseits von der Klägerin bei der OCTA geltend gemacht wurden, entsprach.

8 Am 1. Juli 2020 kündigte das OLAF die Einleitung der Untersuchung mit dem Aktenzeichen OC/2019/0766/B4 gegen die Klägerin wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten bei der Durchführung des Vertrags an.

9 Mit Schreiben vom 4. Dezember 2020 teilte das OLAF der Klägerin mit, dass die Untersuchung OC/2019/0766/B4 abgeschlossen und der Abschlussbericht dieser Untersuchung der Staatsanwaltschaft Venedig (Italien) und der Generaldirektion (GD) Internationale Zusammenarbeit und Entwicklung der Kommission übermittelt worden sei, damit folgende Maßnahmen ergriffen werden könnten: zum einen die Einleitung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens wegen etwaigen Betrugs, der durch fehlerhafte Ausgabenprüfberichte begangen worden sein könnte, um von der OCTA unrechtmäßige Zahlungen zu erlangen, und zum anderen die Rückforderung des Betrags in Höhe von 504 434,68 Euro, die Registrierung der Klägerin in der Datenbank des Früherkennungs- und Ausschlusssystems (EDES) und die Beurteilung der Zweckmäßigkeit wirtschaftlicher Sanktionen gemäß Art. 10 der für den Vertrag geltenden Allgemeinen Bedingungen.

10 Am 22. Januar 2021 stellte die Klägerin beim OLAF gemäß Art. 6 der Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission (ABl. 2001, L 145, S. 43) einen Antrag auf Zugang zum Abschlussbericht der Untersuchung OC/2019/0766/B4 des OLAF und zu den Anhängen dieses Berichts (im Folgenden: angeforderte Dokumente).

11 Am 3. März 2021 lehnte das OLAF den Zugang zu den angeforderten Dokumenten ab.

12 Am 10. März 2021 stellte die Klägerin auf der Grundlage von Art. 7 der Verordnung Nr. 1049/2001 einen Zweitantrag auf Zugang zu den angeforderten Dokumenten.

13 Mit Vorabinformationsschreiben vom 11. März 2021 unterrichtete die Kommission die Klägerin über die Einleitung des Verfahrens zur Rückforderung eines Betrags von 417 234,68 Euro auf der Grundlage des Abschlussberichts des unabhängigen Prüfers und forderte sie auf, gegebenenfalls innerhalb einer Frist von 30 Tagen Stellung zu nehmen.

14 Am 26. April 2021 erließ das OLAF den angefochtenen Beschluss, mit dem es den oben in Rn. 12 genannten Zweitantrag ablehnte.

Anträge der Parteien

15 Die Klägerin beantragt,

– den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären;

– der Kommission aufzugeben, die angeforderten Dokumente vorzulegen;

– der Kommission die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

16 Die Kommission beantragt,

– die Klage abzuweisen;

– der Klägerin die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

Rechtliche Würdigung

Zum Antrag auf Nichtigerklärung

17 Die Klägerin stützt ihre Klage im Wesentlichen auf sechs Klagegründe: erstens einen Rechtsfehler in Bezug auf die Folgen des Zugangs zu den angeforderten Dokumenten, zweitens einen Verstoß gegen Art. 4 Abs. 2 dritter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1049/2001 in Bezug auf die Ausnahmeregelung zum Schutz des Zwecks von Inspektions‑, Untersuchungs- und Audittätigkeiten, drittens einen Verstoß gegen Art. 4 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1049/2001 hinsichtlich der Ausnahmeregelung zum Schutz der Privatsphäre und der Integrität des Einzelnen sowie des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, viertens einen Verstoß gegen Art. 4 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1049/2001 betreffend den teilweisen Zugang zu den angeforderten Dokumenten, fünftens eine Verletzung der Begründungspflicht und sechstens einen Rechtsfehler, der sich daraus ergebe, dass das OLAF nicht anerkannt habe, dass ihren Verteidigungsrechten ein überwiegendes öffentliches Interesse im Sinne von Art. 4 der Verordnung Nr. 1049/2001 zukomme.

18 Da nach ständiger Rechtsprechung eine fehlende oder unzureichende Begründung eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften im Sinne des Art. 263 AEUV darstellt und ein Gesichtspunkt zwingenden Rechts ist, den der Unionsrichter gegebenenfalls von Amts wegen prüfen muss (vgl. Urteile vom 15. Juni 2017, Spanien/Kommission, C‑279/16 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2017:461, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 3. Mai 2018, Malta/Kommission, T‑653/16, EU:T:2018:241, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung), ist der fünfte Klagegrund zu prüfen, mit dem eine Verletzung der Begründungspflicht gerügt wird.

19 Mit diesem Klagegrund macht die Klägerin geltend, der angefochtene Beschluss sei unzureichend begründet, da das OLAF in den Rn. 4 und 5 dieses Beschlusses auf die Ausnahmeregelung in Art. 4 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1049/2001 zum Entscheidungsprozess des Organs Bezug nehme, ohne die Relevanz dieser spezifischen Ausnahmeregelung im Hinblick auf den Inhalt des OLAF‑Berichts zu erläutern. Somit sei es der Klägerin unmöglich, ihr Recht auszuüben, die Relevanz dieser Ausnahmeregelung in Frage zu stellen, und ebenso sei es dem Gericht unmöglich, die Gründe, die das OLAF dazu veranlasst hätten, sich auf Art. 4 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1049/2001 zu berufen, selbst zu prüfen.

20 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen.

21 Nach gefestigter Rechtsprechung muss die in Art. 296 AEUV und Art. 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vorgeschriebene Begründung von Rechtsakten der Unionsorgane der Natur des betreffenden Rechtsakts angepasst sein und die Überlegungen des Organs, das den Rechtsakt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen können und das zuständige Gericht seine Kontrolle durchführen kann. Das Begründungserfordernis ist anhand aller Umstände des Einzelfalls zu beurteilen, insbesondere des Inhalts des Rechtsakts, der Art der angeführten Gründe und des Interesses, das die Adressaten des Rechtsakts oder andere unmittelbar und individuell von ihm betroffene Personen an Erläuterungen haben können. In der Begründung brauchen nicht alle...

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