Opinion of Advocate General Tanchev delivered on 6 May 2021.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2021:366
Date06 May 2021
Celex Number62019CC0791
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

EVGENI TANCHEV

vom 6. Mai 2021(1)

Rechtssache C791/19

Europäische Kommission

gegen

Republik Polen

„Verstoß eines Mitgliedstaats gegen seine Verpflichtungen – Nationale Maßnahmen zur Einführung einer Disziplinarregelung für Richter – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Rechtsstaatsprinzip – Richterliche Unabhängigkeit – Definition der Disziplinarvergehen – Prüfung durch ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht – Angemessene Frist – Verteidigungsrechte – Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 267 AEUV – Einschränkung des Rechts nationaler Gerichte auf Vorlage zur Vorabentscheidung“






I. Einleitung

1. In dieser Sache hat die Europäische Kommission ein Verfahren gemäß Art. 258 AEUV gegen die Republik Polen eingeleitet wegen nationaler Maßnahmen zur Einführung der neuen Disziplinarregelung für Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen; im Folgenden: Oberstes Gericht) und an den ordentlichen Gerichten, die 2017 gesetzlich beschlossen wurde(2), die ihrer Ansicht nach gegen deren Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV verstoßen.

2. Im Einzelnen führt die Kommission im Wesentlichen vier Gründe für den Verstoß der Republik Polen gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV an: erstens die disziplinarische Ahndung des Inhalts von Gerichtsentscheidungen; zweitens die fehlende Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Izba Dyscyplinarna Sądu Nawyższego (Disziplinarkammer des Obersten Gerichts, Polen; im Folgenden: Disziplinarkammer); drittens das dem Vorsitzenden der Disziplinarkammer eingeräumte Ermessen bei der Bestimmung des zuständigen Disziplinargerichts, so dass Disziplinarverfahren nicht durch ein durch Gesetz errichtetes Gericht entschieden werden; sowie viertens die fehlende Gewährleistung der Prüfung von Disziplinarverfahren innerhalb einer angemessenen Frist wie auch der Verteidigungsrechte der beschuldigten Richter, so wie diese Rechte in den Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankert sind.

3. Die Kommission macht ferner geltend, die Republik Polen habe gegen Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV verstoßen, weil das Recht der nationalen Gerichte auf Vorlage zur Vorabentscheidung dadurch, dass gegen die von diesem Recht Gebrauch machenden Richter disziplinarrechtlich vorgegangen werden könne, eingeschränkt sei.

4. Dieser Fall ist im Zusammenhang mit der steigenden Anzahl von Rechtssachen zu sehen, in denen der Gerichtshof wegen der Gesetzesänderungen, die die richterliche Unabhängigkeit in Polen beeinträchtigen, angerufen wurde(3), in denen es unter anderem um die Unabhängigkeit der Disziplinarkammer (Urteil vom 19. November 2019 in der Rechtssache A. K. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts](4)) sowie um andere Aspekte der neuen Disziplinarregelung für Richter (siehe Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny [Disziplinarregelung für Richter](5)) ging. Bekanntermaßen veranlassten diese Änderungen, die international weithin auf Kritik stießen(6), die Kommission zu einem begründeten Vorschlag nach Art. 7 Abs. 1 EUV zur Rechtsstaatlichkeit in Polen(7).

5. In der Tat ist dieser Fall bereits die dritte von der Kommission gemäß Art. 258 AEUV gegen die Republik Polen erhobene Klage, in der sie dieser vorwirft, mit den Gesetzesänderungen gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen zu haben(8). Mit seinen ersten beiden Urteilen vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts)(9), und vom 5. November 2019, Kommission/Polen (Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte)(10), hat der Gerichtshof im Wesentlichen – im Einklang mit der in meinen Schlussanträgen in diesen Rechtssachen vertretenen Auffassung – entschieden, dass Maßnahmen wie die Herabsetzung des Ruhestandsalters der Richter am Obersten Gericht und an den ordentlichen Gerichten wie auch die Ermächtigung des Präsidenten der Republik Polen (im Folgenden: Präsident der Republik) und des Justizministers, die Fortsetzung der Amtstätigkeit dieser Richter über das Ruhestandsalter hinaus zu genehmigen, nicht mit den sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergebenden Verpflichtungen der Republik Polen vereinbar sind, da sie den durch diese Bestimmung garantierten Grundsätzen der richterlichen Unabhängigkeit und der Unabsetzbarkeit der Richter zuwiderlaufen.

6. Für die Unionsrechtsordnung ist diese Rechtssache zweifellos von grundlegender Bedeutung. Eine Disziplinarregelung für Richter ist, allgemein gesagt, ein Regelwerk, das zur Ahndung schwerwiegenden richterlichen Fehlverhaltens ermächtigt und so zur Stärkung des öffentlichen Vertrauens in die Gerichte beiträgt(11). Allerdings sollten ausreichende Garantien vorgesehen sein, damit die Androhung oder Verhängung möglicher Sanktionen nicht die richterliche Unabhängigkeit untergräbt. Eine solche Regelung steht deshalb im Zusammenhang mit der Rechtsstaatlichkeit und damit wiederum mit der Funktionsweise und Zukunft der Unionsgerichtsbarkeit, die auf dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten gründet.

7. Somit bietet die vorliegende Rechtssache dem Gerichtshof Gelegenheit, seine Rechtsprechung zur Vereinbarkeit von Maßnahmen eines Mitgliedstaats zur Organisation seines Justizsystems (insbesondere der Disziplinarregelung für Richter) mit den sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergebenden Anforderungen weiterzuentwickeln, um einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz und die Achtung der Rechtsstaatlichkeit in der Unionsrechtsordnung sicherzustellen. Die vorliegende Rechtssache wirft auch wichtige Fragen zum Zusammenspiel von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und den Art. 47 und 48 der Charta in diesem Kontext auf.

8. In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich darlegen, weshalb der vorliegenden Vertragsverletzungsklage meines Erachtens stattzugeben ist.

II. Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht

9. Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten schaffen die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.“

10. Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV bestimmt:

„Wird eine solche Frage vor einem Gericht eines Mitgliedstaats gestellt, so kann dieses Gericht, wenn es eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich hält, diese Frage dem Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen.

Wird eine solche Frage in einem schwebenden Verfahren bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, so ist dieses Gericht zur Anrufung des Gerichtshofes verpflichtet.“

B. Polnisches Recht

1. Gesetz über das Oberste Gericht

11. Die Änderungen des polnischen Rechts, die die neue Disziplinarregelung für die Richter am Obersten Gericht und an den ordentlichen Gerichten betrafen, um die es in der vorliegenden Sache geht, wurden durch das Ustawa o Sądzie Najwyższym (Gesetz über das Oberste Gericht) vom 8. Dezember 2017 (Dz. U. 2018, Pos. 5) in geänderter Fassung (im Folgenden: Gesetz über das Oberste Gericht) eingeführt, das am 3. April 2018 in Kraft trat.

12. Durch Art. 3 Abs. 4 und 5 des Gesetzes über das Oberste Gericht wurden zwei neue Kammern des Obersten Gerichtshofs eingerichtet: die Izba Kontroli Nadzwyczajnej i Spraw Publicznych (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, Polen; im Folgenden: Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten) und die Disziplinarkammer.

13. Art. 27 des Gesetzes über das Oberste Gericht sieht vor:

„§ 1. Die Disziplinarkammer ist zuständig für:

1) Disziplinarverfahren,

a) die Richter am Obersten Gericht betreffen;

b) die beim Obersten Gericht in Disziplinarverfahren anhängig sind, die auf der Grundlage folgender Gesetze betrieben werden:

– Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit vom 27. Juli 2001,

…“

14. Art. 73 des Gesetzes über das Oberste Gericht bestimmt:

㤠1. Disziplinargerichte in Disziplinarsachen gegen Richter des Obersten Gerichts sind:

1) im ersten Rechtszug – das Oberste Gericht in der Besetzung mit zwei Richtern der Disziplinarkammer und einem ehrenamtlichen Richter des Obersten Gerichts;

2) im zweiten Rechtszug – das Oberste Gericht in der Besetzung mit drei Richtern der Disziplinarkammer und zwei ehrenamtlichen Richtern des Oberstes Gerichts.“

15. Art. 97 des Gesetzes über das Oberste Gericht sieht vor:

„§ 1. Stellt das Oberste Gericht bei der Prüfung eines Verfahrens einen offenkundigen Verstoß gegen die Vorschriften fest, richtet es – unabhängig von seinen weiteren Befugnissen – eine Fehlerfeststellung an das betreffende Gericht. Zuvor ist es verpflichtet, den oder die Richter des Spruchkörpers über die Möglichkeit zu informieren, sich innerhalb einer Frist von 7 Tagen schriftlich zu erklären. Die Aufdeckung und die Feststellung eines Fehlers haben keine Auswirkung auf den Ausgang des Verfahrens.

3. Übermittelt das Oberste Gericht eine Fehlerfeststellung, kann es die Prüfung eines Disziplinarverfahrens bei einem Disziplinargericht beantragen. Disziplinargericht des ersten Rechtszugs ist das Oberste Gericht.“

2. Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit

16. Die Disziplinarregelung für die Richter an den ordentlichen Gerichten ist auch durch die Ustawa – Prawo o ustroju sądów powszechnych (Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit) vom 27. Juli 2001 (Dz. U. 2001, Nr. 98, Pos. 1070) in der u. a. durch das Gesetz über das Oberste Gericht geänderten Fassung (im Folgenden: Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit) geregelt.

17. In Art. 107 § 1 des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit in der für den Sachverhalt maßgeblichen Fassung(12) heißt es:

„Ein Richter kann für Fehlverhalten im Amt (Disziplinarvergehen), u. a. wegen offensichtlicher und grober Missachtung der...

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