Opinion of Advocate General Collins delivered on 8 December 2022.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2022:972
Date08 December 2022
Celex Number62020CC0692
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

ANTHONY MICHAEL COLLINS

vom 8. Dezember 2022(1)

Rechtssache C692/20

Europäische Kommission

gegen

Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Richtlinie 95/60/EG – Steuerliche Kennzeichnung von Gasöl – Nichtdurchführung eines Urteils – Art. 260 Abs. 1 AEUV – Verhängung eines Pauschalbetrags – Art. 260 Abs. 2 AEUV – Schwere der Zuwiderhandlung – Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft – Protokoll zu Irland/Nordirland – Fortdauer der Zuwiderhandlung im Hinblick auf Nordirland nach dem Ende des Übergangszeitraums – Folgen für die Berechnung des Pauschalbetrags“






I. Einleitung

1. In seinem Urteil vom 17. Oktober 2018 in der Rechtssache Kommission/Vereinigtes Königreich (C‑503/17, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:831, im Folgenden: Urteil in der Rechtssache C‑503/17) hat der Gerichtshof entschieden(2), dass das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland dadurch, dass es die Verwendung von gekennzeichnetem Kraftstoff(3) zur Betankung in der privaten nicht gewerblichen Schifffahrt erlaubt hat, selbst wenn dieser Kraftstoff weder von der Verbrauchsteuer befreit ist noch zu einem ermäßigten Verbrauchsteuersatz versteuert wird, gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie 95/60/EG des Rates vom 27. November 1995 über die steuerliche Kennzeichnung von Gasöl und Kerosin(4) verstoßen hat.

2. Am 21. Dezember 2020 hat die Europäische Kommission gegen das Vereinigte Königreich nach Art. 260 AEUV die vorliegende Klage auf Feststellung, dass es versäumt hat, dem Urteil in der Rechtssache C‑503/17 nachzukommen, und auf Verhängung einer finanziellen Sanktion erhoben.

3. Die vorliegende Klage weist mindestens drei neuartige Merkmale auf. Erstens stellt sie die einzige ihrer Art gegen das Vereinigte Königreich dar, die während dessen Mitgliedschaft in der Europäischen Union erhoben wurde. Zweitens wurde sie während des Übergangszeitraums eingeleitet, der im Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (im Folgenden: Austrittsabkommen)(5) festgelegt ist. Drittens war das Vereinigte Königreich bei Ablauf dieses Übergangszeitraums nur im Hinblick auf Nordirland verpflichtet, dem Urteil in der Rechtssache C‑503/17 nachzukommen(6). Bei der Entscheidung über diese Klage ist der Gerichtshof somit aufgerufen, festzustellen, ob das letzte dieser drei Merkmale (a) die Schwere der Zuwiderhandlung mildert und/oder (b) zur Folge hat, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Nordirlands in Abgrenzung zu dem des Vereinigten Königreichs für die Berechnung des Pauschalbetrags heranzuziehen ist.

II. Vorverfahren

4. Mit Schreiben vom 22. Oktober 2018 forderte die Kommission das Vereinigte Königreich auf, innerhalb von zwei Monaten zu erläutern, welche Maßnahmen es zu ergreifen vorsah, um dem Urteil in der Rechtssache C‑503/17 vom 17. Oktober 2018 nachzukommen. Das Vereinigte Königreich antwortete mit Schreiben vom 19. Dezember 2018. Es erläuterte die praktischen Schwierigkeiten, denen es sich gegenübersah, um dies zu erreichen(7), und wies darauf hin, dass es beabsichtige, die Verwendung gekennzeichneten Kraftstoffs zur Betankung in der privaten nicht gewerblichen Schifffahrt durch den Erlass gesetzlicher Vorschriften im Jahr 2019 und die Vorlage der erforderlichen untergesetzlichen Vorschriften im Parlament im Jahr 2020 zu verbieten.

5. Da die Kommission keine weiteren Informationen erhielt, richtete sie am 15. Mai 2020 ein Aufforderungsschreiben an das Vereinigte Königreich, demzufolge Letzteres nicht die erforderlichen Maßnahmen ergriffen hatte, um dem Urteil in der Rechtssache C‑503/17 nachzukommen. Dieses Schreiben forderte zur Stellungnahme binnen vier Monaten nach seinem Empfang auf; danach könne die Kommission nach Art. 260 Abs. 2 AEUV den Gerichtshof mit der Sache befassen.

6. Im Lauf einer Telefonkonferenz am 12. August 2020 erläuterte das Vereinigte Königreich den Kommissionsdienststellen, dass derzeit zwar noch eine weitere Konsultation mit den Beteiligten über die Verwendung gekennzeichneten Kraftstoffs stattfinde, die maßgeblichen gesetzlichen Vorschriften aber erlassen worden seien und es die erforderlichen untergesetzlichen Vorschriften verabschieden werde.

7. Das Vereinigte Königreich beantwortete das Aufforderungsschreiben am 11. September 2020. Es erläuterte, als Folge der im Dezember 2019 abgehaltenen Parlamentswahlen sei in diesem Jahr keine Finance Bill (Entwurf des Haushaltsgesetzes) erlassen worden. Auch hätten Antworten im Rahmen der vorstehend genannten Konsultation eine Reihe von Herausforderungen praktischer Art für die Umsetzung von Maßnahmen zur Erreichung der Durchführung des Urteils in der Rechtssache C‑503/17 offengelegt. Das Vereinigte Königreich wies darauf hin, dass eine weitere öffentliche Konsultation am 1. Oktober 2020 enden werde; anschließend werde es entscheiden, wann die Berechtigung zur Verwendung gekennzeichneten Kraftstoffs zur Betankung in der privaten nicht gewerblichen Schifffahrt aufgehoben werde.

III. Verfahren vor dem Gerichtshof

8. Da die Kommission keine weitere Mitteilung vom Vereinigten Königreich erhalten hatte, erhob sie am 21. Dezember 2020 die vorliegende Klage(8). Sie beantragt,

– festzustellen, dass das Vereinigte Königreich dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 260 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit den Art. 127 und 131 des Austrittsabkommens verstoßen hat, dass es nicht die notwendigen Maßnahmen ergriffen hat, die sich aus dem Urteil in der Rechtssache C‑503/17 ergeben;

– das Vereinigte Königreich gemäß Art. 260 Abs. 2 AEUV in Verbindung mit den Art. 127 und 131 des Austrittsabkommens zu verurteilen, einen Pauschalbetrag von 35 873,20 Euro, multipliziert mit der Zahl der Tage zwischen dem Tag, an dem das Urteil in der Rechtssache C‑503/17 ergangen ist, und entweder dem Tag, an dem das Vereinigte Königreich diesem Urteil nachkommt, oder dem Tag, an dem das Urteil in der vorliegenden Rechtssache ergeht, je nachdem, was früher eintritt, mindestens jedoch einen Pauschalbetrag von 8 901 000 Euro an die Kommission zu zahlen;

– dem Vereinigten Königreich die Kosten des vorliegenden Verfahrens aufzuerlegen.

9. Das Vereinigte Königreich unterrichtete die Kommission nachfolgend davon, dass die am 28. Juni 2021 erlassenen untergesetzlichen Vorschriften den Vorschriften des Finance Act 2020(9) Wirkung verliehen und die Verwendung gekennzeichneten Kraftstoffs zur Betankung in der privaten nicht gewerblichen Schifffahrt in Nordirland mit Wirkung ab dem 1. Oktober 2021 verboten hätten(10). Mit Schreiben an den Gerichtshof vom 11. Februar 2022 erklärte die Kommission, dass sie aus diesem Grund den Antrag in der Klageschrift auf Verhängung eines täglichen Zwangsgelds zurücknehme. Gleichwohl erhielt sie den Antrag auf Verhängung eines Pauschalbetrags wegen der Nichtdurchführung zwischen dem 17. Oktober 2018, dem Tag des Urteils in der Rechtssache C‑503/17, und dem 30. September 2021, dem Tag an dem das Vereinigte Königreich diesem nachgekommen war, aufrecht.

10. In der Sitzung vom 28. September 2022 haben die Kommission und das Vereinigte Königreich mündlich verhandelt und die Fragen des Gerichtshofs beantwortet.

IV. Analyse

A. Hat die Kommission dem Vereinigten Königreich hinreichend Zeit gewährt, um dem Urteil in der Rechtssache C503/17 nachzukommen?

1. Das Vorbringen der Parteien

11. Mit ihrem Aufforderungsschreiben vom 14. Mai 2020 ersuchte die Kommission das Vereinigte Königreich um Erklärungen binnen vier Monaten nach Zugang, d. h. bis zum 15. September 2020 (im Folgenden: Beurteilungsstichtag). Die Kommission ist der Ansicht, die vorliegende Klage sei gerechtfertigt, da das Vereinigte Königreich gegen seine Verpflichtungen nach Art. 260 Abs. 1 AEUV verstoßen habe, indem es bis zum Beurteilungsstichtag versäumt habe, dem Urteil in der Rechtssache C‑503/17 nachzukommen. Der Kommission zufolge kann sich ein Mitgliedstaat nicht auf praktische Schwierigkeiten berufen, um das Versäumnis, einem Urteil des Gerichtshofs nachzukommen, zu rechtfertigen. Jedenfalls rechtfertigten die vom Vereinigten Königreich beschriebenen Schwierigkeiten nicht dessen Verspätung bei der Erreichung der Durchführung.

12. Das Vereinigte Königreich bringt vor, sowohl das Aufforderungsschreiben der Kommission als auch die Einleitung des Verfahrens nach Art. 260 AEUV seien verfrüht gewesen. In der Rechtsprechung stelle es eine logische Folge des Erfordernisses, dass ein Mitgliedstaat die Durchführung eines Urteils so schnell wie möglich erreiche, dar, dass die Kommission bei der Beurteilung, ob ein Mitgliedstaat hinreichend Zeit gehabt habe, um diesem nachzukommen, praktische Hindernisse bei der Erreichung dieses Ergebnisses gebührend berücksichtige.

13. Das Vereinigte Königreich bringt vor, die Kommission habe rechtliche oder politische Schwierigkeiten mit bestimmten konkreten praktischen Schwierigkeiten verwechselt, denen es sich gegenübergesehen habe. Unter diesen nannte es die Länge der Küste des Vereinigten Königreichs, die große Zahl der Häfen unterschiedlicher Größe, die Leistungsfähigkeit kleinerer Häfen, nicht gekennzeichneten Kraftstoff zur Betankung in der privaten nicht gewerblichen Schifffahrt und gekennzeichneten Kraftstoff zur Betankung in der gewerblichen Schifffahrt bereitzustellen, sowie die Schwierigkeit, eine Baugenehmigung für die Errichtung von Zweittanks in einem sensiblen Meereshabitat zu erhalten. Es ergäben sich Probleme im Hinblick auf die Verschlechterung von Kraftstoff, wenn dieser infolge geringer Verkaufsmengen über lange Zeiträume aufbewahrt werde. Die Nichtverfügbarkeit nicht gekennzeichneten Kraftstoffs könne die Akteure in der privaten nicht gewerblichen Schifffahrt veranlassen, solchen Kraftstoff an Bord ihrer Wasserfahrzeuge zu...

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