ANAS SpA v Ministero delle Infrastrutture e dei Trasporti.

JurisdictionEuropean Union
Date08 June 2023
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

8. Juni 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Strukturfonds der Europäischen Union – Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 – Art. 2 Nr. 7 – Begriff ,Unregelmäßigkeit‘ – Art. 98 Abs. 1 und 2 – Finanzielle Berichtigungen durch die Mitgliedstaaten im Rahmen von festgestellten Unregelmäßigkeiten – Anwendbare Kriterien – Richtlinie 2004/18/EG – Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d – Begriff ,schwere Verfehlung im Rahmen der beruflichen Tätigkeit‘“

In der Rechtssache C‑545/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale amministrativo regionale per il Lazio (Regionales Verwaltungsgericht Latium, Italien) mit Entscheidung vom 4. August 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 31. August 2021, in dem Verfahren

Azienda Nazionale Autonoma Strade SpA (ANAS)

gegen

Ministero delle Infrastrutture e dei Trasporti

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe sowie der Richter M. Safjan, N. Piçarra (Berichterstatter), N. Jääskinen und M. Gavalec,

Generalanwalt: A. Rantos,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der Azienda Nazionale Autonoma Strade SpA (ANAS), vertreten durch R. Bifulco, P. Pittori, und E. Scotti, Avvocati,

– der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von D. Di Giorgio, Avvocato dello Stato,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Moro, P. Rossi und G. Wils als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. Dezember 2022

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 des am 26. Juli 1995 in Brüssel unterzeichneten Übereinkommens aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften im Anhang zum Rechtsakt des Rates vom 26. Juli 1995 (ABl. 1995, C 316, S. 48, im Folgenden: SFI-Übereinkommen), von Art. 1 Abs. 2 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 1995, L 312, S. 1), von Art. 70 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates vom 11. Juli 2006 mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds und den Kohäsionsfonds und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1260/1999 (ABl. 2006, L 210, S. 25), von Art. 27 Buchst. c der Verordnung (EG) Nr. 1828/2006 der Kommission vom 8. Dezember 2006 zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Verordnung Nr. 1083/2006 und der Verordnung (EG) Nr. 1080/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (ABl. 2006, L 371, S. 1), von Art. 3 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie (EU) 2017/1371 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2017 über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtetem Betrug (ABl. 2017, L 198, S. 29) und von Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge (ABl. 2004, L 134, S. 114).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Azienda Nazionale Autonoma Autostrade SpA (ANAS) und dem Ministero delle Infrastrutture e dei Trasporti (Ministerium für Infrastruktur und Verkehr, Italien) über die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung dieses Ministeriums, mit der die Rückforderung der Beträge angeordnet wurde, die ANAS in Durchführung eines mit dem Beschluss C(2007) 6318 der Kommission vom 7. Dezember 2007, zuletzt geändert durch den Beschluss C(2016) 6409 der Kommission vom 13. Oktober 2016, genehmigten operationellen Programms gezahlt worden waren, das einen Auftrag für die Durchführung von Straßenarbeiten umfasste, die vom Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) mitfinanziert wurden.

Unionsrecht

Verordnung Nr. 2988/95

3 Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95 bestimmt:

„Der Tatbestand der Unregelmäßigkeit ist bei jedem Verstoß gegen eine Gemeinschaftsbestimmung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers gegeben, die einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der [Europäischen] Gemeinschaften oder die Haushalte, die von den Gemeinschaften verwaltet werden, bewirkt hat bzw. haben würde, sei es durch die Verminderung oder den Ausfall von Eigenmitteleinnahmen, die direkt für Rechnung der Gemeinschaften erhoben werden, sei es durch eine ungerechtfertigte Ausgabe.“

4 In Art. 4 dieser Verordnung heißt es:

„(1) Jede Unregelmäßigkeit bewirkt in der Regel den Entzug des rechtswidrig erlangten Vorteils

– durch Verpflichtung zur Zahlung des geschuldeten oder Rückerstattung des rechtswidrig erhaltenen Geldbetrags;

(2) Die Anwendung der Maßnahmen nach Absatz 1 beschränkt sich auf den Entzug des erlangten Vorteils, zuzüglich – falls dies vorgesehen ist – der Zinsen, die pauschal festgelegt werden können.

(3) Handlungen, die nachgewiesenermaßen die Erlangung eines Vorteils, der den Zielsetzungen der einschlägigen Gemeinschaftsvorschriften zuwiderläuft, zum Ziel haben, indem künstlich die Voraussetzungen für die Erlangung dieses Vorteils geschaffen werden, haben zur Folge, dass der betreffende Vorteil nicht gewährt bzw. entzogen wird.

(4) Die in diesem Artikel vorgesehenen Maßnahmen stellen keine Sanktionen dar.“

5 In Art. 5 dieser Verordnung werden die verwaltungsrechtlichen Sanktionen aufgezählt, die bei vorsätzlich begangenen oder durch Fahrlässigkeit verursachten Unregelmäßigkeiten verhängt werden können.

Verordnung Nr. 1083/2006

6 Die Verordnung Nr. 1083/2006 wurde mit Wirkung vom 1. Januar 2014 durch die Verordnung (EU) Nr. 1303/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 mit gemeinsamen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds, den Kohäsionsfonds, den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds sowie mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds, den Kohäsionsfonds und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates (ABl. 2013, L 347, S. 320) aufgehoben. In Anbetracht des für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens maßgeblichen Zeitpunkts unterliegt der Ausgangsrechtsstreit jedoch weiterhin der Verordnung Nr. 1083/2006. Art. 2 Nrn. 4 und 7 dieser Verordnung sah vor:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

4. ,Begünstigter‘ einen Wirtschaftsbeteiligten oder eine Einrichtung bzw. ein Unternehmen des öffentlichen oder privaten Rechts, die mit der Einleitung oder der Einleitung und Durchführung der Vorhaben betraut sind. …

7. ‚Unregelmäßigkeit‘ jeden Verstoß gegen eine Gemeinschaftsbestimmung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers, die dadurch einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Union bewirkt hat oder haben würde, dass ihm eine ungerechtfertigte Ausgabe angelastet werden muss oder müsste“.

7 Nach Art. 60 Buchst. a dieser Verordnung war die Verwaltungsbehörde verantwortlich dafür, „sicherzustellen, dass die zu finanzierenden Vorhaben nach den für das operationelle Programm geltenden Kriterien ausgewählt werden und während ihrer Durchführung stets den geltenden gemeinschaftlichen und einzelstaatlichen Rechtsvorschriften entsprechen“.

8 Art. 98 („Finanzielle Berichtigungen durch die Mitgliedstaaten“) dieser Verordnung bestimmte:

„(1) Es obliegt in erster Linie den Mitgliedstaaten, Unregelmäßigkeiten zu untersuchen, bei nachgewiesenen erheblichen Änderungen, welche sich auf die Art oder die Bedingungen für die Durchführung und Kontrolle der Vorhaben oder der operationellen Programme auswirken, zu handeln und die erforderlichen finanziellen Berichtigungen vorzunehmen.

(2) Der Mitgliedstaat nimmt die finanziellen Berichtigungen vor, die aufgrund der im Rahmen von Vorhaben oder operationellen Programmen festgestellten vereinzelten oder systembedingten Unregelmäßigkeiten notwendig sind. Die vom Mitgliedstaat vorgenommenen Berichtigungen erfolgen, indem der öffentliche Beitrag zum operationellen Programm ganz oder teilweise gestrichen wird. Der Mitgliedstaat berücksichtigt Art und Schweregrad der Unregelmäßigkeiten sowie den dem Fonds entstandenen finanziellen Verlust.

…“

Verordnung Nr. 1828/2006

9 Nach Art. 27 Buchst. a der Verordnung Nr. 1828/2006 ist „Wirtschaftsteilnehmer“ „jede natürliche oder juristische Person sowie jede andere Einrichtung, die an der Durchführung von Interventionen aus den Fonds beteiligt ist, ausgenommen Mitgliedstaaten, die in Ausübung ihrer hoheitlichen Befugnisse handeln“. Buchst. c dieses Artikels definiert „Betrugsverdacht“ als eine „Unregelmäßigkeit, aufgrund deren in dem betreffenden Mitgliedstaat ein Verwaltungs- und/oder Gerichtsverfahren eingeleitet wird, um festzustellen, ob ein vorsätzliches Handeln, insbesondere Betrug im Sinne von Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe a des [SFI‑]Übereinkommens … vorliegt“.

Richtlinie 2004/18

10 Art. 2 („Grundsätze für die Vergabe von Aufträgen“) der Richtlinie 2004/18 sieht vor:

„Die öffentlichen Auftraggeber behandeln alle Wirtschaftsteilnehmer gleich und nichtdiskriminierend und gehen in transparenter Weise vor.“

11 In Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d dieser Richtlinie heißt es:

„Von der Teilnahme am Vergabeverfahren kann jeder Wirtschaftsteilnehmer ausgeschlossen werden,

d) [der] im Rahmen [seiner] beruflichen Tätigkeit eine schwere Verfehlung begangen [hat], die vom öffentlichen Auftraggeber nachweislich festgestellt wurde.“

Leitlinien von 2013

12 Art. 2 des Beschlusses...

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