MOMTRADE RUSE LTD v Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“ Varna pri Tsentralno upravlenie na Natsionalnata agentsia za prihodite.

JurisdictionEuropean Union
Date11 May 2023
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

11. Mai 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 132 Abs. 1 Buchst. g – Befreiung von eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundenen Dienstleistungen, die von Einrichtungen erbracht werden, die von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannt sind – Dienstleistungen an einen Nichtsteuerpflichtigen in einem anderen Mitgliedstaat als dem der Niederlassung des Dienstleistungserbringers – Beurteilung der Art der Leistungen und der Voraussetzung, dass es sich um eine als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtung handelt – Bestimmung des maßgebenden nationalen Rechts – Begriff ‚betreffender Mitgliedstaat‘“

In der Rechtssache C‑620/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Varhoven administrativen sad (Oberstes Gericht, Bulgarien) mit Entscheidung vom 27. September 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Oktober 2021, in dem Verfahren

MOMTRADE RUSE OOD

gegen

Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“ Varna pri Tsentralno upravlenie na Natsionalnata agentsia za prihodite

erlässt

DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin M. L. Arastey Sahún (Berichterstatterin) sowie der Richter F. Biltgen und J. Passer,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– des Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“ Varna pri Tsentralno upravlenie na Natsionalnata agentsia za prihodite, vertreten durch S. Petkov,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Drambozova und J. Jokubauskaitė als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 1. Dezember 2022

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2008/8/EG des Rates vom 12. Februar 2008 (ABl. 2008, L 44, S. 11) geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der MOMTRADE RUSE OOD (im Folgenden: Momtrade) und dem Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“ Varna pri Tsentralno upravlenie na Natsionalnata agentsia za prihodite (Direktor der Direktion „Anfechtung und Steuer- und Sozialversicherungspraxis“ Varna bei der Zentralverwaltung der Nationalen Agentur für Einnahmen, Bulgarien) (im Folgenden: Direktor) über einen Mehrwertsteuerbescheid.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Mehrwertsteuerrichtlinie

3 Art. 45 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Als Ort einer Dienstleistung an einen Nichtsteuerpflichtigen gilt der Ort, an dem der Dienstleistungserbringer den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat. Werden diese Dienstleistungen jedoch von der festen Niederlassung des Dienstleistungserbringers, die an einem anderen Ort als dem des Sitzes seiner wirtschaftlichen Tätigkeit gelegen ist, aus erbracht, so gilt als Ort dieser Dienstleistungen der Sitz der festen Niederlassung. In Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen festen Niederlassung gilt als Ort der Dienstleistung der Wohnsitz oder der gewöhnliche Aufenthaltsort des Dienstleistungserbringers.“

4 Titel IX der Mehrwertsteuerrichtlinie betrifft die Mehrwertsteuerbefreiungen.

5 Art. 131 in Kapitel 1 („Allgemeine Bestimmungen“) des Titels IX der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Die Steuerbefreiungen der Kapitel 2 bis 9 werden unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften und unter den Bedingungen angewandt, die die Mitgliedstaaten zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung dieser Befreiungen und zur Verhinderung von Steuerhinterziehung, Steuerumgehung oder Missbrauch festlegen.“

6 Kapitel 2 („Steuerbefreiungen für bestimmte, dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten“) des Titels IX der Mehrwertsteuerrichtlinie umfasst deren Art. 132 bis 134.

7 Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:

g) eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen, einschließlich derjenigen, die durch Altenheime, Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen bewirkt werden“.

8 Art. 133 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten können die Gewährung der Befreiungen nach Artikel 132 Absatz 1 Buchstaben b, g, h, i, l, m und n für Einrichtungen, die keine Einrichtungen des öffentlichen Rechts sind, im Einzelfall von der Erfüllung einer oder mehrerer der folgenden Bedingungen abhängig machen:

a) Die betreffenden Einrichtungen dürfen keine systematische Gewinnerzielung anstreben; etwaige Gewinne, die trotzdem anfallen, dürfen nicht verteilt, sondern müssen zur Erhaltung oder Verbesserung der erbrachten Leistungen verwendet werden.

b) Leitung und Verwaltung dieser Einrichtungen müssen im Wesentlichen ehrenamtlich durch Personen erfolgen, die weder selbst noch über zwischengeschaltete Personen ein unmittelbares oder mittelbares Interesse am wirtschaftlichen Ergebnis der betreffenden Tätigkeiten haben.

c) Die Preise, die diese Einrichtungen verlangen, müssen von den zuständigen Behörden genehmigt sein oder die genehmigten Preise nicht übersteigen; bei Umsätzen, für die eine Preisgenehmigung nicht vorgesehen ist, müssen die verlangten Preise unter den Preisen liegen, die der Mehrwertsteuer unterliegende gewerbliche Unternehmen für entsprechende Umsätze fordern.

d) Die Befreiungen dürfen nicht zu einer Wettbewerbsverzerrung zum Nachteil von der Mehrwertsteuer unterliegenden gewerblichen Unternehmen führen.

…“

9 Art. 134 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„In folgenden Fällen sind Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen von der Steuerbefreiung des Artikels 132 Absatz 1 Buchstaben b, g, h, i, l, m und n ausgeschlossen:

a) [S]ie sind für die Umsätze, für die die Steuerbefreiung gewährt wird, nicht unerlässlich;

b) sie sind im Wesentlichen dazu bestimmt, der Einrichtung zusätzliche Einnahmen durch Umsätze zu verschaffen, die in unmittelbarem Wettbewerb mit Umsätzen von der Mehrwertsteuer unterliegenden gewerblichen Unternehmen bewirkt werden.“

Richtlinie 2008/8

10 In den Erwägungsgründen 3 und 5 der Richtlinie 2008/8/EG des Rates vom 12. Februar 2008 zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG bezüglich des Ortes der Dienstleistung (ABl. 2008, L 44, S. 11) heißt es:

„(3) Alle Dienstleistungen sollten grundsätzlich an dem Ort besteuert werden, an dem der tatsächliche Verbrauch erfolgt. Allerdings wären auch bei einer entsprechenden Änderung dieser Grundregel für die Bestimmung des Ortes der Dienstleistung sowohl aus verwaltungstechnischen als auch aus politischen Gründen noch gewisse Ausnahmen davon erforderlich.

(5) Bei Dienstleistungen an Nichtsteuerpflichtige sollte die Grundregel weiterhin lauten, dass als Ort der Dienstleistung der Ort gilt, an dem der Dienstleistungserbringer den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat.“

Bulgarisches Recht

Verfassung der Republik Bulgarien

11 Art. 26 Abs. 2 der Verfassung der Republik Bulgarien sieht vor:

„Ausländer, die sich in der Republik Bulgarien aufhalten, haben alle in der Verfassung festgelegten Rechte und Pflichten, mit Ausnahme der Rechte und Pflichten, für die nach der Verfassung und dem Gesetz die bulgarische Staatsangehörigkeit vorgeschrieben ist.“

Steuer- und Sozialversicherungsverfahrensordnung

12 Art. 122 Abs. 1 des Danachno-osiguritelen protsesualen kodeks (Steuer- und Sozialversicherungsverfahrensordnung) in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung bestimmt:

„Die Steuerverwaltung kann unter folgenden Umständen den Steuerbetrag anwenden, der nach dem entsprechenden Gesetz anhand der von ihr selbst ermittelten Bemessungsgrundlage nach Abs. 2 bestimmt wird:

3. wenn in der Buchführung falsche oder unrichtige Unterlagen verwendet wurden;

4. wenn es keine dem Zakon za schetovodstvoto [(Gesetz über das Rechnungswesen)] entsprechende Buchführung gibt oder sie nicht vorgelegt wurde oder wenn die Buchführung nicht die Bestimmung der Steuerbemessungsgrundlage ermöglicht und wenn die für die Bestimmung der Steuerbemessungsgrundlage oder der Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung erforderlichen Unterlagen gesetzeswidrig vernichtet worden sind;

…“

ZDDS

13 Art. 21 Abs. 1 des Zakon za danak varhu dobavenata stoynost (Mehrwertsteuergesetz) (DV Nr. 63 vom 4. August 2006) in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: ZDDS) lautet:

„Ist der Dienstleistungsempfänger eine nicht steuerpflichtige Person, so gilt als Ort der Erbringung der Dienstleistung der Ort, an dem der Dienstleistungserbringer den Sitz seiner selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit hat.“

14 Art. 38 ZDDS lautet:

„(1) Von der Steuer befreit sind die in diesem Kapitel genannten Umsätze.

(2) Befreit sind auch innergemeinschaftliche Umsätze, die nach diesem Kapitel befreit wären, wenn sie im Inland bewirkt worden wären.

(3) Befreit ist auch jeder innergemeinschaftliche Erwerb von Gegenständen, deren Lieferung im Inland gemäß diesem Kapitel befreit ist.

…“

15 Art. 40 ZDDS bestimmt:

„Ein von der Steuer befreiter Umsatz ist:

1. die Erbringung sozialer Dienstleistungen im Sinne des Zakon za sotsialno podpomagane [(Gesetz über die Sozialhilfe)];

…“

16 Art. 67 ZDDS sieht vor:

„(1) Der Steuerbetrag wird durch Multiplikation der Steuerbemessungsgrundlage mit dem Steuersatz bestimmt.

(2) Wird bei der Aushandlung des Umsatzes nicht ausdrücklich angegeben, dass die Steuer gesondert geschuldet wird, so gilt sie als im vereinbarten Preis...

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