XXXX v Sozialministeriumservice.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2024:292
Date11 April 2024
Docket NumberC-116/23
Celex Number62023CJ0116
CourtCourt of Justice (European Union)
62023CJ0116

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

11. April 2024 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Soziale Sicherheit – Wanderarbeitnehmer – Familienleistungen – Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – Art. 3 – Leistungen bei Krankheit – Geltungsbereich – Pflegekarenzgeld – Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der in einem anderen Mitgliedstaat wohnt und arbeitet und einen Familienangehörigen in seinem Herkunftsmitgliedstaat pflegt – Akzessorietät zum Pflegegeld – Art. 4 – Gleichbehandlung“

In der Rechtssache C‑116/23

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Österreich) mit Beschluss vom 23. Februar 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Februar 2023, in dem Verfahren

XXXX,

Beteiligter:

Sozialministeriumservice,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten F. Biltgen sowie des Richters N. Wahl und der Richterin M. L. Arastey Sahún (Berichterstatterin),

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von XXXX, vertreten durch K. Mayr und D. Menkovic als Bevollmächtigte,

der österreichischen Regierung, vertreten durch J. Schmoll und C. Leeb als Bevollmächtigte,

der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Clotuche-Duvieusart und B.‑R. Killmann als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 18 AEUV, Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), der Art. 3, 4, 7 und 21 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, berichtigt in ABl. 2004, L 200, S. 1) sowie des Effektivitätsgrundsatzes.

2

Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen XXXX und dem Sozialministeriumservice (Österreich) über die Weigerung des Sozialministeriumservice, XXXX Pflegekarenzgeld zuzuerkennen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Verordnung Nr. 883/2004

3

Die Erwägungsgründe 8, 9, 12 und 16 der Verordnung Nr. 883/2004 lauten:

„(8)

Der allgemeine Grundsatz der Gleichbehandlung ist für Arbeitnehmer, die nicht im Beschäftigungsmitgliedstaat wohnen, einschließlich Grenzgängern, von besonderer Bedeutung.

(9)

Der Gerichtshof hat mehrfach zur Möglichkeit der Gleichstellung von Leistungen, Einkünften und Sachverhalten Stellung genommen; dieser Grundsatz sollte explizit aufgenommen und ausgeformt werden, wobei Inhalt und Geist der Gerichtsentscheidungen zu beachten sind.

(12)

Im Lichte der Verhältnismäßigkeit sollte sichergestellt werden, dass der Grundsatz der Gleichstellung von Sachverhalten oder Ereignissen nicht zu sachlich nicht zu rechtfertigenden Ergebnissen oder zum Zusammentreffen von Leistungen gleicher Art für denselben Zeitraum führt.

(16)

Innerhalb der Gemeinschaft ist es grundsätzlich nicht gerechtfertigt, Ansprüche der sozialen Sicherheit vom Wohnort der betreffenden Person abhängig zu machen; in besonderen Fällen jedoch – vor allem bei besonderen Leistungen, die an das wirtschaftliche und soziale Umfeld der betreffenden Person gebunden sind – könnte der Wohnort berücksichtigt werden.“

4

Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 sieht vor:

„Diese Verordnung gilt für alle Rechtsvorschriften, die folgende Zweige der sozialen Sicherheit betreffen:

a)

Leistungen bei Krankheit;

h)

Leistungen bei Arbeitslosigkeit;

…“

5

In Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 heißt es:

„Sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, haben Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates.“

6

Art. 5 der Verordnung Nr. 883/2004 bestimmt:

„Sofern in dieser Verordnung nicht anderes bestimmt ist, gilt unter Berücksichtigung der besonderen Durchführungsbestimmungen Folgendes:

a)

Hat nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats der Bezug von Leistungen der sozialen Sicherheit oder sonstiger Einkünfte bestimmte Rechtswirkungen, so sind die entsprechenden Rechtsvorschriften auch bei Bezug von nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gewährten gleichartigen Leistungen oder bei Bezug von in einem anderen Mitgliedstaat erzielten Einkünften anwendbar.

b)

Hat nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats der Eintritt bestimmter Sachverhalte oder Ereignisse Rechtswirkungen, so berücksichtigt dieser Mitgliedstaat die in einem anderen Mitgliedstaat eingetretenen entsprechenden Sachverhalte oder Ereignisse, als ob sie im eigenen Hoheitsgebiet eingetreten wären.“

7

In Art. 7 der Verordnung Nr. 883/2004 heißt es:

„Sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, dürfen Geldleistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten oder nach dieser Verordnung zu zahlen sind, nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, dass der Berechtigte oder seine Familienangehörigen in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt bzw. wohnen, in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat.“

8

Art. 11 der Verordnung Nr. 883/2004 bestimmt:

„(1) Personen, für die diese Verordnung gilt, unterliegen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften dies sind, bestimmt sich nach diesem Titel.

(3) Vorbehaltlich der Artikel 12 bis 16 gilt Folgendes:

a)

eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats;

…“

9

Art. 21 der Verordnung Nr. 883/2004 sieht vor:

„(1) Ein Versicherter und seine Familienangehörigen, die in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat wohnen oder sich dort aufhalten, haben Anspruch auf Geldleistungen, die vom zuständigen Träger nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften erbracht werden. Im Einvernehmen zwischen dem zuständigen Träger und dem Träger des Wohn- oder Aufenthaltsorts können diese Leistungen jedoch vom Träger des Wohn- oder Aufenthaltsorts nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats für Rechnung des zuständigen Trägers erbracht werden.

…“

Verordnung (EU) Nr. 492/2011

10

Art. 7 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. 2011, L 141, S. 1) bestimmt:

„(1) Ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, darf aufgrund seiner Staatsangehörigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten hinsichtlich der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, insbesondere im Hinblick auf Entlohnung, Kündigung und, falls er arbeitslos geworden ist, im Hinblick auf berufliche Wiedereingliederung oder Wiedereinstellung, nicht anders behandelt werden als die inländischen Arbeitnehmer.

(2) Er genießt dort die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer.“

Österreichisches Recht

AVRAG

11

§ 14a Abs. 1 des Arbeitsvertragsrechts-Anpassungsgesetzes (BGBl. 459/1993) in der für den Ausgangsrechtsstreit maßgeblichen Fassung (im Folgenden: AVRAG) sieht vor:

„Der Arbeitnehmer kann schriftlich eine Herabsetzung, eine Änderung der Lage der Normalarbeitszeit oder eine Freistellung gegen Entfall des Arbeitsentgelts zum Zwecke der Sterbebegleitung eines nahen Angehörigen … für einen bestimmten, drei Monate nicht übersteigenden Zeitraum unter Bekanntgabe von Beginn und Dauer verlangen, auch wenn kein gemeinsamer Haushalt mit dem nahen Angehörigen gegeben ist. …“

12

§ 14c Abs. 1 AVRAG bestimmt:

„Arbeitnehmer/innen und Arbeitgeber/innen können, sofern das Arbeitsverhältnis ununterbrochen drei Monate gedauert hat, schriftlich eine Pflegekarenz gegen Entfall des Arbeitsentgeltes zum Zwecke der Pflege oder Betreuung eines/einer nahen Angehörigen im Sinne des § 14a, dem/der zum Zeitpunkt des Antritts der Pflegekarenz Pflegegeld ab der Stufe 3 nach § 5 des Bundespflegegeldgesetzes (BPGG), BGBl. Nr. 110/1993 [in der für den Ausgangsrechtsstreit maßgeblichen Fassung, im Folgenden: BPGG], gebührt, für die Dauer von mindestens einem Monat bis zu drei Monaten vereinbaren. …“

BPGG

13

In § 3a BPGG heißt es:

„(1) Anspruch auf Pflegegeld nach Maßgabe der Bestimmungen dieses Bundesgesetzes besteht auch ohne Grundleistung gemäß § 3 Abs. 1 und 2 für österreichische Staatsbürger, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben, sofern nach der Verordnung … Nr. 883/2004 … nicht ein anderer Mitgliedstaat für Pflegeleistungen zuständig ist.

(2) Den österreichischen Staatsbürgern sind gleichgestellt:

1.

Fremde, die nicht unter eine der folgenden Ziffern fallen, insoweit sich eine Gleichstellung aus Staatsverträgen oder Unionsrecht ergibt, oder

3.

Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht … verfügen, …

…“

14

§ 21c BPGG bestimmt:

„(1) Personen, die eine Pflegekarenz gemäß § 14c AVRAG vereinbart haben … gebührt für die Dauer der Pflegekarenz, höchstens aber für drei Monate, ein...

To continue reading

Request your trial

VLEX uses login cookies to provide you with a better browsing experience. If you click on 'Accept' or continue browsing this site we consider that you accept our cookie policy. ACCEPT