Federatie Nederlandse Vakbeweging v Heiploeg Seafood International BV and Heitrans International BV.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2022:321
Date28 April 2022
Docket NumberC-237/20
Celex Number62020CJ0237
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

28. April 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2001/23/EG – Art. 3 bis 5 – Übergang von Unternehmen – Wahrung der Ansprüche und Rechte der Arbeitnehmer – Ausnahmen – Insolvenzverfahren – ‚Pre-pack‘ – Fortbestand eines Unternehmens – Übergang eines Unternehmens (Unternehmensteils) im Zuge der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens mit vorherigem ‚pre-pack‘“

In der Rechtssache C‑237/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) mit Entscheidung vom 29. Mai 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 5. Juni 2020, in dem Verfahren

Federatie Nederlandse Vakbeweging

gegen

Heiploeg Seafood International BV,

Heitrans International BV

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Präsidentin der Zweiten Kammer A. Prechal in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Dritten Kammer, der Richter J. Passer und F. Biltgen (Berichterstatter), der Richterin L. S. Rossi und des Richters N. Wahl,

Generalanwalt: G. Pitruzzella,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 30. September 2021,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der Federatie Nederlandse Vakbeweging, vertreten durch F. M. Dekker, Advocaat,

– der Heitrans International BV und der Heiploeg Seafood International BV, vertreten durch B. Kraaipoel, J. F. Fliek und I. Spinath, Advocaten,

– der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und J. Langer als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Nijenhuis und B.‑R. Killmann als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 9. Dezember 2021

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 3 bis 5 der Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen (ABl. 2001, L 82, S. 16).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der niederländischen Gewerkschaft Federatie Nederlandse Vakbeweging (niederländischer Gewerkschaftsbund) (im Folgenden: FNV) und den niederländischen Gesellschaften Heiploeg Seafood International BV und Heitrans International BV (im Folgenden: Heiploeg-neu) wegen der Wahrung der Ansprüche und Rechte der bei diesen Gesellschaften beschäftigten Arbeitnehmer bei einem Unternehmensübergang, bei dem gegen den Veräußerer ein Insolvenzverfahren eröffnet wurde.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3 Mit der Richtlinie 2001/23 wurde die Richtlinie 77/187/EWG des Rates vom 14. Februar 1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen (ABl. 1977, L 61, S. 26) in der durch die Richtlinie 98/50/EG des Rates vom 29. Juni 1998 (ABl. 1998, L 201, S. 88) geänderten Fassung kodifiziert.

4 Im dritten Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/23 heißt es:

„Es sind Bestimmungen notwendig, die die Arbeitnehmer bei einem Inhaberwechsel schützen und insbesondere die Wahrung ihrer Ansprüche gewährleisten.“

5 Art. 1 der Richtlinie 2001/23 bestimmt in Abs. 1 Buchst. a und b:

„a) Diese Richtlinie ist auf den Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- bzw. Betriebsteilen auf einen anderen Inhaber durch vertragliche Übertragung oder durch Verschmelzung anwendbar.

b) Vorbehaltlich Buchstabe a) und der nachstehenden Bestimmungen dieses Artikels gilt als Übergang im Sinne dieser Richtlinie der Übergang einer ihre Identität bewahrenden wirtschaftlichen Einheit im Sinne einer organisierten Zusammenfassung von Ressourcen zur Verfolgung einer wirtschaftlichen Haupt- oder Nebentätigkeit.“

6 Art. 3 der Richtlinie 2001/23 bestimmt in Abs. 1 Unterabs. 1:

„Die Rechte und Pflichten des Veräußerers aus einem zum Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsvertrag oder Arbeitsverhältnis gehen aufgrund des Übergangs auf den Erwerber über.“

7 Art. 4 der Richtlinie 2001/23 bestimmt in Abs. 1 Unterabs. 1:

„Der Übergang eines Unternehmens, Betriebs oder Unternehmens- bzw. Betriebsteils stellt als solcher für den Veräußerer oder den Erwerber keinen Grund zur Kündigung dar. Diese Bestimmung steht etwaigen Kündigungen aus wirtschaftlichen, technischen oder organisatorischen Gründen, die Änderungen im Bereich der Beschäftigung mit sich bringen, nicht entgegen.“

8 Art. 5 der Richtlinie 2001/23 bestimmt:

„1. Sofern die Mitgliedstaaten nichts anderes vorsehen, gelten die Artikel 3 und 4 nicht für Übergänge von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- bzw. Betriebsteilen, bei denen gegen den Veräußerer unter der Aufsicht einer zuständigen öffentlichen Stelle (worunter auch ein von einer zuständigen Behörde ermächtigter Insolvenzverwalter verstanden werden kann) ein Konkursverfahren oder ein entsprechendes Verfahren mit dem Ziel der Auflösung des Vermögens des Veräußerers eröffnet wurde.

2. Wenn die Artikel 3 und 4 für einen Übergang während eines Insolvenzverfahrens gegen den Veräußerer (unabhängig davon, ob dieses Verfahren zur Auflösung seines Vermögens eingeleitet wurde) gelten und dieses Verfahren unter der Aufsicht einer zuständigen öffentlichen Stelle (worunter auch ein nach dem innerstaatlichen Recht bestimmter Insolvenzverwalter verstanden werden kann) steht, kann ein Mitgliedstaat vorsehen, dass

a) ungeachtet des Artikels 3 Absatz 1 die vor dem Übergang bzw. vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens fälligen Verbindlichkeiten des Veräußerers aufgrund von Arbeitsverträgen oder Arbeitsverhältnissen nicht auf den Erwerber übergehen, sofern dieses Verfahren nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats einen Schutz gewährt, der dem von der Richtlinie 80/987/EWG des Rates vom 20. Oktober 1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers [(ABl. 1980, L 283, S. 23)] vorgesehenen Schutz zumindest gleichwertig ist, und/oder

b) der Erwerber, der Veräußerer oder die seine Befugnisse ausübenden Personen auf der einen Seite und die Vertreter der Arbeitnehmer auf der anderen Seite Änderungen der Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer, insoweit das geltende Recht oder die geltende Praxis dies zulassen, vereinbaren können, die den Fortbestand des Unternehmens, Betriebs oder Unternehmens- bzw. Betriebsteils sichern und dadurch der Erhaltung von Arbeitsplätzen dienen.

4. Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit Insolvenzverfahren nicht in missbräuchlicher Weise in Anspruch genommen werden, um den Arbeitnehmern die in dieser Richtlinie vorgesehenen Rechte vorzuenthalten.“

Niederländisches Recht

BW

9 Nach Art. 7:663 des Burgerlijk Wetboek (Bürgerliches Gesetzbuch, im Folgenden: BW) gehen durch den Übergang eines Unternehmens die Rechte und Pflichten, die sich zu diesem Zeitpunkt für den Arbeitgeber aus einem Arbeitsvertrag zwischen ihm und einem in dem Unternehmen beschäftigten Arbeitnehmer ergeben, von Rechts wegen auf den Erwerber über.

10 Art. 7:663 BW findet nach Art. 7:666 Buchst. a BW auf den Übergang eines Unternehmens keine Anwendung, wenn über das Vermögen des Arbeitgebers das Insolvenzverfahren eröffnet wurde und das Unternehmen in die Insolvenzmasse fällt.

11 Art. 7:663 und Art. 7:666 Buchst. a BW dienen der Umsetzung von Art. 3 Abs. 1 bzw. Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23.

FW

12 Nach Art. 1 Abs. 1 der Faillissementswet (Insolvenzgesetz, im Folgenden: FW) wird über das Vermögen des Schuldners auf dessen eigenen Antrag oder auf Antrag der Gläubiger oder eines Gläubigers das Insolvenzverfahren eröffnet, wenn der Schuldner seine Zahlungen eingestellt hat und mehr als einen Gläubiger hat.

13 Nach Art. 10 FW können Dritte der Eröffnung des Insolvenzverfahrens innerhalb einer Frist von acht Tagen ab Verkündung des Beschlusses, mit dem das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Schuldners eröffnet wird, widersprechen.

14 In dem Beschluss, mit dem das Insolvenzverfahren eröffnet wird, werden auch der Insolvenzverwalter und der Insolvenzrichter bestellt.

15 Nach Art. 68 FW hat der Insolvenzverwalter die Aufgabe, die Insolvenzmasse zu verwalten und zu verwerten. Nach der nationalen Rechtsprechung hat er den Interessen der Gläubigergemeinschaft Rechnung zu tragen, aber auch den Interessen der Allgemeinheit, u. a. dem Interesse an der Erhaltung von Arbeitsplätzen.

16 Nach Art. 40 FW kann der Insolvenzverwalter Arbeitsverhältnisse mit beim insolventen Schuldner beschäftigten Arbeitnehmern mit einer Frist von höchstens sechs Wochen kündigen.

17 Nach Art. 64 FW übt der Insolvenzrichter die Aufsicht über den Insolvenzverwalter aus. Er überprüft, ob dieser seine Befugnisse nicht überschreitet, im Interesse der Gläubigergemeinschaft handelt und seine Aufgaben ordnungsgemäß erfüllt.

Das Pre-pack-Verfahren

18 Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts handelt es sich beim „pre-pack“ um eine nationale Praxis, die auf die Rechtsprechung zurückgeht. Das „pre-pack“ dient im Rahmen der Auflösung des Vermögens eines Schuldners dazu, die Veräußerung eines Unternehmens oder eines Unternehmensteils, das bzw. der zum Vermögen des Schuldners gehört, vorzubereiten, um die Chancen einer vollständigen Befriedigung der Gläubiger zu erhöhen.

19 Zur Vorbereitung der Veräußerung wird mit einem oder mehreren Interessenten eine Vereinbarung ausgehandelt, auf deren Grundlage das betreffende Unternehmen bzw. der betreffende Unternehmensteil dann nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners veräußert werden wird. Das „pre-pack“ unterscheidet sich von anderen Veräußerungen, die vor der Insolvenz erfolgen, dadurch, dass die im Rahmen des „pre-pack“ organisierten Veräußerungen von einem Verwalter, dem „designierten Insolvenzverwalter“...

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