Opinion of Advocate General Pikamäe delivered on 24 March 2021.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2021:229
Date24 March 2021
Celex Number62019CC0845
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PRIIT PIKAMÄE

vom 24. März 2021(1)

Verbundene Rechtssachen C845/19 und C863/19

Okrazhna prokuratura – Varna

Strafverfahren

gegen

DR (C845/19)

TS (C863/19)

(Vorabentscheidungsersuchen des Apelativen sad – Varna [Berufungsgericht Varna, Bulgarien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie 2014/42/EU – Einfrieren und Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten in der Europäischen Union – Anwendungsbereich – Einziehung rechtswidrig erworbener Vermögenswerte – Wirtschaftlicher Vorteil, der als Ergebnis einer Straftat eingetreten ist, die nicht Gegenstand der Verurteilung war – Art. 4 – Einziehung – Art. 5 – Erweiterte Einziehung – Art. 6 – Dritteinziehung – Voraussetzungen – Einziehung eines Geldbetrags, den ein Dritter als ihm gehörend beansprucht – Dritter, der nicht das Recht hat, als Beteiligter am Einziehungsverfahren teilzunehmen – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“






1. In den vorliegenden Rechtssachen ersucht der Apelativen sad – Varna (Berufungsgericht Varna, Bulgarien) um eine Vorabentscheidung über die Auslegung der Richtlinie 2014/42/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Sicherstellung und Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten in der Europäischen Union(2).

2. Insbesondere erhält der Gerichtshof die Möglichkeit, erstmals Rechtsfragen zu klären, die für die Auslegung dieser Richtlinie von entscheidender Bedeutung sind. Die erste bezieht sich auf das mögliche Erfordernis des Vorliegens einer grenzüberschreitenden Situation, um die Anwendung dieser Richtlinie auszulösen. Die zweite betrifft das Zusammenspiel der Bestimmungen der Richtlinie 2014/42, die verschiedene Fälle der Einziehung vorsehen. Die dritte betrifft den Umfang des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf, das einem Dritten gewährt wird, der behauptet, Eigentumsrechte an einem eingezogenen Vermögensgegenstand zu haben.

I. Rechtlicher Rahmen

A. Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union

3. Art. 83 Abs. 1 AEUV bestimmt:

„(1) Das Europäische Parlament und der Rat können gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren durch Richtlinien Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen in Bereichen besonders schwerer Kriminalität festlegen, die aufgrund der Art oder der Auswirkungen der Straftaten oder aufgrund einer besonderen Notwendigkeit, sie auf einer gemeinsamen Grundlage zu bekämpfen, eine grenzüberschreitende Dimension haben.

Derartige Kriminalitätsbereiche sind: Terrorismus, Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern, illegaler Drogenhandel, illegaler Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption, Fälschung von Zahlungsmitteln, Computerkriminalität und organisierte Kriminalität.

…“

B. Unionsrecht

1. Rahmenbeschluss 2004/757/JI

4. Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2004/757/JI des Rates vom 25. Oktober 2004 zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Drogenhandels(3) sieht vor:

„Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass folgende vorsätzliche Handlungen unter Strafe gestellt werden, wenn sie ohne entsprechende Berechtigung vorgenommen wurden:

a) das Gewinnen, Herstellen, Ausziehen, Zubereiten, Anbieten, Feilhalten, Verteilen, Verkaufen, Liefern – gleichviel zu welchen Bedingungen –, Vermitteln, Versenden – auch im Transit –, Befördern, Einführen oder Ausführen von Drogen;

c) das Besitzen oder Kaufen von Drogen mit dem Ziel, eine der unter Buchstabe a) aufgeführten Handlungen vorzunehmen;

…“

2. Richtlinie 2014/42

5. Art. 1 („Gegenstand“) der Richtlinie 2014/42 sieht vor:

„(1) Diese Richtlinie legt Mindestvorschriften für die Einziehung von Vermögensgegenständen in Strafsachen fest sowie für die Sicherstellung solcher Vermögensgegenstände im Hinblick auf deren etwaige spätere Einziehung.

(2) Diese Richtlinie lässt die Verfahren unberührt, die die Mitgliedstaaten zur Einziehung der betreffenden Vermögensgegenstände anwenden können.“

6. Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) dieser Richtlinie bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

1. ‚Ertrag‘ jeden wirtschaftlichen Vorteil, der direkt oder indirekt durch eine Straftat erlangt wird; dieser Vorteil kann aus Vermögensgegenständen aller Art bestehen und schließt eine spätere Reinvestition oder Umwandlung direkter Erträge sowie geldwerte Vorteile ein;

2. ‚Vermögensgegenstände‘ körperliche oder unkörperliche, bewegliche oder unbewegliche Vermögensgegenstände jeder Art sowie Urkunden oder rechtserhebliche Schriftstücke, die das Recht auf solche Vermögensgegenstände oder Rechte daran belegen;

4. ‚Einziehung‘ eine von einem Gericht in Bezug auf eine Straftat angeordnete endgültige Entziehung von Vermögensgegenständen;

…“

7. In Art. 3 („Anwendungsbereich“) dieser Richtlinie heißt es:

„Diese Richtlinie findet Anwendung auf Straftaten im Sinne folgender Rechtsinstrumente:

g) [Rahmenbeschluss 2004/757];

…“.

8. Art. 4 („Einziehung“) Abs. 1 der Richtlinie 2014/42 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Tatwerkzeuge und Erträge oder Vermögensgegenstände, deren Wert diesen Tatwerkzeugen oder Erträgen entspricht, vorbehaltlich einer rechtskräftigen Verurteilung wegen einer Straftat, auch durch Verfahren in Abwesenheit, ganz oder teilweise eingezogen werden können.“

9. Art. 5 („Erweiterte Einziehung“) Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Vermögensgegenstände, die einer Person gehören, die wegen einer Straftat verurteilt ist, die direkt oder indirekt zu einem wirtschaftlichen Vorteil führen kann, ganz oder teilweise eingezogen werden können, wenn ein Gericht aufgrund der Umstände des Falls, einschließlich der konkreten Tatsachen und verfügbaren Beweismittel wie der Tatsache, dass der Wert der Vermögensgegenstände in einem Missverhältnis zum rechtmäßigen Einkommen der verurteilten Person steht, zu der Überzeugung gelangt, dass die betreffenden Vermögensgegenstände aus Straftaten stammen.“

10. Art. 6 („Dritteinziehung“) dieser Richtlinie sieht vor:

„(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Erträge oder andere Vermögensgegenstände eingezogen werden können, deren Wert den Erträgen entspricht, die von einer verdächtigten oder beschuldigten Person direkt oder indirekt an Dritte übertragen wurden oder die durch Dritte von einer verdächtigten oder beschuldigten Person erworben wurden, zumindest wenn diese Dritten aufgrund konkreter Tatsachen und Umstände – unter anderem dass die Übertragung oder der Erwerb unentgeltlich oder deutlich unter dem Marktwert erfolgte – wussten oder hätten wissen müssen, dass mit der Übertragung oder dem Erwerb die Einziehung vermieden werden sollte.

(2) Absatz 1 lässt die Rechte gutgläubiger Dritter unberührt.“

11. In Art. 8 („Garantien“) dieser Richtlinie heißt es:

„(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass alle Personen, die von den in dieser Richtlinie vorgesehenen Maßnahmen betroffen sind, zur Wahrung ihrer Rechte über das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf ein faires Verfahren verfügen.

…“

C. Bulgarisches Recht

1. Strafgesetzbuch

12. Art. 53 des Nakazatelen Kodeks (Strafgesetzbuch, im Folgenden: NK) lautet wie folgt:

„(1) Unabhängig von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit sind zugunsten des Staates einzuziehen:

a) die Sachen, die dem Schuldigen gehören und für die Begehung einer vorsätzlichen Straftat bestimmt oder gebraucht worden sind; wenn die Sachen fehlen oder veräußert worden sind, wird die Einziehung ihres Gegenwerts angeordnet (ergänzt – DV [Darzhaven vestnik, Staatsanzeiger Bulgarien] Nr. 7/2019);

b) die Sachen, die dem Schuldigen gehören und Gegenstand einer vorsätzlichen Tat waren, sofern dies im Besonderen Teil des Strafgesetzbuchs ausdrücklich vorgesehen ist.

(2) Zugunsten des Staates werden zusätzlich eingezogen: (neu – DV Nr. 28/1982):

a) die Sachen, die Gegenstand der Tat oder Tatwerkzeuge sind, deren Besitz verboten ist, und

b) die direkten und indirekten Erträge, die durch eine Straftat erlangt wurden, wenn sie nicht zurückgegeben oder wiederhergestellt werden müssen; wenn der Ertrag fehlt oder veräußert wurde, wird die Einziehung seines Gegenwerts angeordnet. (geändert – DV Nr. 7/2019).

(3) Im Sinne des Abs. 2 Buchst. b: (neu – DV Nr. 7/2019)

1. bedeutet ‚direkter Ertrag‘ jeden wirtschaftlichen Vorteil, der als unmittelbare Folge der Tat eingetreten ist;

2. bedeutet ‚indirekter Ertrag‘ jeden wirtschaftlichen Vorteil, der als Ergebnis einer Verfügung über den direkten Ertrag eingetreten ist, sowie jeden Vermögensgegenstand, der durch eine anschließende vollständige oder teilweise Umwandlung des direkten Ertrags erlangt wurde, einschließlich, wenn dieser mit Vermögensgegenständen mit legalem Ursprung vermischt wurde; der Einziehung unterliegen Vermögensgegenstände bis zur Höhe des Wertes des umfassten direkten Ertrags zuzüglich der Vermögensmehrungen, die mit der Verfügung oder der Umwandlung des direkten Ertrags und dem Einbringen des direkten Ertrags in das Vermögen unmittelbar verbunden sind.“

13. Art. 354а NK (Erstveröffentlichung: DV Nr. 95/1975; geändert: DV Nr. 28/1982, Nr. 10/1993, Nr. 62/1997, Nr. 21/2000, Nr. 26/2004 und Nr. 75/2006) bestimmt:

„(1) Wer ohne ordnungsgemäße Erlaubnis Betäubungsmittel oder analoge Stoffe herstellt, verarbeitet, erwirbt oder besitzt, um diese zu verbreiten, oder Betäubungsmittel oder analoge Stoffe verbreitet, wird bei hoch gefährlichen Betäubungsmitteln oder analogen Stoffen mit Freiheitsstrafe von zwei bis acht Jahren und mit Geldstrafe von 5 000 bis 20 000 bulgarischen Leva (BGN) (ca. 2 500 bis 10 000 Euro) und bei hoch gefährlichen Betäubungsmitteln oder analogen Stoffen, mit...

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