Opinion of Advocate General Collins delivered on 8 June 2023.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2023:463
Date08 June 2023
Celex Number62022CC0178
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

ANTHONY COLLINS

vom 8. Juni 2023(1)

Rechtssache C178/22

Unbekannt,

Beteiligte:

Procura della Repubblica presso il Tribunale di Bolzano,

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale di Bolzano [Landesgericht Bozen, Italien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Verarbeitung personenbezogener Daten im Bereich der elektronischen Kommunikation – Vertraulichkeit der Kommunikation – Betreiber elektronischer Kommunikationsdienste – Richtlinie 2002/58/EG – Art 1 Abs. 3 und Art. 15 Abs. 1 – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 7, 8,11 und Art. 52 Abs. 1 – Antrag einer Staatsanwaltschaft auf Zugang zu Daten zur Ermittlung und Verfolgung schweren Diebstahls eines Mobiltelefons – Definition einer ‚schweren Straftat‘, die einen schwerwiegenden Eingriff in Grundrechte rechtfertigen kann – Umfang der vorherigen Kontrolle, mit der gewährleistet werden soll, dass die Voraussetzung der Begehung einer schweren Straftat eingehalten wird – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“






I. Einleitung

1. Die Procura della Repubblica presso il Tribunale di Bolzano (Staatsanwaltschaft beim Landesgericht Bozen, Italien) (im Folgenden: Staatsanwaltschaft [Bozen]) beantragt beim Tribunale di Bolzano (Landesgericht Bozen, Italien) die Genehmigung des Zugangs zu den von den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste nach nationalem Recht aufbewahrten Daten, die es u. a. ermöglichen, die Quelle und den Adressaten einer Mobiltelefonkommunikation zurückzuverfolgen und festzustellen.

2. Im Zusammenhang mit diesem Antrag ersucht das Tribunale di Bolzano (Landesgericht Bozen) den Gerichtshof um die Auslegung von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58/EG(2). Diese Bestimmung erlaubt den Mitgliedstaaten, durch Rechtsvorschriften Ausnahmen von der in dieser Richtlinie vorgesehenen Pflicht(3) zur Gewährleistung der Vertraulichkeit der elektronischen Kommunikation einzuführen. Im Urteil Prokuratuur(4) hat der Gerichtshof entschieden, dass der durch Maßnahmen gemäß Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 erlangte Zugang zu Daten, aus denen genaue Schlüsse auf das Privatleben eines Nutzers gezogen werden können, einen schwerwiegenden Eingriff in die in den Art. 7, 8, 11 und in Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankerten Grundrechte und Grundsätze darstellt(5). Ein solcher Zugang darf nicht zum Zweck der Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von „Straftaten im Allgemeinen“ bewilligt werden. Er darf nur in Verfahren zur Bekämpfung „schwerer Kriminalität“(6) gewährt werden und muss einer vorherigen Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsbehörde unterliegen, damit die Einhaltung dieser Voraussetzung gewährleistet ist(7). Das Tribunale di Bolzano (Landesgericht Bozen) bittet den Gerichtshof, zwei Aspekte des Urteils Prokuratuur zu klären: den Begriff der „schweren Kriminalität“ und den Umfang der vorherigen Kontrolle, die einem Gericht gemäß einer nationalen Regelung obliegt, wonach es den Zugang zu den von Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste gespeicherten Daten zu genehmigen hat.

II. Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht

3. Art. 5 („Vertraulichkeit der Kommunikation“) der Richtlinie 2002/58 bestimmt:

„(1) Die Mitgliedstaaten stellen die Vertraulichkeit der mit öffentlichen Kommunikationsnetzen und öffentlich zugänglichen Kommunikationsdiensten übertragenen Nachrichten und der damit verbundenen Verkehrsdaten durch innerstaatliche Vorschriften sicher. Insbesondere untersagen sie das Mithören, Abhören und Speichern sowie andere Arten des Abfangens oder Überwachens von Nachrichten und der damit verbundenen Verkehrsdaten durch andere Personen als die Nutzer, wenn keine Einwilligung der betroffenen Nutzer vorliegt, es sei denn, dass diese Personen gemäß Artikel 15 Absatz 1 gesetzlich dazu ermächtigt sind. …

…“

4. In Art. 6 („Verkehrsdaten“) der Richtlinie 2002/58 heißt es:

„(1) Verkehrsdaten, die sich auf Teilnehmer und Nutzer beziehen und vom Betreiber eines öffentlichen Kommunikationsnetzes oder eines öffentlich zugänglichen Kommunikationsdienstes verarbeitet und gespeichert werden, sind unbeschadet der Absätze 2, 3 und 5 des vorliegenden Artikels und des Artikels 15 Absatz 1 zu löschen oder zu anonymisieren, sobald sie für die Übertragung einer Nachricht nicht mehr benötigt werden.

(5) Die Verarbeitung von Verkehrsdaten gemäß den Absätzen 1, 2, 3 und 4 darf nur durch Personen erfolgen, die auf Weisung der Betreiber öffentlicher Kommunikationsnetze und öffentlich zugänglicher Kommunikationsdienste handeln und die für Gebührenabrechnungen oder Verkehrsabwicklung, Kundenanfragen, Betrugsermittlung, die Vermarktung der elektronischen Kommunikationsdienste oder für die Bereitstellung eines Dienstes mit Zusatznutzen zuständig sind; ferner ist sie auf das für diese Tätigkeiten erforderliche Maß zu beschränken.

…“

5. Art. 9 („Andere Standortdaten als Verkehrsdaten“) der Richtlinie 2002/58 sieht vor:

„(1) Können andere Standortdaten als Verkehrsdaten in Bezug auf die Nutzer oder Teilnehmer von öffentlichen Kommunikationsnetzen oder öffentlich zugänglichen Kommunikationsdiensten verarbeitet werden, so dürfen diese Daten nur im zur Bereitstellung von Diensten mit Zusatznutzen erforderlichen Maß und innerhalb des dafür erforderlichen Zeitraums verarbeitet werden, wenn sie anonymisiert wurden oder wenn die Nutzer oder Teilnehmer ihre Einwilligung gegeben haben. Der Diensteanbieter muss den Nutzern oder Teilnehmern vor Einholung ihrer Einwilligung mitteilen, welche Arten anderer Standortdaten als Verkehrsdaten verarbeitet werden, für welche Zwecke und wie lange das geschieht, und ob die Daten zum Zwecke der Bereitstellung des Dienstes mit Zusatznutzen an einen Dritten weitergegeben werden. Die Nutzer oder Teilnehmer können ihre Einwilligung zur Verarbeitung anderer Standortdaten als Verkehrsdaten jederzeit zurückziehen.

…“

6. Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 lautet:

„Die Mitgliedstaaten können Rechtsvorschriften erlassen, die die Rechte und Pflichten gemäß Artikel 5, Artikel 6, Artikel 8 Absätze 1, 2, 3 und 4 sowie Artikel 9 dieser Richtlinie beschränken, sofern eine solche Beschränkung gemäß Artikel 13 Absatz 1 der Richtlinie 95/46/EG(8) für die nationale Sicherheit (d. h. die Sicherheit des Staates), die Landesverteidigung, die öffentliche Sicherheit sowie die Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten oder des unzulässigen Gebrauchs von elektronischen Kommunikationssystemen in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, angemessen und verhältnismäßig ist. Zu diesem Zweck können die Mitgliedstaaten unter anderem durch Rechtsvorschriften vorsehen, dass Daten aus den in diesem Absatz aufgeführten Gründen während einer begrenzten Zeit aufbewahrt werden. Alle in diesem Absatz genannten Maßnahmen müssen den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts einschließlich den in Artikel 6 Absätze 1 und 2 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegten Grundsätzen entsprechen.“

B. Nationales Recht

7. Art. 132 Abs. 3 des Decreto Legislativo 30 giugno 2003, n. 196 – Codice in materia di protezione dei dati personali (gesetzesvertretendes Dekret Nr. 196 zur Einführung eines Gesetzbuchs zum Schutz personenbezogener Daten)(9) in der kürzlich durch Art. 1 des Decreto-legge 30 settembre 2021 n. 132 – Misure urgenti in materia di giustizia e di difesa, nonché proroghe in tema di referendum, assegno temporaneo e IRAP, convertito con modificazioni nella legge 23 novembre 2021 n. 178 (Gesetzesdekret Nr. 132 vom 30. September 2021(10), mit Änderungen in das Gesetz Nr. 178 vom 23. November 2021 umgewandelt)(11), geänderten Fassung (im Folgenden: Art. 132 Abs. 3 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 196/2003) sieht vor:

„(3) Liegen innerhalb der vom Gesetz angeordneten Aufbewahrungsfrist [d. h. 24 Monate ab dem Zeitpunkt der Kommunikation] ausreichende Anhaltspunkte vor für Straftaten, für die das Gesetz eine lebenslange Freiheitsstrafe oder eine Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens drei Jahren vorsieht, die gemäß Art. 4 des Codice di procedura penale [(Strafprozessordnung)] bestimmt wird, oder für Straftaten der Bedrohung und Belästigung oder Störung von Personen per Telefon, wenn die Bedrohung oder die Störung schwerwiegend sind, so werden die Daten, soweit sie für die Aufklärung des Sachverhalts relevant sind, nach vorheriger Genehmigung, die von einem Richter durch mit Gründen versehenen Beschluss erteilt wird, auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder auf Antrag des Verteidigers des Angeklagten, des Beschuldigten, des Geschädigten oder anderer privater Parteien erhoben;

(3c) Die unter Verstoß gegen die Bestimmungen der Abs. 3 und 3a erlangten Daten dürfen nicht verwendet werden.“

8. Art. 4 („Vorschriften über die Bestimmung der Zuständigkeit“) der Strafprozessordnung lautet:

„Für die Bestimmung der Zuständigkeit wird auf die vom Gesetz für jede einzelne vollendete oder versuchte Straftat vorgesehene Strafe abgestellt. Nicht berücksichtigt werden die fortgesetzte Begehung, die Wiederholungstat und die Umstände der Tat mit Ausnahme der strafschärfenden Umstände, für die das Gesetz eine andere Strafe als die Regelstrafe vorsieht, und der Umstände mit besonderer Wirkung.“

9. Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts kann die Staatsanwaltschaft die Straftat des schweren Diebstahls von Amts wegen verfolgen(12). Art. 625 des Codice penale (Strafgesetzbuch) sieht für schweren Diebstahl eine Strafe mit besonderer Wirkung vor, nämlich eine Freiheitsstrafe von zwei bis sechs Jahren und eine Geldstrafe von 927 Euro bis 1 500 Euro. Nach Art. 624 des Strafgesetzbuchs ist einfacher Diebstahl, der auf Antrag des Geschädigten verfolgt werden kann, mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis drei Jahren und einer Geldstrafe von 154 Euro bis 516 Euro bedroht.

III. Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

10. Die Staatsanwaltschaft (Bozen) ermittelte in zwei Strafsachen gegen...

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