Opinion of Advocate General Szpunar delivered on 11 January 2024.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2024:31
Date11 January 2024
Celex Number62022CC0632
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

SZPUNAR

vom 11. Januar 2024(1)

Rechtssache C632/22

AB Volvo

gegen

Transsaqui SL,

Beteiligter:

Ministerio Fiscal

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal Supremo [Oberster Gerichtshof, Spanien])

(Vorlage zur Vorabentscheidung – Lkw-Kartell – Schadensersatzklage – Zustellung des verfahrenseinleitenden Schriftstücks an die Tochtergesellschaft der Muttergesellschaft – Verordnung [EG] Nr. 1393/2007)






1. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien) bietet dem Gerichtshof die Gelegenheit, den Anwendungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 1393/2007(2) in einem Fall zu präzisieren, in dem ein Antragsteller beabsichtigt, ein verfahrenseinleitendes Schriftstück einer Tochtergesellschaft der Gesellschaft zuzustellen, gegen die er eine Schadensersatzklage zu erheben beabsichtigt.

2. Die entscheidende Frage ist, ob vor dem Hintergrund des Urteils Sumal des Gerichtshofs(3), in dem der Gerichtshof festgestellt hat, dass die privatrechtliche Durchsetzung (private enforcement) im Kontext eines von der Europäischen Kommission mit einer Sanktion belegten Lkw-Kartells sowohl gegen die Muttergesellschaft als auch gegen ihre Tochtergesellschaften gerichtet sein kann, Schriftstücke, mit denen ein Verfahren gegen die Muttergesellschaft eingeleitet wird, ihrer Tochtergesellschaft zugestellt werden können.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3. Art. 1 („Anwendungsbereich“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 1393/2007 hat folgenden Wortlaut:

„Diese Verordnung ist in Zivil- oder Handelssachen anzuwenden, in denen ein gerichtliches oder außergerichtliches Schriftstück von einem in einen anderen Mitgliedstaat zum Zwecke der Zustellung zu übermitteln ist. Sie erfasst insbesondere nicht Steuer- und Zollsachen, verwaltungsrechtliche Angelegenheiten sowie die Haftung des Staates für Handlungen oder Unterlassungen im Rahmen der Ausübung hoheitlicher Rechte (‚acta jure imperii‘)“.

Spanisches Recht

4. Art. 24 der spanischen Verfassung lautet:

„(1) Alle Personen haben bei der Wahrnehmung ihrer legitimen Rechte und Interessen das Recht auf wirksamen Schutz durch Richter und Gerichte; in keinem Fall darf jemand ohne Verteidigung bleiben.

(2) Ebenso haben alle das Recht auf einen vom Gesetz bestimmten ordentlichen Richter, auf Verteidigung und Beistand durch einen Rechtsanwalt, auf Information über die gegen sie erhobene Anklage, auf einen öffentlichen Prozess ohne ungebührliche Verzögerungen und mit allen Garantien, auf Verwendung von zur Sache gehörenden Beweismitteln für ihre Verteidigung, auf Nichtaussage gegen sich selbst, darauf, sich nicht schuldig zu bekennen, und auf die Vermutung der Unschuld“.

5. Art. 155 („Zustellung von Mitteilungen an Parteien, die sich noch nicht auf das Verfahren eingelassen haben oder nicht durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten sind. Wohnsitz oder Sitz.“) der Ley 1/2000, de Enjuiciamiento Civil (Gesetz 1/2000 über die Zivilprozessordnung) vom 7. Januar 2000(4) in der auf den Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung lautet wie folgt:

„1. Sind die Parteien nicht durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten oder handelt es sich um die erste an den Beklagten gerichtete Aufforderung zur Einlassung oder Ladung, so ist die Mitteilung an den Wohnsitz bzw. den Sitz der Parteien zu senden.

3. Für die Zwecke der Zustellung von Mitteilungen kann der Wohnsitz oder Sitz angegeben werden, der aus dem Einwohnermelderegister hervorgeht oder für andere Zwecke amtlich bekannt ist, oder derjenige, der in einem amtlichen Register oder in Veröffentlichungen von Berufskammern erscheint, wenn es sich um Unternehmen bzw. andere Einrichtungen oder Personen handelt, die einen Beruf ausüben, für den sie einer Kammer angehören müssen. Auch der Ort, an dem eine berufliche oder angestellte Tätigkeit nicht nur zeitweilig ausgeübt wird, kann für diese Zwecke als Wohnsitz oder Sitz angegeben werden.

Richtet sich die Klage gegen eine juristische Person, so kann auch der Wohnsitz der Person angegeben werden, die Verwalter, Geschäftsführer oder Bevollmächtigter eines Handelsunternehmens bzw. Vorsitzender, Mitglied oder geschäftsführendes Mitglied des Vorstands eines in einem amtlichen Register eingetragenen Vereins ist“.

Sachverhalt des Ausgangsverfahrens, Verfahren und Vorlagefragen

6. Im Jahr 2008 kaufte die Transsaqui SL zwei Volvo-Lkw.

7. Am 19. Juli 2016 erließ die Kommission einen Beschluss in einem Verfahren nach Art. 101 AEUV und Art. 53 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992(5) (Sache AT.39824 – Lkw) (bekannt gegeben unter Aktenzeichen C[2016] 4673) (im Folgenden: Beschluss der Kommission vom 19. Juli 2016)(6). Die AB Volvo war eine der Adressatinnen dieses Beschlusses. In diesem Beschluss stellte die Kommission fest, dass sich mehrere Lkw-Hersteller, darunter Volvo, an einem Kartell in Form einer einzigen fortdauernden Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR‑Abkommens beteiligt hätten. Die Adressatinnen des Beschlusses hätten an einer Absprache teilgenommen und/oder seien dafür verantwortlich gewesen. Die Absprachen hätten Vereinbarungen und/oder abgestimmte Verhaltensweisen zu Preisen und Bruttopreiserhöhungen mit dem Ziel, die Bruttopreise im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) zu koordinieren, sowie zum Zeitplan und zur Weitergabe der Kosten für die Einführung von Emissionstechnologien nach den Abgasnormen EURO 3 bis EURO 6 umfasst. In Bezug auf Volvo wurde die Dauer der Zuwiderhandlung vom 17. Januar 1997 bis zum 18. Januar 2011 festgestellt.

8. Am 12. Juli 2018 erhob Transsaqui beim Juzgado de lo Mercantil n° 1 de Valencia (Handelsgericht Nr. 1 Valencia, Spanien) Klage auf Ersatz des Schadens, der ihr durch den ihr auferlegten Aufschlag angesichts des im Beschluss der Kommission vom 19. Juli 2016 festgestellten Lkw-Kartells entstanden sei. Der geforderte Betrag belief sich auf 24 420,69 EUR, was dem Betrag dieses Aufschlags entsprach. Als Rechtsgrundlage für ihre Klage berief sich Transsaqui auf die Art. 72 und 76 der Ley 15/2007 de Defensa de la Competencia (Gesetz 15/2007 über den Schutz des Wettbewerbs) vom 3. Juli 2007(7), den Beschluss der Kommission vom 19. Juli 2016 und die Richtlinie 2014/104/EU(8).

9. Obwohl sich der Sitz von Volvo in Göteborg (Schweden) befindet, gab Transsaqui als Anschrift von Volvo für die Zwecke der Zustellung der Aufforderung zur Einlassung die Anschrift der Tochtergesellschaft dieser Gesellschaft in Spanien, Volvo Group España, S. A. U., in Madrid (Spanien) an.

10. Nach Zulassung der Klage durch den Juzgado de lo Mercantil n° 1 de Valencia (Handelsgericht Nr. 1 Valencia) wurde per Einschreiben eine Abschrift der Klageschrift und der damit eingereichten Unterlagen an die Geschäftsadresse der Volvo Group España in Madrid gesandt. Die Annahme der Postsendung wurde jedoch mittels eines handschriftlichen Vermerks verweigert, in dem die Anschrift von Volvo in Schweden angegeben war. Der Juzgado de lo Mercantil n° 1 de Valencia (Handelsgericht Nr. 1 Valencia) gewährte Transsaqui daraufhin eine Anhörung zur Abgabe einer Stellungnahme zu dieser Frage. Transsaqui machte geltend, dass das Verhalten der Volvo Group España, das in der Weigerung bestanden habe, die Aufforderung zur Einlassung auf die gegen Volvo erhobenen Klage entgegenzunehmen, nur ein bösgläubiger Kunstgriff zur Verzögerung des Verfahrens sei, da Letztere 100 % des Gesellschaftskapitals der Ersteren halte, so dass beide ein einziges Unternehmen im Sinne des Wettbewerbsrechts darstellten.

11. Der Juzgado de lo Mercantil n° 1 de Valencia (Handelsgericht Nr. 1 Valencia) ordnete mit Entscheidung vom 22. Mai 2019 die Zustellung an die Beklagte Volvo an der Geschäftsadresse ihrer Tochtergesellschaft Volvo Group España nach dem „Grundsatz der Unternehmenseinheit“ an. Zu diesem Zweck richtete es an die Madrider Gerichte einen Antrag auf justizielle Zusammenarbeit. So wurde über die Madrider Gerichte versucht, die Zustellung am 5. September 2019 an dieser Adresse vorzunehmen, aber ein Rechtsanwalt, der sich als „rechtlicher Vertreter von Volvo Group España“ ausgab, verweigerte die Annahme des zuzustellenden Schriftstücks, wobei er darauf hinwies, dass die Zustellung am Sitz von Volvo in Schweden zu erfolgen habe. Ein zweiter Versuch der Madrider Gerichte, eine Zustellung am Geschäftssitz der Tochtergesellschaft in Madrid vorzunehmen, war erfolgreich. Sie wurde von einer Person akzeptiert, die angab, dass sie zur Rechtsabteilung gehöre.

12. Da der Juzgado de lo Mercantil n° 1 de Valencia (Handelsgericht Nr. 1 Valencia) der Ansicht war, dass die Zustellung ordnungsgemäß erfolgt sei, und Volvo, der die Schriftstücke zugestellt worden seien, nicht innerhalb der gesetzten Frist im Verfahren aufgetreten sei, wurde die Beklagte für säumig erklärt und das Verfahren fortgesetzt. Es wurde versucht, Volvo die entsprechende Entscheidung an die Geschäftsadresse ihrer Tochtergesellschaft Volvo Group España zuzustellen, doch diese verweigerte die Annahme des zuzustellenden Schriftstücks erneut mit der Begründung, dass es sich nicht um die richtige Adresse handele. Am 26. Februar 2020 gab der Juzgado de lo Mercantil n° 1 de Valencia (Handelsgericht Nr. 1 Valencia) der Klage von Transsaqui statt und verurteilte Volvo zur Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 24 420,69 EUR zuzüglich gesetzlicher Zinsen an Transsaqui sowie zur Zahlung der Kosten.

13. Der Juzgado de lo Mercantil n° 1 de Valencia (Handelsgericht Nr. 1 Valencia) stellte Volvo dieses Urteil per Einschreiben zu, das an den Geschäftssitz der Tochtergesellschaft in Madrid gerichtet war und von einer dort anwesenden Person entgegengenommen wurde, die die Empfangsbestätigung am 10. März 2020 unterzeichnete. Da das Urteil rechtskräftig war, wurden die Kosten entsprechend dem Antrag von Transsaqui festgesetzt. Das Gericht stellte Volvo die entsprechende Mitteilung unter der Adresse in Madrid zur Stellungnahme zu, und die...

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