Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Warszawie v W. Sp. z o.o.

JurisdictionEuropean Union
Date25 May 2023
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer)

25. Mai 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Recht auf Vorsteuerabzug – Versagung – Versagung, die auf die Nichtigkeit des Geschäfts nach nationalem Zivilrecht gestützt ist“

In der Rechtssache C‑114/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) mit Entscheidung vom 23. November 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 18. Februar 2022, in dem Verfahren

Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Warszawie

gegen

W. sp. z o.o.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten D. Gratsias sowie der Richter I. Jarukaitis (Berichterstatter) und Z. Csehi,

Generalanwältin: T. Ćapeta,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– des Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Warszawie, vertreten durch B. Kołodziej, D. Pach und T. Wojciechowski,

– der W. sp. z o.o., vertreten durch M. Kwietko-Bębnowski, Doradca podatkowy,

– der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Armenia und I. Barcew als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 167, Art. 168 Buchst. a, Art. 178 Buchst. a und Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 (ABl. 2010, L 189, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2006/112) im Licht der Grundsätze der Steuerneutralität und der Verhältnismäßigkeit.

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Warszawie (Direktor der Finanzverwaltungskammer Warschau, Polen, im Folgenden: Direktor der Finanzverwaltung) und der W. sp. z o.o. über das Recht auf Abzug der auf einer Rechnung an W. vom 27. Oktober 2015 ausgewiesenen Mehrwertsteuer.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3 In Art. 63 der Richtlinie 2006/112 heißt es:

„[Der] Steueranspruch [tritt] zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird.“

4 Art. 167 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:

„Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.“

5 Art. 168 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:

„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:

a) die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden;

…“

6 In Art. 178 der Richtlinie 2006/112 heißt es:

„Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige folgende Bedingungen erfüllen:

a) für den Vorsteuerabzug nach Artikel 168 Buchstabe a in Bezug auf die Lieferung von Gegenständen oder das Erbringen von Dienstleistungen muss er eine gemäß Titel XI Kapitel 3 Abschnitte 3 bis 6 ausgestellte Rechnung besitzen;

…“

7 Art. 273 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.

Die Möglichkeit nach Absatz 1 darf nicht dazu genutzt werden, zusätzlich zu den in Kapitel 3 genannten Pflichten weitere Pflichten in Bezug auf die Rechnungsstellung festzulegen.“

Polnisches Recht

8 Art. 88 Abs. 3a Nr. 4 Buchst. c der Ustawa o podatku od towarów i usług (Gesetz über die Steuer auf Gegenstände und Dienstleistungen) vom 11. März 2004 (Dz. U. 2011, Nr. 177, Pos. 1054) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) bestimmt:

„3a. Rechnungen und Zollunterlagen berechtigen weder zum Vorsteuerabzug noch zur Erstattung des Steuerüberschusses oder der Vorsteuer, wenn

4) die ausgestellten Rechnungen, berichtigten Rechnungen oder Zollunterlagen

c) Handlungen belegen, auf die die Art. 58 und 83 des Zivilgesetzbuchs Anwendung finden – soweit sie diese Handlungen betreffen.“

9 Art. 58 der Ustawa – Kodeks cywilny (Gesetz über das Zivilgesetzbuch) vom 23. April 1964, konsolidierte Fassung (Dz. U. 2020, Pos. 1740) (im Folgenden: Zivilgesetzbuch) sieht vor:

„§ 1. Ein Rechtsgeschäft, das dem Gesetz zuwiderläuft oder die Umgehung des Gesetzes zum Zweck hat, ist nichtig, es sei denn, dass eine einschlägige Vorschrift eine andere Rechtsfolge vorsieht …

§ 2. Ein Rechtsgeschäft, das den Grundsätzen des gesellschaftlichen Zusammenlebens zuwiderläuft, ist nichtig.

§ 3. Betrifft die Nichtigkeit nur einen Teil des Rechtsgeschäfts, so bleibt das Rechtsgeschäft im Übrigen wirksam, es sei denn, dass sich aus den Umständen ergibt, dass es ohne die nichtigen Bestimmungen nicht vorgenommen worden wäre.“

10 Art. 83 des Zivilgesetzbuchs lautet:

„§ 1. Eine Willenserklärung, die gegenüber einem anderen mit dessen Einverständnis zum Schein abgegeben wird, ist nichtig. Wurde eine solche Erklärung zur Verdeckung eines anderen Rechtsgeschäfts abgegeben, so ist die Wirksamkeit der Erklärung anhand der für dieses Rechtsgeschäft geltenden Bestimmungen zu beurteilen.

§ 2. Die Abgabe einer Willenserklärung nur zum Schein wirkt sich nicht auf die Wirksamkeit eines entgeltlichen Rechtsgeschäfts aus, das auf der Grundlage der zum Schein abgegebenen Erklärung vorgenommen wird, sofern ein Dritter durch dieses Rechtsgeschäft ein Recht erwirbt oder von einer Verpflichtung befreit wird, es sei denn, dieser Dritte hat im bösen Glauben gehandelt.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

11 Am 27. Oktober 2015 stellte die M. sp. z o.o. S.K.A. eine Rechnung über einen der Mehrwertsteuer unterliegenden Markenverkauf an W. aus, die die Mehrwertsteuer erklärte und entrichtete.

12 Mit Bescheid vom 20. Oktober 2017 stellte die Finanzverwaltung das Recht auf Vorsteuerabzug, das W. hinsichtlich dieser Rechnung in Anspruch genommen hatte, auf der Grundlage von Art. 88 Abs. 3a Nr. 4 Buchst. c des Mehrwertsteuergesetzes mit der Begründung in Frage, dass der in Rede stehende Markenverkauf nach Art. 58 § 2 des Zivilgesetzbuchs wegen Verletzung der Grundsätze des gesellschaftlichen Zusammenlebens im Sinne dieser Bestimmung nichtig sei.

13 Dieser Bescheid wurde mit Bescheid des Direktors der Finanzverwaltung vom 11. Oktober 2018 bestätigt, der allerdings der Auffassung war, dass der in Rede stehende Markenverkauf zum Schein im Sinne von Art. 83 des Zivilgesetzbuchs erfolgt sei.

14 W. erhob gegen diesen letztgenannten Bescheid Klage beim Wojewódzki Sąd Administracyjny w Warszawie (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Warschau, Polen), der diesen Bescheid mit Urteil vom 29. Mai 2019 mit der Begründung aufhob, dass die Finanzverwaltung nicht den Beweis erbracht habe, dass das in Rede stehende Geschäft zum Schein erfolgt sei.

15 Der Direktor der Finanzverwaltung legte gegen dieses Urteil beim Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen), dem vorlegenden Gericht, Kassationsbeschwerde ein.

16 Dieses Gericht hat Zweifel an der Vereinbarkeit von Art. 88 Abs. 3a Nr. 4 Buchst. c des Mehrwertsteuergesetzes mit der Richtlinie 2006/112.

17 Aus dieser Richtlinie gehe nicht hervor, dass ein Steuerpflichtiger sein Recht auf Abzug der ihm in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer mit der Begründung verlieren könne, dass das in Rede stehende Geschäft dem nationalen Zivilrecht zuwiderlaufe, da das Recht auf Vorsteuerabzug nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs integraler Bestandteil des Mehrwertsteuersystems sei und grundsätzlich nicht eingeschränkt werden dürfe. Die Autonomie der Mehrwertsteuer gegenüber den Vorschriften des nationalen Zivilrechts und die Neutralität der Mehrwertsteuer sprächen dafür, dass die Nichtigkeit eines Rechtsgeschäfts nach dem nationalen Zivilrecht nicht automatisch zum Ausschluss des Abzugsrechts führen dürfe.

18 Der Rechtsprechung des Gerichtshofs sei zu entnehmen...

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