Apotheke B. v Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG).

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2023:691
Date21 September 2023
Docket NumberC-47/22
Celex Number62022CJ0047
CourtCourt of Justice (European Union)

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

21. September 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Arzneimittel und kosmetische Mittel – Humanarzneimittel – Richtlinie 2001/83/EG – Art. 77 Abs. 6 – Art. 79 Buchst. b – Art. 80 Buchst. b – Leitlinien für die gute Vertriebspraxis von Humanarzneimitteln – Vertriebsnetz für Arzneimittel – Inhaber einer Großhandelsgenehmigung, der Arzneimittel von Personen beschafft, die zur Abgabe von Arzneimitteln an die Öffentlichkeit befugt sind, ohne Inhaber einer Großhandelsgenehmigung zu sein oder von der Pflicht zur Erlangung einer solchen Genehmigung befreit zu sein – Begriffe ‚ausreichend fachkundiges Personal‘ und ‚Verantwortlicher‘ – Aussetzung oder Widerruf der Großhandelsgenehmigung“

In der Rechtssache C‑47/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Österreich) mit Beschluss vom 20. Januar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 21. Januar 2022, in dem Verfahren

Apotheke B.

gegen

Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG)


erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter D. Gratsias, M. Ilešič (Berichterstatter), I. Jarukaitis und Z. Csehi,

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– von Apotheke B., vertreten durch Rechtsanwalt G. Dilger,

– des Bundesamts für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG), vertreten durch T. Reichhart als Bevollmächtigten,

– der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, J. Schmoll und A. Kögl als Bevollmächtigte,

– der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und T. Machovičová als Bevollmächtigte,

– der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Noll-Ehlers und A. Sipos als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. März 2023

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 77 Abs. 6, Art. 79 Buchst. b und Art. 80 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel (ABl. 2001, L 311, S. 67) in der durch die Richtlinie 2011/62/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2011 (ABl. 2011, L 174, S. 74) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2001/83).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Apotheke B., einer Kommanditgesellschaft, die in Österreich eine Apotheke betreibt, und dem Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG) (Österreich) (im Folgenden: Bundesamt) wegen des Widerrufs einer Genehmigung zur Ausübung der Tätigkeit eines Arzneimittelgroßhändlers.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2001/83

3 In Titel VII („Großhandelsvertrieb und Vermittlung von Arzneimitteln“) bestimmt Art. 77 Abs. 1, 3, 5 und 6 der Richtlinie 2001/83:

„(1) Die Mitgliedstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen, um sicherzustellen, dass für den Großhandel mit Arzneimitteln der Besitz einer Genehmigung zur Ausübung der Tätigkeit eines Arzneimittelgroßhändlers vorgeschrieben ist und dass in der Genehmigung angegeben ist, für welche Räumlichkeiten in ihrem Hoheitsgebiet sie gültig ist.

(3) Der Besitz einer Herstellungserlaubnis umfasst auch die Genehmigung zum Großhandelsvertrieb der Arzneimittel, auf die sich die Genehmigung erstreckt. Der Besitz einer Genehmigung zur Ausübung der Tätigkeit eines Arzneimittelgroßhändlers entbindet nicht von der Verpflichtung, eine Genehmigung zur Herstellung zu besitzen und die diesbezüglich festgelegten Bedingungen auch dann einzuhalten, wenn die Tätigkeit der Herstellung oder der Einfuhr nur nebenberuflich ausgeübt wird.

(5) Die Kontrollen der zur Ausübung der Tätigkeit eines Arzneimittelgroßhändlers ermächtigten Personen und die Inspektion ihrer Räumlichkeiten wird unter der Verantwortung des Mitgliedstaats durchgeführt, der die Genehmigung für Räumlichkeiten in seinem Hoheitsgebiet erteilt hat.

(6) Der Mitgliedstaat, der die Genehmigung gemäß Absatz 1 erteilt hat, setzt diese Genehmigung aus bzw. widerruft sie, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung der Genehmigung nicht mehr erfüllt sind. …“

4 In Art. 79 der Richtlinie heißt es:

„Um die Großhandelsgenehmigung zu erlangen, muss der Antragsteller mindestens folgenden Anforderungen genügen:

b) er muss über sachkundiges Personal, insbesondere einen eigens benannten Verantwortlichen[,] verfügen, dessen Qualifikationen den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats genügen;

c) er muss sich verpflichten, die ihm gemäß Artikel 80 obliegenden Verpflichtungen einzuhalten.“

5 In Art. 80 Abs. 1 der Richtlinie heißt es:

„Der Inhaber einer Großhandelsgenehmigung muss mindestens folgenden Anforderungen genügen:

b) er darf sich seine Vorratsbestände an Arzneimitteln nur bei Personen beschaffen, die entweder selbst Inhaber einer Großhandelsgenehmigung sind oder die gemäß Artikel 77 Absatz 3 von dieser Genehmigung befreit sind;

g) er muss die in Artikel 84 festgelegten Grundsätze und Leitlinien guter Vertriebspraktiken für Arzneimittel einhalten;

h) er muss ein Qualitätssicherungssystem unterhalten, in dem die Zuständigkeiten und Abläufe sowie die Maßnahmen zum Risikomanagement in Bezug auf seine Tätigkeiten dargelegt sind;

…“

6 Art. 84 der Richtlinie bestimmt:

„Die Kommission veröffentlicht Leitlinien für die gute Vertriebspraxis. Zu diesem Zweck konsultiert sie den Ausschuss für Humanarzneimittel und den durch [den Beschluss 75/320/EWG des Rates vom 20. Mai 1975 betreffend die Einsetzung eines Pharmazeutischen Ausschusses (ABl. 1975, L 147, S. 23)] eingesetzten Pharmazeutischen Ausschuss.“

Leitlinien für die gute Vertriebspraxis von Humanarzneimitteln

7 Kapitel 2 („Personal“) der Leitlinien vom 5. November 2013 für die gute Vertriebspraxis von Humanarzneimitteln (ABl. 2013, C 343, S. 1) (im Folgenden: Leitlinien guter Vertriebspraxis) Unterkapitel 2.2 Abs. 2 bestimmt:

„[Die verantwortliche Person] sollte ihre Verantwortung persönlich wahrnehmen und jederzeit erreichbar sein. [Sie] kann bestimmte Aufgaben delegieren, nicht aber ihre Verantwortung.“

8 In Kapitel 4 („Dokumentation“) Unterkapitel 4.2 Abs. 1 und 7 der Leitlinien guter Vertriebspraxis heißt es:

„Die Dokumentation umfasst alle schriftlich niedergelegten Verfahren, Anweisungen, Verträge, Berichte und Daten auf Papier oder in elektronischer Form. Die Dokumentation sollte leicht zugänglich/abrufbar sein.

Jeder Angestellte sollte direkten Zugang zu allen für seine Aufgaben erforderlichen Unterlagen haben.“

Österreichisches Recht

9 § 2 Abs. 2 des Arzneimittelgesetzes vom 2. März 1983 (BGBl. 185/1983) in der Fassung des Gesetzes vom 15. Dezember 2020 (BGBl. I 135/2020) (im Folgenden: AMG) lautet:

„‚Arzneimittel-Großhändler‘ ist ein Gewerbetreibender, der auf Grund der Gewerbeordnung 1994 [(BGBl. 194/1994)] zum Großhandel mit Arzneimitteln berechtigt ist und über eine entsprechende Bewilligung gemäß § 63 Abs. 1 verfügt, sowie ein pharmazeutischer Unternehmer einer anderen Vertragspartei des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum, der berechtigt ist, Großhandel mit Arzneimitteln zu treiben.“

10 Art. 57 („Abgabe von Arzneimitteln“) Abs. 1 AMG bestimmt:

„Arzneimittel dürfen vom Hersteller, Depositeur oder Arzneimittel-Großhändler nur abgegeben werden an

1. öffentliche Apotheken, Anstaltsapotheken und tierärztliche Hausapotheken,

4. Arzneimittel-Großhändler,

…“

11 § 62 („Betriebsordnung“) Abs. 1 AMG sieht vor:

„Soweit es geboten ist, um die für die Gesundheit und das Leben von Mensch oder Tier erforderliche Beschaffenheit der Arzneimittel oder Wirkstoffe und die Versorgung mit Arzneimitteln oder Wirkstoffen zu gewährleisten, hat der Bundesminister für Gesundheit durch Verordnung Betriebsordnungen für Betriebe, die Arzneimittel oder Wirkstoffe herstellen, kontrollieren oder in Verkehr bringen, zu erlassen.“

12 § 63 („Bewilligung“) Abs. 1 AMG bestimmt:

„In Betrieben im Sinne des § 62 Abs. 1 dürfen das Herstellen, das Inverkehrbringen und die Kontrolle von Arzneimitteln oder von Arzneimitteln und Wirkstoffen erst auf Grund einer Bewilligung des Bundesamtes für Sicherheit im Gesundheitswesen aufgenommen werden.“

13 § 66a AMG lautet:

„Die Bewilligung gemäß § 63 Abs. 1 oder § 65 Abs. 1 ist zurückzunehmen, wenn nachträglich bekannt wird, dass die Voraussetzungen nicht vorgelegen haben. Sie ist zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht mehr gegeben sind. An Stelle des Widerrufs kann auch das gänzliche oder teilweise Ruhen der Bewilligung verfügt werden, wenn der Grund für den Widerruf möglicherweise innerhalb angemessener Zeit durch den Inhaber der Betriebsbewilligung beseitigt werden kann. Das Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen hat die anderen Vertragsparteien des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum, die Schweiz und die Kommission davon unverzüglich in Kenntnis zu setzen.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

14 Die Apotheke B., eine Kommanditgesellschaft mit Sitz in Österreich, betreibt eine öffentliche Apotheke. Sie verfügte über eine ihr gemäß dem AMG verliehene Bewilligung zur Ausübung der Tätigkeit eines Arzneimittelgroßhändlers.

15 Nach einer am 30. Juli 2020 im Betrieb der Apotheke B. durchgeführten Inspektion und weiteren Ermittlungen widerrief das Bundesamt diese Bewilligung mit Bescheid vom 8. März 2021.

16 Das Bundesamt erließ diesen Widerrufsbescheid, nachdem es festgestellt hatte, dass die Klägerin des Ausgangsverfahrens mehrfach Arzneimittel von anderen Apotheken bezogen habe, die nicht über eine Großhandelsgenehmigung verfügt hätten, und dass sie sie dann an Großhändler weiterverkauft habe, die über eine Großhandelsgenehmigung verfügt hätten.

17 Das Bundesamt stellte ferner fest, dass die Apotheke B. nicht in ausreichender Zahl über fachkundiges und qualifiziertes Personal...

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