A contra B.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2021:640
Celex Number62021CJ0262
Date02 August 2021
Docket NumberC-262/21
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

2. August 2021(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Anwendungsbereich – Art. 2 Nr. 11 – Begriff ‚widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes‘ – Haager Übereinkommen vom 25. Oktober 1980 – Antrag auf Rückgabe eines Kleinkinds, dessen Eltern gemeinsam sorgeberechtigt sind – Drittstaatsangehörige – Überstellung des Kindes und seiner Mutter in den nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin III) für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat“

In der Rechtssache C‑262/21 PPU

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Korkein oikeus (Oberster Gerichtshof, Finnland) mit Entscheidung vom 23. April 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 23. April 2021, in dem Verfahren

A

gegen

B

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J‑C. Bonichot (Berichterstatter), des Richters L. Bay Larsen, der Richterin C. Toader sowie der Richter M. Safjan und N. Jääskinen,

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. Juni 2021,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– des A, vertreten durch J. Kuusivaara, asianajaja,

– der B, vertreten durch E. Wehka-aho und A. Saarikoski, luvan saaneet oikeudenkäyntiavustajat,

– der finnischen Regierung, vertreten durch H. Leppo als Bevollmächtigte,

– der schwedischen Regierung, vertreten durch O. Simonsson, J. Lundberg, C. Meyer-Seitz, A. M. Runeskjöld, M. Salborn Hodgson, H. Shev, H. Eklinder und R. Shahsavan Eriksson als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Huttunen, W. Wils und A. Azema als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. Juli 2021

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Nr. 11 und Art. 11 Abs. 4 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1, im Folgenden: Brüssel‑IIa-Verordnung), von Art. 13 Abs. 1 Buchst. b und Art. 20 des Haager Übereinkommens vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (im Folgenden: Haager Übereinkommen) und von Art. 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen den Drittstaatsangehörigen A und B, dem Vater bzw. der Mutter eines minderjährigen Kindes, über einen vom Vater auf der Grundlage des Haager Übereinkommens gestellten Antrag auf Rückführung des Kindes nach Schweden, nachdem das Kind und seine Mutter im Anschluss an eine auf der Grundlage der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31, im Folgenden: Dublin‑III-Verordnung), getroffene Entscheidung nach Finnland überstellt wurden.

Rechtlicher Rahmen

Völkerrecht

3 Art. 1 des Haager Übereinkommens lautet:

„Ziel dieses Übereinkommens ist es,

a) die sofortige Rückgabe widerrechtlich in einen Vertragsstaat verbrachter oder dort zurückgehaltener Kinder sicherzustellen und

b) zu gewährleisten, dass das in einem Vertragsstaat bestehende Sorgerecht und Recht zum persönlichen Umgang in den anderen Vertragsstaaten tatsächlich beachtet wird.“

4 Art. 13 Abs. 1 des Übereinkommens bestimmt:

„Ungeachtet des Artikels 12 ist das Gericht oder die Verwaltungsbehörde des ersuchten Staates nicht verpflichtet, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn die Person, Behörde oder sonstige Stelle, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist,

a) dass die Person, Behörde oder sonstige Stelle, der die Sorge für die Person des Kindes zustand, das Sorgerecht zur Zeit des Verbringens oder Zurückhaltens tatsächlich nicht ausgeübt, dem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt oder dieses nachträglich genehmigt hat oder

b) dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt.“

5 Art. 20 des Übereinkommens sieht vor:

„Die Rückgabe des Kindes nach Artikel 12 kann abgelehnt werden, wenn sie nach den im ersuchten Staat geltenden Grundwerten über den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten unzulässig ist.“

Unionsrecht

Brüssel-IIa-Verordnung

6 In den Erwägungsgründen 5, 17 und 33 der Brüssel‑IIa-Verordnung heißt es:

„(5) Um die Gleichbehandlung aller Kinder sicherzustellen, gilt diese Verordnung für alle Entscheidungen über die elterliche Verantwortung, einschließlich der Maßnahmen zum Schutz des Kindes, ohne Rücksicht darauf, ob eine Verbindung zu einem Verfahren in Ehesachen besteht.

(17) Bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes sollte dessen Rückgabe unverzüglich erwirkt werden; zu diesem Zweck sollte das [Haager Übereinkommen], das durch die Bestimmungen dieser Verordnung und insbesondere des Artikels 11 ergänzt wird, weiterhin Anwendung finden. …

(33) Diese Verordnung steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die mit der [Charta] anerkannt wurden. Sie zielt insbesondere darauf ab, die Wahrung der Grundrechte des Kindes im Sinne des Artikels 24 der [Charta] zu gewährleisten.“

7 Art. 1 („Anwendungsbereich“) der Verordnung sieht in den Abs. 1 und 2 vor:

„(1) Diese Verordnung gilt, ungeachtet der Art der Gerichtsbarkeit, für Zivilsachen mit folgendem Gegenstand:

b) die Zuweisung, die Ausübung, die Übertragung sowie die vollständige oder teilweise Entziehung der elterlichen Verantwortung.

(2) Die in Absatz 1 Buchstabe b) genannten Zivilsachen betreffen insbesondere:

a) das Sorgerecht und das Umgangsrecht,

b) die Vormundschaft, die Pflegschaft und entsprechende Rechtsinstitute,

c) die Bestimmung und den Aufgabenbereich jeder Person oder Stelle, die für die Person oder das Vermögen des Kindes verantwortlich ist, es vertritt oder ihm beisteht,

d) die Unterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie oder einem Heim,

e) die Maßnahmen zum Schutz des Kindes im Zusammenhang mit der Verwaltung und Erhaltung seines Vermögens oder der Verfügung darüber.“

8 In Art. 2 der Verordnung heißt es:

„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

7. ‚elterliche Verantwortung‘ die gesamten Rechte und Pflichten, die einer natürlichen oder juristischen Person durch Entscheidung oder kraft Gesetzes oder durch eine rechtlich verbindliche Vereinbarung betreffend die Person oder das Vermögen eines Kindes übertragen wurden. Elterliche Verantwortung umfasst insbesondere das Sorge- und das Umgangsrecht;

11. ‚widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes‘ das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes, wenn

a) dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes oder aufgrund einer rechtlich verbindlichen Vereinbarung nach dem Recht des Mitgliedstaats besteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte,

und

b) das Sorgerecht zum Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, wenn das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte. Von einer gemeinsamen Ausübung des Sorgerechts ist auszugehen, wenn einer der Träger der elterlichen Verantwortung aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes nicht ohne die Zustimmung des anderen Trägers der elterlichen Verantwortung über den Aufenthaltsort des Kindes bestimmen kann.“

9 Art. 11 der Verordnung bestimmt in den Abs. 1 und 4:

„(1) Beantragt eine sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle bei den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats eine Entscheidung auf der Grundlage des [Haager Übereinkommens], um die Rückgabe eines Kindes zu erwirken, das widerrechtlich in einen anderen als den Mitgliedstaat verbracht wurde oder dort zurückgehalten wird, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so gelten die Absätze 2 bis 8.

(4) Ein Gericht kann die Rückgabe eines Kindes aufgrund des Artikels 13 [Absatz 1] Buchstabe b) des [Haager Übereinkommens] nicht verweigern, wenn nachgewiesen ist, dass angemessene Vorkehrungen getroffen wurden, um den Schutz des Kindes nach seiner Rückkehr zu gewährleisten.“

Dubl...

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