Opinion of Advocate General Kokott delivered on 19 January 2023.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2023:39
Date19 January 2023
Celex Number62021CC0721
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 19. Januar 2023(1)

Rechtssache C721/21

Eco Advocacy CLG

(Vorabentscheidungsersuchen des High Court [Hoher Gerichtshof, Irland])

„Vorabentscheidungsersuchen – Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten – Effektivitätsgrundsatz – Anforderungen an das schriftliche Vorbringen vor dem innerstaatlichen Gericht – Umwelt – Richtlinie 2011/92/EU – Umweltverträglichkeitsprüfung – Vorprüfung der Notwendigkeit einer Prüfung – Begründung – Richtlinie 92/43/EWG – Art. 6 Abs. 3 – Angemessene Verträglichkeitsprüfung – Vorprüfung der Notwendigkeit einer Prüfung – Maßnahmen zur Schadensminderung – Widerlegung von Zweifeln“






I. Einleitung

1. Das Unionsrecht verlangt verschiedene Prüfungen der Umweltauswirkungen von bestimmten Plänen und Projekten. Die Umweltverträglichkeitsprüfung nach der UVP-Richtlinie(2) und die angemessene(3) Verträglichkeitsprüfung nach der Habitatrichtlinie(4) sind die wohl bekanntesten Beispiele dafür.

2. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen betrifft vor allem bestimmte formale Anforderungen an die Vorprüfung, ob die genannten Prüfungen überhaupt notwendig sind. Zu klären ist bei beiden Richtlinien, ob die Begründung der Entscheidung, auf die eigentliche Prüfung zu verzichten, ausdrücklich kenntlich gemacht werden muss und ob diese Begründung im Fall der Umweltverträglichkeitsprüfung ausdrücklich alle Kriterien aufführen muss, die nach der UVP-Richtlinie zu berücksichtigen sind. In Bezug auf die Vorprüfung bei der Habitatrichtlinie ist außerdem zu erörtern, ob bestimmte Maßnahmen zur Minderung von Schäden berücksichtigt werden dürfen und ob die Begründung einer Entscheidung, keine angemessene Verträglichkeitsprüfung durchzuführen, bestimmte Einwände widerlegen muss.

3. Darüber hinaus soll der Gerichtshof über die Anforderungen entscheiden, die an das Vorbringen der Kläger vor dem innerstaatlichen Gericht zu stellen sind. Dabei zeigt sich ein ähnliches Problem wie bei der Begründung der Vorprüfungsentscheidung: Möglicherweise haben die Kläger den Klagegrund, diese Begründung sei nicht ausreichend klar dargestellt, selbst nicht ausreichend klar vorgetragen.

4. Ich werde nachfolgend darlegen, dass die Vorgaben des Unionsrechts zum gerichtlichen Vorbringen und dem formalen Rahmen der Begründung sehr begrenzt sind. Es obliegt im Wesentlichen den Mitgliedstaaten, entsprechende Regelungen zu treffen, und den innerstaatlichen Gerichten, das jeweilige Vorbringen von Beteiligten und die entsprechenden Angaben in der streitigen Entscheidung zu würdigen.

II. Rechtlicher Rahmen

A. UVP-Richtlinie

5. Art. 4 der UVP-Richtlinie legt fest, wie darüber zu entscheiden ist, ob eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt wird:

„(2) Bei Projekten des Anhangs II bestimmen die Mitgliedstaaten vorbehaltlich des Art. 2 Abs. 4, ob das Projekt einer Prüfung gemäß den Art. 5 bis 10 unterzogen werden muss. Die Mitgliedstaaten treffen diese Entscheidung anhand

a) einer Einzelfalluntersuchung

oder

b) der von den Mitgliedstaaten festgelegten Schwellenwerte bzw. Kriterien.

Die Mitgliedstaaten können entscheiden, beide unter den Buchstaben a und b genannten Verfahren anzuwenden.

(3) Bei der Einzelfalluntersuchung oder der Festlegung von Schwellenwerten bzw. Kriterien für die Zwecke des Abs. 2 sind die relevanten Auswahlkriterien des Anhangs III zu berücksichtigen. Die Mitgliedstaaten können Schwellenwerte oder Kriterien festlegen, bei deren Erfüllung Projekte weder der Feststellung gemäß den Abs. 4 und 5 noch einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterliegen, und/oder Schwellenwerte oder Kriterien, bei deren Erfüllung Projekte in jedem Fall einer Umweltverträglichkeitsprüfung ohne Durchführung einer Feststellung gemäß den Absätzen 4 und 5 unterliegen.

(4) …

(5) Die zuständige Behörde trifft die Feststellung auf der Grundlage der vom Projektträger gemäß Abs. 4 gelieferten Informationen, wobei sie gegebenenfalls die Ergebnisse von vorgelagerten Prüfungen oder aufgrund anderer Unionsgesetzgebung als dieser Richtlinie durchgeführten Prüfungen der Umweltauswirkungen berücksichtigt. Die Feststellung wird der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und es werden darin

a) unter Verweis auf die einschlägigen Kriterien in Anhang III die wesentlichen Gründe für die Entscheidung angegeben, eine Umweltverträglichkeitsprüfung vorzuschreiben, oder

b) unter Verweis auf die einschlägigen Kriterien in Anhang III die wesentlichen Gründe für die Entscheidung angegeben, keine Umweltverträglichkeitsprüfung vorzuschreiben, und, sofern vom Projektträger vorgelegt, alle Aspekte des Projekts und/oder Maßnahmen, mit denen erhebliche nachteilige Auswirkungen auf die Umwelt vermieden oder verhindert werden sollen.“

6. Anhang III der UVP-Richtlinie enthält die Auswahlkriterien für die Entscheidung nach Art. 4 Abs. 3:

„1. Merkmale der Projekte

Die Merkmale der Projekte sind insbesondere hinsichtlich folgender Punkte zu beurteilen:

a) Größe und Ausgestaltung des gesamten Projekts;

b) Kumulierung mit anderen bestehenden und/oder genehmigten Projekten und Tätigkeiten;

c) Nutzung natürlicher Ressourcen, insbesondere Flächen, Boden, Wasser und biologische Vielfalt;

d) Abfallerzeugung;

e) Umweltverschmutzung und Belästigungen;

f) Risiken schwerer Unfälle und/oder von Katastrophen, die für das betroffene Projekt relevant sind, einschließlich solcher, die wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge durch den Klimawandel bedingt sind;

g) Risiken für die menschliche Gesundheit (z. B. durch Wasserverunreinigungen oder Luftverschmutzung).

2. Standort der Projekte

Die ökologische Empfindlichkeit der geografischen Räume, die durch die Projekte möglicherweise beeinträchtigt werden, muss unter Berücksichtigung insbesondere folgender Punkte beurteilt werden:

a) bestehende und genehmigte Landnutzung;

b) Reichtum, Verfügbarkeit, Qualität und Regenerationsfähigkeit der natürlichen Ressourcen (einschließlich Boden, Flächen, Wasser und biologische Vielfalt) des Gebiets und seines Untergrunds;

c) Belastbarkeit der Natur unter besonderer Berücksichtigung folgender Gebiete:

i) Feuchtgebiete, ufernahe Bereiche, Flussmündungen,

ii) Küstengebiete und Meeresumwelt,

iii) Bergregionen und Waldgebiete,

iv) Naturreservate und ‑parks;

v) durch die einzelstaatliche Gesetzgebung ausgewiesene Schutzgebiete; von den Mitgliedstaaten gemäß der … [Habitatrichtlinie] und der … [Vogelschutzrichtlinie(5)] ausgewiesene Natura-2000-Gebiete;

vi) Gebiete, in denen die für das Projekt relevanten und in der Unionsgesetzgebung festgelegten Umweltqualitätsnormen bereits nicht eingehalten wurden oder bei denen von einer solchen Nichteinhaltung ausgegangen wird;

vii) Gebiete mit hoher Bevölkerungsdichte,

viii) historisch, kulturell oder archäologisch bedeutende Landschaften und Stätten.

3. Art und Merkmale der potenziellen Auswirkungen

Die möglichen erheblichen Auswirkungen der Projekte auf die Umwelt sind anhand der in den Nummern 1 und 2 dieses Anhangs aufgeführten Kriterien zu beurteilen; insbesondere ist den Auswirkungen des Projekts auf die in Artikel 3 Absatz 1 genannten Faktoren unter Berücksichtigung der folgenden Punkte Rechnung zu tragen:

a) Umfang und räumliche Ausdehnung der Auswirkungen (beispielsweise geografisches Gebiet und Anzahl der voraussichtlich betroffenen Personen);

b) Art der Auswirkungen;

c) grenzüberschreitender Charakter der Auswirkungen;

d) Schwere und Komplexität der Auswirkungen;

e) Wahrscheinlichkeit von Auswirkungen;

f) erwarteter Zeitpunkt des Eintretens, Dauer, Häufigkeit und Reversibilität der Auswirkungen;

g) Kumulierung der Auswirkungen mit den Auswirkungen anderer bestehender und/oder genehmigter Projekte;

h) Möglichkeit, die Auswirkungen wirksam zu verringern.“

B. Habitatrichtlinie

7. Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie regelt die sogenannte Verträglichkeitsprüfung:

„Pläne oder Projekte, die nicht unmittelbar mit der Verwaltung des Gebietes in Verbindung stehen oder hierfür nicht notwendig sind, die ein solches Gebiet jedoch einzeln oder in Zusammenwirkung mit anderen Plänen und Projekten erheblich beeinträchtigen könnten, erfordern eine Prüfung auf Verträglichkeit mit den für dieses Gebiet festgelegten Erhaltungszielen. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Verträglichkeitsprüfung und vorbehaltlich des Abs. 4 stimmen die zuständigen einzelstaatlichen Behörden dem Plan bzw. Projekt nur zu, wenn sie festgestellt haben, dass das Gebiet als solches nicht beeinträchtigt wird, und nachdem sie gegebenenfalls die Öffentlichkeit angehört haben.“

III. Sachverhalt und Vorabentscheidungsersuchen

8. Die Klage richtet sich auf die gerichtliche Überprüfung der Gültigkeit einer Genehmigung, die von An Bord Pleanála (irische Planungsbehörde, im Folgenden: Board), für ein Wohnungsbauprojekt in Trim, Grafschaft Meath, erteilt worden ist. Das Vorhaben umfasst den Bau von 320 Wohnungen auf dem Charterschool Land, Manorlands.

9. Nach verschiedenen informellen Kontakten wurde der formale Plangenehmigungsantrag für das vorliegende Projekt am 8. Juli 2020 gestellt. Der Entwurf sieht vor, dass bestimmte Vorkehrungen zur Reinigung von Oberflächenabflusswasser getroffen werden, bevor dieses in einen Bach eingeleitet wird, der ein Zufluss des Flusses Boyne ist.

10. Der Boyne selbst verläuft ungefähr 640 Meter nördlich des Projekts. Er ist Teil des Schutzgebiets nach der Vogelschutzrichtlinie, der „River Boyne and River Blackwater Special Protection Area“ (IE0004232), für das dem Eisvogel (Alcedo atthis) [A229] „qualifying interest“ (besondere Bedeutung) zukommt. Das Gebiet wird von einem Schutzgebiet nach der Habitatrichtlinie überlagert, der „River Boyne and River Blackwater Special Area of Conservation“ (IE0002299). Den Lebensraumtypen kalkreiche Niedermoore [7230] und Auwälder mit Alnus glutinosa und Fraxinus excelsior (Alno-Padion, Alnion incanae, Salicion albae) [91E0] sowie den Tierarten Lampetra fluviatilis (Flussneunauge) [1099], Salmo salar (Lachs) [1106] und Lutralutra (Otter) [1355] kommen...

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