Opinion of Advocate General Kokott delivered on 25 February 2021.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2021:145
Date25 February 2021
Celex Number62019CC0458
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 25. Februar 2021(1)

Rechtssache C458/19 P

ClientEarth

gegen

Europäische Kommission

„Rechtsmittel – Nichtigkeitsklage – Verordnung (EG) Nr. 1367/2006 – Übereinkommen von Aarhus – Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten – Interne Überprüfung – Ablehnung – Gegenstand der Überprüfung – Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 – Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe –Zulassungspflicht – Durchführungsbeschluss C(2016) 3549 final, mit dem die Zulassung für Verwendungen von Bis(2-ethylhexyl)phthalat (DEHP) erteilt wird – Überwiegender sozioökonomischer Nutzen – Berücksichtigung von Risiken“






Inhaltsverzeichnis


I. Einleitung

II. Rechtlicher Rahmen

A. Übereinkommen von Aarhus

B. Aarhus-Verordnung

C. REACH-Verordnung

III. Sachverhalt

A. Die Einstufung von DEHP

B. Das Zulassungsverfahren

C. Das Überprüfungsverfahren

IV. Gerichtliches Verfahren und Anträge

V. Rechtliche Würdigung

A. Rechtsschutzinteresse

B. Sechster Rechtsmittelgrund: Berücksichtigung anderer Risiken des Stoffes in der Abwägung

1. Prüfung des Rechtsmittels

2. Prüfung der Klage vor dem Gericht

C. Zu den übrigen Rechtsmittelgründen

1. Erster Rechtsmittelgrund: Zulässigkeit von Klagegründen und Argumenten

a) Erster Teil des ersten Rechtsmittelgrundes: Gegenstand der Klage gegen die streitige Überprüfungsentscheidung

b) Zweiter Teil des ersten Rechtsmittelgrundes: Streitgegenstand des Überprüfungsverfahrens

i) Begriff der Verwendung

ii) Argumente mit Bezug auf die Verwendung von Abfällen

iii) Sozioökonomischer Nutzen – Quantifizierung des Risikos

2. Vierter Rechtsmittelgrund: Anforderungen an den Zulassungsantrag

3. Zweiter Rechtsmittelgrund: Beweisanforderungen an Antragsteller im Überprüfungsverfahren

a) Erster Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes: der Stoffsicherheitsbericht im Zulassungsantrag

b) Zweiter Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes: Analyse der Alternativen

4. Dritter Rechtsmittelgrund: Alternativen zur beantragten Verwendung

5. Fünfter Rechtsmittelgrund: der Stoffsicherheitsbericht in der Abwägung

6. Siebter Rechtsmittelgrund: Vorsorgeprinzip

D. Ergebnis der rechtlichen Würdigung

VI. Kosten

VII. Ergebnis


I. Einleitung

1. Bis(2-ethylhexyl)phthalat (DEHP) ist ein sogenannter Weichmacher, der Kunststoffen auf der Grundlage von Polyvinylchlorid (PVC) zugesetzt wird. Mit DEHP sind erhebliche Risiken für die menschliche Gesundheit verbunden. Deshalb bedarf die Verwendung dieses Stoffes nach der REACH-Verordnung(2) einer Zulassung, über die die Kommission auf Antrag des Verwenders entscheidet.

2. ClientEarth ist eine Nichtregierungsorganisation (NGO), die sich dem Umweltschutz widmet. Sie wendet sich im vorliegenden Verfahren als Dritter gegen eine solche Zulassung, die die Kommission drei Recyclingunternehmen für die Verwendung von recycelten PVC‑Abfällen (PVC‑Rezyklat), die DEHP enthalten, gewährt hat. Dafür hat ClientEarth gemäß der Aarhus-Verordnung(3) bei der Kommission eine Überprüfung der Zulassung beantragt und anschließend die Zurückweisung dieses Antrags erfolglos vor dem Gericht angegriffen.

3. Das vorliegende Rechtsmittel gibt dem Gerichtshof daher erstmals Gelegenheit, bestimmte Fragen zum Überprüfungsverfahren der Aarhus-Verordnung und zum Zulassungsverfahren der REACH-Verordnung zu beantworten. Im Kern geht es um die Kontrolle der Abwägung, die der Zulassung zugrunde liegt, und somit um die dabei zu berücksichtigenden Gesichtspunkte sowie um die Kontrolle der Prüfung von Alternativen. Darüber hinaus ist umstritten, inwieweit der Überprüfungsantrag den Streitgegenstand abgrenzt und inwieweit Dritte sich auf Mängel des Zulassungsantrags des Verwenders berufen können, um die Gültigkeit des Zulassungsbeschlusses in Frage zu stellen.

II. Rechtlicher Rahmen

A. Übereinkommen von Aarhus

4. Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus(4) sieht vor, dass die Vertragsparteien Mitgliedern der Öffentlichkeit Zugang zu verwaltungsbehördlichen oder gerichtlichen Verfahren geben, um die von Privatpersonen und Behörden vorgenommenen Handlungen und begangenen Unterlassungen anzufechten, die gegen umweltbezogene Bestimmungen ihres innerstaatlichen Rechts verstoßen. Gemäß Art. 9 Abs. 4 stellen diese Verfahren angemessenen und effektiven Rechtsschutz sicher. Diese Verfahren sind danach fair, gerecht, zügig und nicht übermäßig teuer.

B. Aarhus-Verordnung

5. Die Aarhus-Verordnung setzt u. a. Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus für die Organe oder Einrichtungen der Europäischen Union um. Art. 10 der Aarhus-Verordnung sieht dafür ein Verfahren der internen Überprüfung vor:

„(1) Jede Nichtregierungsorganisation, die die in Art. 11 festgelegten Kriterien erfüllt, kann bei dem Organ oder der Einrichtung der Gemeinschaft, die einen Verwaltungsakt nach dem Umweltrecht angenommen hat oder – im Falle einer behaupteten Unterlassung – einen solchen Akt hätte annehmen sollen, eine interne Überprüfung beantragen.

… In dem Antrag sind die Gründe für die Überprüfung anzugeben.

(2) Die in Abs. 1 genannten Organe oder Einrichtungen der Gemeinschaft prüfen jeden derartigen Antrag … Die Organe oder Einrichtungen legen … in einer schriftlichen Antwort ihre Gründe dar.

(3) …“

6. Art. 12 Abs. 1 der Aarhus-Verordnung verweist auf die Möglichkeit einer Klage vor den Unionsgerichten:

„Die Nichtregierungsorganisation, die den Antrag auf interne Überprüfung nach Art. 10 gestellt hat, kann gemäß den einschlägigen Bestimmungen des Vertrags Klage vor dem Gerichtshof erheben.“

7. Diese Bestimmung wird im 21. Erwägungsgrund der Aarhus-Verordnung erläutert:

„Wurde einem vorhergehenden Antrag auf interne Überprüfung nicht stattgegeben, sollten die betreffenden Nichtregierungsorganisationen in der Lage sein, gemäß den einschlägigen Bestimmungen des Vertrags vor dem Gerichtshof ein Gerichtsverfahren einzuleiten.“

C. REACH-Verordnung

8. Die REACH-Verordnung ist ein umfassendes Regelwerk über die Beurteilung von und den Umgang mit Risiken für die menschliche Gesundheit und die Umwelt im Zusammenhang mit der Herstellung, dem Inverkehrbringen und der Verwendung von chemischen Stoffen. Für bestimmte besonders besorgniserregende Stoffe sieht sie Beschränkungen der Verwendung oder sogar ein Verbot der Verwendung mit Erlaubnisvorbehalt vor, die sogenannte Zulassungspflicht.

9. Art. 3 Nr. 24 der REACH-Verordnung definiert den Begriff der Verwendung als „Verarbeiten, Formulieren, Verbrauchen, Lagern, Bereithalten, Behandeln, Abfüllen in Behältnisse, Umfüllen von einem Behältnis in ein anderes, Mischen, Herstellen eines Erzeugnisses oder jeder andere Gebrauch“.

10. Der Zweck der Zulassungspflicht wird in Art. 55 der REACH-Verordnung dargelegt:

„Zweck dieses Titels ist es, sicherzustellen, dass der Binnenmarkt reibungslos funktioniert und gleichzeitig die von besonders besorgniserregenden Stoffen ausgehenden Risiken ausreichend beherrscht werden und dass diese Stoffe schrittweise durch geeignete Alternativstoffe oder ‑technologien ersetzt werden, sofern diese wirtschaftlich und technisch tragfähig sind. Zu diesem Zweck prüfen alle Hersteller, Importeure und nachgeschalteten Anwender, die einen Antrag auf Zulassung stellen, die Verfügbarkeit von Alternativen und deren Risiken sowie die technische und wirtschaftliche Durchführbarkeit der Substitution.“

11. Nach Art. 56 Abs. 1 der REACH-Verordnung bedarf die Verwendung von besonders besorgniserregenden Stoffen, die in Anhang XIV aufgenommen wurden, einer Zulassung. Die Eigenschaften dieser Stoffe sind in Art. 57 niedergelegt. Darunter sind Reproduktionstoxizität (Buchst. c) und endokrine Eigenschaften (Buchst. f). Art. 58 regelt das Verfahren der Aufnahme in Anhang XIV, welche sodann die Zulassungspflicht begründet.

12. Ein Zwischenschritt des Verfahrens der Festlegung einer Zulassungspflicht ist in Art. 59 der REACH-Verordnung vorgesehen. Danach werden Stoffe, die wegen ihrer besorgniserregenden Eigenschaften für eine Zulassungspflicht in Frage kommen, zunächst identifiziert und in die sogenannte Kandidatenliste aufgenommen.

13. Die Voraussetzungen einer Zulassung sind in Art. 60 der REACH-Verordnung niedergelegt:

„(1) Entscheidungen über Zulassungsanträge nach diesem Titel trifft die Kommission.

(2) Unbeschadet des Abs. 3 wird eine Zulassung erteilt, wenn das Risiko für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt, das sich aus der Verwendung des Stoffes aufgrund der in Anhang XIV aufgeführten inhärenten Eigenschaften ergibt, nach Anhang I Abschnitt 6.4 und wie im Stoffsicherheitsbericht des Antragstellers dokumentiert, unter Berücksichtigung der Stellungnahme des in Art. 64 Abs. 4 Buchst. a genannten Ausschusses für Risikobeurteilung angemessen beherrscht wird. Bei der Erteilung der Zulassung und bei den jeweiligen dort festgelegten Bedingungen berücksichtigt die Kommission alle zum Zeitpunkt der Entscheidung bekannten Einleitungen, Emissionen und Freisetzungen einschließlich der Risiken im Zusammenhang mit einer diffusen oder weit verbreiteten Verwendung.

Die Kommission berücksichtigt nicht die Risiken für die menschliche Gesundheit aus der Verwendung eines Stoffes in einem Medizinprodukt, …

(3) …

(4) In Fällen, in denen die Zulassung nach Abs. 2 nicht erteilt werden kann, … kann eine Zulassung nur erteilt werden, wenn nachgewiesen wird, dass der sozioökonomische Nutzen die Risiken überwiegt, die sich aus der Verwendung des Stoffes für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt ergeben, und wenn es keine geeigneten Alternativstoffe oder ‑technologien gibt. Diese Entscheidung ist nach Berücksichtigung aller folgenden Aspekte und unter Berücksichtigung der Stellungnahmen der in Art. 64 Abs. 4 Buchst. a und b genannten Ausschüsse für Risikobeurteilung und für sozioökonomische Analyse zu treffen:

a) Risiko, das aus den Verwendungen des Stoffes entsteht, einschließlich der Angemessenheit und Wirksamkeit der vorgeschlagenen Risikomanagementmaßnahmen;

b) sozioökonomischer Nutzen seiner Verwendung und die vom...

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