Opinion of Advocate General Richard de la Tour delivered on 11 February 2021.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2021:119
Date11 February 2021
Celex Number62019CC0910
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JEAN RICHARD DE LA TOUR

vom 11. Februar 2021(1)

Rechtssache C910/19

Bankia SA

gegen

Unión Mutua Asistencial de Seguros (UMAS)

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal Supremo [Oberster Gerichtshof, Spanien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2003/71/EG – Gesellschaften – Pflicht zur Veröffentlichung eines Prospekts beim öffentlichen Angebot von Wertpapieren oder bei deren Zulassung zum Handel – Qualifizierte und nicht qualifizierte Anleger – Zivilrechtliche Haftung gegenüber qualifizierten Anlegern im Fall eines fehlerhaften oder unvollständigen Prospekts“






I. Einleitung

1. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 2 und Art. 6 der Richtlinie 2003/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 betreffend den Prospekt, der beim öffentlichen Angebot von Wertpapieren oder bei deren Zulassung zum Handel zu veröffentlichen ist, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG(2).

2. Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Bankia SA und der Unión Mutua Asistencial de Seguros (UMAS), einer Versicherungseinrichtung auf Gegenseitigkeit, die bei Vorliegen eines Prospekts mit gravierenden Unrichtigkeiten Aktien der erstgenannten Gesellschaft erworben hat.

3. Diese Rechtssache bietet dem Gerichtshof die Gelegenheit, die Bestimmungen der Richtlinie 2003/71 auszulegen, mit der ein Prospekt eingeführt wurde, der wie eine Einmalzulassung für alle Notierungsorte für von einem Emittenten ausgegebene Wertpapiere im Gebiet der Union verwendet werden kann. Mit dieser Richtlinie wurde zwar der Inhalt dieses Prospekts weitgehend harmonisiert, sie hat jedoch einerseits den Mitgliedstaaten bei der Wahl des Systems und der Modalitäten, nach denen insbesondere Emittenten oder Anbieter in Bezug auf den Inhalt der in den Prospekten enthaltenen Angaben zivilrechtlich haftbar gemacht werden können, und andererseits den Emittenten, die zwar in bestimmten Fällen, insbesondere wenn sich das Zeichnungsangebot nur an qualifizierte Anleger richtet, keinen solchen Prospekt veröffentlichen müssen, dies aber dennoch freiwillig tun können, einen Spielraum gelassen.

4. So geht es bei den Fragen des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien) erstens darum, ob ein fehlerhafter Prospekt als Grundlage für eine zivilrechtliche Haftungsklage eines qualifizierten Anlegers dienen kann, und zweitens darum, ob sich der Nachweis der Kenntnis der tatsächlichen Situation des Emittenten durch den qualifizierten Anleger aus dem Bestehen geschäftlicher oder rechtlicher Beziehungen zwischen ihnen (Zugehörigkeit zur Anteilseignerschaft, Beteiligung an Leitungsorganen usw.) ableiten lässt.

5. Ich werde dem Gerichtshof vorschlagen, auf die erste Frage zu antworten, dass ein Prospekt, dessen Inhalt unrichtig ist, immer als Grundlage für eine zivilrechtliche Haftungsklage eines qualifizierten Anlegers dienen kann, und auf die zweite Frage, dass die Beurteilung des Umfangs der Kenntnis der qualifizierten Anleger von der wirtschaftlichen Situation des Emittenten oder des Anbieters für die Zwecke der Geltendmachung zivilrechtlicher Haftungsansprüche ihnen gegenüber dem nationalen Recht unterliegt, sofern die Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz beachtet werden.

II. Rechtlicher Rahmen

A. Richtlinie 2003/71

6. In den Erwägungsgründen 10, 16, 18, 19 und 27 der Richtlinie 2003/71 heißt es:

„(10) Ziel dieser Richtlinie und der in ihr vorgesehenen Durchführungsmaßnahmen ist es, in Übereinstimmung mit den strengen Aufsichtsbestimmungen, die in den einschlägigen internationalen Foren festgelegt wurden, den Anlegerschutz und die Markteffizienz sicherzustellen.

(16) Ein Ziel dieser Richtlinie ist der Anlegerschutz. Deshalb ist es angebracht, den unterschiedlichen Schutzanforderungen für die verschiedenen Anlegerkategorien und ihrem jeweiligen Sachverstand Rechnung zu tragen. Die Angaben gemäß dem Prospekt werden für Angebote, die sich ausschließlich an qualifizierte Anleger richten, nicht gefordert. Dagegen ist bei Weiterveräußerung an das Publikum oder öffentlichem Handel mittels der Zulassung zum Handel an einem geregelten Markt die Veröffentlichung eines Prospekts erforderlich.

(18) Vollständige Informationen über Wertpapiere und deren Emittenten kommen – zusammen mit den Wohlverhaltensregeln – dem Anlegerschutz zugute. Darüber hinaus stellen diese Informationen ein wirksames Mittel dar, um das Vertrauen in die Wertpapiere zu erhöhen und so zur reibungslosen Funktionsweise und zur Entwicklung der Wertpapiermärkte beizutragen. Die geeignete Form zur Bereitstellung dieser Informationen ist die Veröffentlichung eines Prospekts.

(19) Anlagen in Wertpapieren sind – wie alle anderen Anlageformen – mit Risiken behaftet. Deshalb sind in allen Mitgliedstaaten Schutzmaßnahmen zur Absicherung der Interessen der derzeitigen und potenziellen Anleger erforderlich, um sie in die Lage zu versetzen, eine fundierte Bewertung der Anlagerisiken vornehmen und somit Anlageentscheidungen in voller Kenntnis der Sachlage treffen zu können.

(27) Anleger sollten durch die Veröffentlichung verlässlicher Informationen geschützt werden. Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel an einem geregelten Markt zugelassen werden, unterliegen einer laufenden Offenlegungspflicht, nicht aber der Pflicht zur regelmäßigen Veröffentlichung aktualisierter Informationen. Neben dieser Verpflichtung sollten die Emittenten zumindest einmal jährlich alle wichtigen Informationen, die sie in den vorausgegangenen zwölf Monaten veröffentlicht oder dem Publikum zur Verfügung gestellt haben, auflisten, einschließlich der Informationen, die gemäß den verschiedenen Rechnungslegungspflichten anderer [Union]svorschriften gefordert werden. Auf diese Weise sollte gewährleistet werden, dass kohärente und leicht verständliche Informationen regelmäßig veröffentlicht werden. Um bestimmte Emittenten nicht übermäßig zu belasten, sollten Emittenten von Nichtdividendenwerten mit hoher Mindeststückelung von dieser Verpflichtung ausgenommen sein.“

7. Art. 2 der Richtlinie 2003/71 bestimmt:

„(1) Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:

d) ‚öffentliches Angebot von Wertpapieren‘ eine Mitteilung an das Publikum in jedweder Form und auf jedwede Art und Weise, die ausreichende Informationen über die Angebotsbedingungen und die anzubietenden Wertpapiere enthält, um einen Anleger in die Lage zu versetzen, sich für den Kauf oder die Zeichnung dieser Wertpapiere zu entscheiden. Diese Definition gilt auch für die Platzierung von Wertpapieren durch Finanzintermediäre;

e) ‚qualifizierte Anleger‘

i) juristische Personen, die in Bezug auf ihre Tätigkeit auf den Finanzmärkten zugelassen sind bzw. beaufsichtigt werden. Dazu zählen: Kreditinstitute, Wertpapierfirmen, sonstige zugelassene oder beaufsichtigte Finanzinstitute, Versicherungsgesellschaften, Organismen für gemeinsame Anlagen und ihre Verwaltungsgesellschaften, Pensionsfonds und ihre Verwaltungsgesellschaften, Warenhändler sowie Einrichtungen, die weder zugelassen sind noch beaufsichtigt werden und deren einziger Geschäftszweck in der Wertpapieranlage besteht;

ii) nationale und regionale Regierungen, Zentralbanken, internationale und supranationale Institutionen wie der Internationale Währungsfonds, die Europäische Zentralbank, die Europäische Investitionsbank und andere vergleichbare internationale Organisationen;

iii) andere juristische Personen, die zwei der drei Kriterien nach Buchstabe f) nicht erfüllen;

iv) bestimmte natürliche Personen: [V]orbehaltlich der gegenseitigen Anerkennung kann ein Mitgliedstaat natürliche Personen zulassen, die in dem Mitgliedstaat wohnhaft sind und ausdrücklich als qualifizierte Anleger angesehen werden möchten, sofern sie zumindest zwei der in Absatz 2 genannten Kriterien erfüllen;

v) bestimmte KMU: [V]orbehaltlich der gegenseitigen Anerkennung kann ein Mitgliedstaat KMU zulassen, die ihren Sitz in diesem Mitgliedstaat haben und ausdrücklich als qualifizierte Anleger angesehen werden möchten;

f) ‚kleine und mittlere Unternehmen‘ Gesellschaften, die laut ihrem letzten Jahresabschluss bzw. konsolidierten Abschluss zumindest zwei der nachfolgenden drei Kriterien erfüllen: eine durchschnittliche Beschäftigtenzahl im letzten Geschäftsjahr von weniger als 250, eine Gesamtbilanzsumme von höchstens 43 000 000 EUR und ein Jahresnettoumsatz von höchstens 50 000 000 EUR;

g) ‚Kreditinstitute‘ Unternehmen im Sinne von Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe a) der Richtlinie 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. März 2000 über die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Kreditinstitute[(3)];

h) ‚Emittent‘ eine Rechtspersönlichkeit, die Wertpapiere begibt oder zu begeben beabsichtigt;

i) ‚Person, die ein Angebot unterbreitet‘ (‚Anbieter‘) eine juristische oder natürliche Person, die Wertpapiere öffentlich anbietet;

(2) Für die Zwecke von Absatz 1 Buchstabe e) Ziffer iv) gelten die folgenden Kriterien:

a) Der Anleger hat an Wertpapiermärkten Geschäfte in großem Umfang getätigt und in den letzten vier Quartalen durchschnittlich mindestens zehn Transaktionen pro Quartal abgeschlossen;

b) der Wert des Wertpapierportfolios des Anlegers übersteigt 0,5 Mio. EUR;

c) der Anleger ist oder war mindestens ein Jahr lang im Finanzsektor in einer beruflichen Position tätig, die Kenntnisse auf dem Gebiet der Wertpapieranlage voraussetzt.

…“

8. Art. 3 der Richtlinie 2003/71 sieht vor:

„(1) Die Mitgliedstaaten gestatten in ihrem Hoheitsgebiet kein öffentliches Angebot von Wertpapieren ohne vorherige Veröffentlichung eines Prospekts.

(2) Die Verpflichtung zur Veröffentlichung eines Prospekts gilt nicht für folgende Angebotsformen:

a) ein Wertpapierangebot, das sich ausschließlich an qualifizierte Anleger richtet;

(3) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass jede Zulassung von Wertpapieren zum Handel an einem geregelten Markt, der in ihrem Hoheitsgebiet gelegen ist oder dort funktioniert, an die...

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