Finanzamt X v Y KG.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2024:352
Date25 April 2024
Docket NumberC-207/23
Celex Number62023CJ0207
CourtCourt of Justice (European Union)
62023CJ0207

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)

25. April 2024 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Steuerbare Umsätze – Art. 16 – Entnahme eines Gegenstands aus dem Unternehmen und unentgeltliche Zuwendung dieses Gegenstands an einen anderen Steuerpflichtigen – Trocknung von Holz und Beheizen von Spargelfeldern mit Wärme aus einem Blockheizkraftwerk, das an eine Biogasanlage angeschlossen ist – Art. 74 – Steuerbemessungsgrundlage – Selbstkostenpreis – Beschränkung auf vorsteuerbelastete Kosten“

In der Rechtssache C‑207/23

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesfinanzhof (Deutschland) mit Entscheidung vom 22. November 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 29. März 2023, in dem Verfahren

Finanzamt X

gegen

Y KG

erlässt

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz sowie der Richter P. G. Xuereb (Berichterstatter) und A. Kumin,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Y KG, vertreten durch Rechtsanwalt T. Streit und Rechtsanwältin A. Zawatson,

der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und N. Scheffel als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Behre und J. Jokubauskaitė als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 16 und 74 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Y KG und dem Finanzamt X (Deutschland) über die Erhebung von Mehrwertsteuer auf unentgeltliche Wärmelieferungen aus dem Blockheizkraftwerk, das an die Biogasanlage der Y KG angeschlossen ist, zum einen an den Unternehmer A zur Trocknung von Holz und zum anderen an die Gesellschaft B zum Beheizen ihrer Spargelfelder.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

In Art. 2 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:

„Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:

a)

Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt;

…“

4

Art. 14 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Als ‚Lieferung von Gegenständen‘ gilt die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen.“

5

Art. 15 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„Einem körperlichen Gegenstand gleichgestellt sind Elektrizität, Gas, Wärme, Kälte und ähnliche Sachen.“

6

In Art. 16 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:

„Einer Lieferung von Gegenständen gegen Entgelt gleichgestellt ist die Entnahme eines Gegenstands durch einen Steuerpflichtigen aus seinem Unternehmen für seinen privaten Bedarf oder für den Bedarf seines Personals oder als unentgeltliche Zuwendung oder allgemein für unternehmensfremde Zwecke, wenn dieser Gegenstand oder seine Bestandteile zum vollen oder teilweisen Vorsteuerabzug berechtigt haben.

Jedoch werden einer Lieferung von Gegenständen gegen Entgelt nicht gleichgestellt Entnahmen für Geschenke von geringem Wert und für Warenmuster für die Zwecke des Unternehmens.“

7

Art. 73 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„Bei der Lieferung von Gegenständen und Dienstleistungen, die nicht unter die Artikel 74 bis 77 fallen, umfasst die Steuerbemessungsgrundlage alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistungserbringer für diese Umsätze vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder einem Dritten erhält oder erhalten soll, einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze zusammenhängenden Subventionen.“

8

Art. 74 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Bei den in den Artikeln 16 und 18 genannten Umsätzen in Form der Entnahme oder der Zuordnung eines Gegenstands des Unternehmens durch einen Steuerpflichtigen oder beim Besitz von Gegenständen durch einen Steuerpflichtigen oder seine Rechtsnachfolger im Fall der Aufgabe seiner steuerbaren wirtschaftlichen Tätigkeit ist die Steuerbemessungsgrundlage der Einkaufspreis für diese oder gleichartige Gegenstände oder mangels eines Einkaufspreises der Selbstkostenpreis, und zwar jeweils zu den Preisen, die zum Zeitpunkt der Bewirkung dieser Umsätze festgestellt werden.“

9

In Art. 78 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:

„In die Steuerbemessungsgrundlage sind folgende Elemente einzubeziehen:

a)

Steuern, Zölle, Abschöpfungen und Abgaben mit Ausnahme der Mehrwertsteuer selbst;

b)

Nebenkosten wie Provisions‑, Verpackungs‑, Beförderungs- und Versicherungskosten, die der Lieferer oder Dienstleistungserbringer vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger fordert.

Die Mitgliedstaaten können als Nebenkosten im Sinne des Absatzes 1 Buchstabe b Kosten ansehen, die Gegenstand einer gesonderten Vereinbarung sind.“

10

Art. 79 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„In die Steuerbemessungsgrundlage sind folgende Elemente nicht einzubeziehen:

a)

Preisnachlässe durch Skonto für Vorauszahlungen;

b)

Rabatte und Rückvergütungen auf den Preis, die dem Erwerber oder Dienstleistungsempfänger eingeräumt werden und die er zu dem Zeitpunkt erhält, zu dem der Umsatz bewirkt wird;

c)

Beträge, die ein Steuerpflichtiger vom Erwerber oder vom Dienstleistungsempfänger als Erstattung der in ihrem Namen und für ihre Rechnung verauslagten Beträge erhält und die in seiner Buchführung als durchlaufende Posten behandelt sind.

Der Steuerpflichtige muss den tatsächlichen Betrag der in Absatz 1 Buchstabe c genannten Auslagen nachweisen und darf die Mehrwertsteuer, die auf diese Auslagen gegebenenfalls erhoben worden ist, nicht als Vorsteuer abziehen.“

Deutsches Recht

11

§ 3 Abs. 1b des Umsatzsteuergesetzes (im Folgenden: UStG) bestimmt:

„Einer Lieferung gegen Entgelt werden gleichgestellt

1.

die Entnahme eines Gegenstands durch einen Unternehmer aus seinem Unternehmen für Zwecke, die außerhalb des Unternehmens liegen;

2.

die unentgeltliche Zuwendung eines Gegenstands durch einen Unternehmer an sein Personal für dessen privaten Bedarf, sofern keine Aufmerksamkeiten vorliegen;

3.

jede andere unentgeltliche Zuwendung eines Gegenstands, ausgenommen Geschenke von geringem Wert und Warenmuster für Zwecke des Unternehmens.

Voraussetzung ist, dass der Gegenstand oder seine Bestandteile zum vollen oder teilweisen Vorsteuerabzug berechtigt haben.“

12

In § 10 Abs. 4 UStG heißt es:

„Der Umsatz wird bemessen

1.

bei dem Verbringen eines Gegenstands im Sinne des § 1a Abs. 2 und des § 3 Abs. 1a sowie bei Lieferungen im Sinne des § 3 Abs. 1b nach dem Einkaufspreis zuzüglich der Nebenkosten für den Gegenstand oder für einen gleichartigen Gegenstand oder mangels eines Einkaufspreises nach den Selbstkosten, jeweils zum Zeitpunkt des Umsatzes;

…“

13

§ 8 des Erneuerbare-Energien-Gesetzes in der Fassung vom 7. November 2006 (BGBl. 2006 I S. 2550) (im Folgenden: EEG) bestimmt:

„(1) Für Strom, der in Anlagen mit einer Leistung bis einschließlich 20 Megawatt gewonnen wird, die ausschließlich Biomasse im Sinne der nach Absatz 7 erlassenen Rechtsverordnung einsetzen, beträgt die Vergütung …

(3) Die Mindestvergütungen nach Absatz 1 Satz 1 erhöhen sich um jeweils 2,0 Cent pro Kilowattstunde, soweit es sich um Strom im Sinne von § 3 Abs. 4 des [Gesetzes für die Erhaltung, die Modernisierung und den Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung (Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz) in der Fassung vom 19. März 2002 (BGBl. 2002 I S. 1092, im Folgenden: KWKG)] handelt und dem Netzbetreiber ein entsprechender Nachweis … vorgelegt wird. Anstelle des Nachweises nach Satz 1 können für serienmäßig hergestellte KWK-Anlagen mit einer Leistung von bis zu 2 Megawatt geeignete Unterlagen des Herstellers vorgelegt werden, aus denen die thermische und elektrische Leistung sowie die Stromkennzahl hervorgehen.“

14

§ 3 Abs. 4 KWKG in der Fassung vom 19. März 2002 sieht vor:

„KWK-Strom ist das rechnerische Produkt aus Nutzwärme und Stromkennzahl der KWK-Anlage. Bei Anlagen, die nicht über Vorrichtungen zur Abwärmeabfuhr verfügen, ist die gesamte Netto-Stromerzeugung KWK-Strom.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

15

Y betreibt eine Biogasanlage zur Erzeugung von Biogas aus Biomasse. Das erzeugte Biogas wurde im Jahr 2008 zur dezentralen Strom- und Wärmeproduktion genutzt. Der so produzierte Strom wurde überwiegend in das allgemeine Stromnetz eingespeist und von dem Stromnetzbetreiber vergütet. Die durch diesen Prozess erzeugte Wärme diente zu einem Teil dem Produktionsprozess von Y.

16

Den überwiegenden Teil der so produzierten Wärme überließ Y mit Vertrag vom 29. November 2007 dem Unternehmer A „kostenlos“ zur Trocknung von Holz in Containern und mit Vertrag vom 29. Juli 2008 der Gesellschaft B, die mit der Wärme ihre Spargelfelder beheizte. In beiden Verträgen ist geregelt, dass die Höhe der Vergütung je nach wirtschaftlicher Lage des Wärmeabnehmers individuell vereinbart und in den Verträgen nicht festgelegt werde.

17

Im Jahr 2008 erhielt Y für die Lieferung von 6714247 kWh Strom vom Stromnetzbetreiber neben der sogenannten...

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