Opinion of Advocate General Kokott delivered on 10 March 2022.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2022:181
Date10 March 2022
Celex Number62020CC0705
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 10. März 2022(1)

Rechtssache C705/20

Fossil (Gibraltar) Limited

gegen

Commissioner of Income Tax

(Vorabentscheidungsersuchen des Income Tax Tribunal of Gibraltar [United Kingdom] [Einkommensteuertribunal von Gibraltar, Vereinigtes Königreich])

„Vorabentscheidungsersuchen – Staatliche Beihilfe – Staatliche Beihilfe in Form der Nichtbesteuerung passiver Zinsen und Nutzungsentgelte – Beschluss (EU) 2019/700 – Nationale Bestimmung, die nicht Gegenstand der Untersuchung der Kommission zu staatlichen Beihilfen war – Umgehung des Beihilfebeschlusses der Kommission – Anrechnung ausländischer Steuern zur Vermeidung von Doppelbesteuerung als verbotene Beihilfe“






I. Einleitung

1. Hintergrund des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens ist ein Beschluss der Kommission, mit dem eine „Ausnahmeregelung für passives Einkommen aus Zinsen und Nutzungsentgelten“ im Steuerrecht von Gibraltar als Beihilfe eingestuft wurde.(2) Dieser Beschluss wird aufgrund einer Klage eines anderen Unternehmens derzeit noch vor dem Gericht überprüft.(3) Im Kern dreht sich das Vorabentscheidungsersuchen um die Reichweite dieses Beschlusses. Es zeigt aber zugleich die derzeitige Unsicherheit im Umgang mit dem nationalen Steuerrecht in Bezug auf das unionsrechtliche Beihilferecht.

2. Die Unsicherheit, wann eine steuerrechtliche Vorschrift eine verbotene Beihilfe darstellt, war in Gibraltar offenbar so groß, dass die dortige Finanzverwaltung vor der Anwendung des nationalen Steuerrechts die Kommission gefragt hat, ob die betreffende steuerrechtliche Vorschrift angewendet werden kann. Dies erfolgte, obwohl diese Norm nicht der Gegenstand der erwähnten Beihilfeentscheidung war.

3. Pikanterweise ist die betreffende Regelung eine Art Anrechnung von im Ausland gezahlten Steuern auf Einkünfte, die auch in Gibraltar besteuert werden. Das ist eine Technik, die zur Vermeidung einer Doppelbesteuerung im internationalen Steuerrecht durchaus üblich ist. Da die Kommission auf die Anfrage der Finanzverwaltung jedoch geantwortet hat, dass ihr Beschluss einer Steueranrechnung entgegenstehe, weigerte sich Letztere, die Regelung zugunsten des Steuerpflichtigen anzuwenden. Dies wiederum führte zu einer Klage des Steuerpflichtigen, der von einer Geltung des nationalen Steuergesetzes ausging.

4. Der Gerichtshof erhält hier erneut(4) Gelegenheit, zur beihilferechtlichen Überprüfung allgemein geltender nationaler Steuergesetze durch die Kommission und deren Auswirkungen auf den Steuerpflichtigen Stellung zu beziehen.

II. Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht

5. Der rechtliche Rahmen ergibt sich aus Art. 108 AEUV sowie aus der Verordnung (EU) 2015/1589 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union.(5)

6. Der 25. Erwägungsgrund der Verordnung 2015/1589 lautet:

„Bei rechtswidrigen Beihilfen, die mit dem Binnenmarkt nicht vereinbar sind, sollte wirksamer Wettbewerb wiederhergestellt werden. Dazu ist es notwendig, die betreffende Beihilfe einschließlich Zinsen unverzüglich zurückzufordern. Die Rückforderung hat nach den Verfahrensvorschriften des nationalen Rechts zu erfolgen. Die Anwendung dieser Verfahren sollte jedoch die Wiederherstellung eines wirksamen Wettbewerbs durch Verhinderung der sofortigen und tatsächlichen Vollstreckung des Beschlusses der Kommission nicht erschweren. Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, sollten die Mitgliedstaaten alle erforderlichen Maßnahmen zur Gewährleistung der Wirksamkeit des Beschlusses der Kommission treffen.“

7. Art. 16 Abs. 1 derselben Verordnung mit dem Titel „Rückforderung von Beihilfen“ schreibt fest:

„In Negativbeschlüssen hinsichtlich rechtswidriger Beihilfen entscheidet die Kommission, dass der betreffende Mitgliedstaat alle notwendigen Maßnahmen ergreift, um die Beihilfe vom Empfänger zurückzufordern (im Folgenden ‚Rückforderungsbeschluss‘). Die Kommission verlangt nicht die Rückforderung der Beihilfe, wenn dies gegen einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts verstoßen würde.“

B. Status und Recht von Gibraltar

8. Der König von Spanien trat Gibraltar durch den zwischen ihm und der Königin von Großbritannien am 13. Juli 1713 im Rahmen der Verträge zur Beendigung des Spanischen Erbfolgekriegs geschlossenen Vertrag von Utrecht an die britische Krone ab. Gibraltar ist eine Kolonie der britischen Krone. Es gehört nicht zum Vereinigten Königreich.

9. Völkerrechtlich steht Gibraltar auf der Liste der Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung im Sinne des Art. 73 der Charta der Vereinten Nationen. Unionsrechtlich ist Gibraltar ein europäisches Hoheitsgebiet, auf das die Bestimmungen der Verträge grundsätzlich Anwendung finden und dessen auswärtige Beziehungen ein Mitgliedstaat wahrnimmt (Art. 355 Abs. 3 AEUV).

10. Das Regierungs- und Verwaltungssystem von Gibraltar ist in der am 1. Januar 2007 in Kraft getretenen Verordnung über die Verfassung von Gibraltar von 2006 (Gibraltar Constitution Order 2006) geregelt. Danach übt die Exekutivgewalt ein von der Königin ernannter Gouverneur sowie für bestimmte innere Angelegenheiten Her Majesty’s Government of Gibraltar, die Legislativgewalt die Königin und das Parlament von Gibraltar aus. In Gibraltar wurden eigene Gerichte geschaffen. Gegen die Urteile des obersten Gerichts von Gibraltar kann vor dem Judicial Committee of the Privy Council (Rechtsausschuss des Kronrats) Rechtsmittel eingelegt werden.

11. Gibraltar erließ in Ausübung der vom Vereinigten Königreich eingeräumten Autonomie im Jahr 2010 ein neues Einkommensteuergesetz (Income Tax Act 2010, im Folgenden: ITA 2010). Dieses trat am 1. Januar 2011 in Kraft.

12. Das ITA 2010 beruht auf einem System der territorialen Besteuerung von Gewinnen und Erträgen, die in Gibraltar erzielt oder bezogen werden. In Tabelle C in Schedule 1 des ITA 2010 sind unterschiedliche Einkunftsarten aufgezählt, die besteuert werden. In der ursprünglichen Fassung des ITA 2010 waren passive Zinserträge und Nutzungsentgelte dort nicht aufgeführt und stellten somit kein steuerbares Einkommen dar. 2019 wurde jedoch eine rückwirkende Besteuerung von Nutzungsentgelten, die vom 1. Januar 2011 bis zum 31. Dezember 2013 eingenommen wurden, in das Gesetz aufgenommen.

13. Darüber hinaus sieht Section 37 dieses Gesetzes mit dem Titel „Relief in respect of foreign tax paid“ eine Form der Steueranrechnung für solche Steuerpflichtigen vor, die sowohl in Gibraltar als auch in anderen Staaten eine Einkommensteuer auf dieselben Gewinne aus Quellen in Gibraltar oder anderen Staaten gezahlt haben. Danach hat der Steuerpflichtige einen Anspruch auf eine Steuerbefreiung in Höhe der im Ausland gezahlten Steuer bis zur Höhe der in Gibraltar dafür zu zahlenden Steuer.

III. Sachverhalt

14. Ausgangspunkt des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens ist ein Rechtsstreit zwischen Fossil (Gibraltar) Limited (im Folgenden: Klägerin) und der Finanzverwaltung in Gibraltar über die Pflicht zur Entrichtung von Steuern in Gibraltar nach dem ITA 2010 in Anbetracht bereits in den Vereinigten Staaten gezahlter Steuern auf Einkünfte aus Nutzungsentgelten.

15. Die Klägerin ist eine 100%ige Tochtergesellschaft der Fossil Group Inc, eines Unternehmens mit Sitz in den Vereinigten Staaten. Sie selbst ist ein Unternehmen mit Sitz in Gibraltar, das Nutzungsentgelte für die weltweite Verwendung bestimmter Marken und immaterieller Aspekte von Designs im Zusammenhang mit den in ihrem Eigentum stehenden Marken erhält.

16. Hintergrund dieses Rechtsstreites wiederum ist die Tatsache, dass die Kommission am 16. Oktober 2013 ein förmliches Prüfverfahren eingeleitet hat, um u. a. zu untersuchen, ob die im ITA 2010 nicht vorgesehene Besteuerung von passiven Zinsen und Nutzungsentgelten bestimmte Unternehmen begünstigte.

17. Art. 1 des am 19. Dezember 2019 daraufhin verabschiedeten Beihilfebeschlusses(6) (im Folgenden: Beschluss 2019/700) lautet:

„(1) Die staatliche Beihilferegelung in Form der Ausnahmeregelung für passive Zinsen, die nach dem Einkommen-/Körperschaftsteuergesetz 2010 (ITA 2010) im Zeitraum vom 1. Januar 2011 bis zum 30. Juni 2013 in Gibraltar Anwendung fand und von Gibraltar rechtswidrig unter Verstoß gegen Artikel 108 Absatz 3 AEUV eingeführt wurde, ist im Sinne von Artikel 107 Absatz 1 AEUV mit dem Binnenmarkt unvereinbar.

(2) Die staatliche Beihilferegelung in Form der Ausnahmeregelung für Nutzungsentgelte, die nach dem Einkommen-/Körperschaftsteuergesetz 2010 im Zeitraum vom 1. Januar 2011 bis zum 31. Dezember 2013 in Gibraltar Anwendung fand und von Gibraltar rechtswidrig unter Verstoß gegen Artikel 108 Absatz 3 AEUV eingeführt wurde, ist im Sinne von Artikel 107 Absatz 1 AEUV mit dem Binnenmarkt unvereinbar.“

18. Art. 5 Abs. 1 des Beschlusses 2019/700 lautet:

„(1) Das Vereinigte Königreich fordert alle mit dem Binnenmarkt unvereinbaren Beihilfen, die auf der Grundlage der in Artikel 1 genannten Beihilferegelungen oder der in Artikel 2 genannten Steuervorbescheide gewährt wurden, von den Empfängern dieser Beihilfen zurück.“

19. Die folgenden Erwägungsgründe des Beschlusses 2019/700 umschreiben die geprüfte Maßnahme:

„(30) Das ITA 2010 beruht auf einem System der territorialen Besteuerung, d. h. Gewinne oder Erträge werden nur dann besteuert, wenn das Einkommen ‚in Gibraltar erzielt oder bezogen‘ wird. …

(33) Gemäß dem ITA 2010 in seiner ursprünglich erlassenen Fassung waren passive Zinserträge und Nutzungsentgelte – unabhängig von der Einkommensquelle oder der Anwendung des Territorialitätsprinzips – nicht steuerpflichtig (Fn. 17: In Tabelle C in Schedule 1 des ITA 2010 in seiner ursprünglich erlassenen Fassung war diese Einkommenskategorie nicht enthalten.) …“

20. Den selektiven Vorteil dieser Maßnahme begründet die Kommission so:

„(82) Im vorliegenden Fall verstößt die Maßnahme gegen den allgemeinen Grundsatz, dass die Körperschaftsteuer von allen Steuerpflichtigen erhoben wird, die Einkommen in Gibraltar erzielen...

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