O.D. and Others v Istituto nazionale della previdenza sociale (INPS).

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2021:659
Docket NumberC-350/20
Date02 September 2021
Celex Number62020CJ0350
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

2. September 2021(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2011/98/EU – Rechte von Arbeitnehmern aus Drittländern, die Inhaber einer kombinierten Erlaubnis sind – Art. 12 – Recht auf Gleichbehandlung – Soziale Sicherheit – Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit – Art. 3 – Leistungen bei Mutterschaft und Vaterschaft – Familienleistungen – Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, mit denen Drittstaatsangehörige, die Inhaber einer kombinierten Erlaubnis sind, von der Gewährung einer Geburtsbeihilfe und einer Mutterschaftsbeihilfe ausgeschlossen werden“

In der Rechtssache C‑350/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof, Italien) mit Entscheidung vom 8. Juli 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 30. Juli 2020, in dem Verfahren

O.D.,

R.I.H.V.,

B.O.,

F.G.,

M.K.F.B.,

E.S.,

N.P.,

S.E.A.

gegen

Istituto nazionale della previdenza sociale (INPS),

Beteiligte:

Presidenza del Consiglio dei Ministri,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten M. Vilaras, E. Regan, A. Kumin und N. Wahl, des Richters T. von Danwitz, der Richterin C. Toader, der Richter M. Safjan, D. Šváby und S. Rodin, der Richterin L. S. Rossi sowie der Richter I. Jarukaitis (Berichterstatter) und N. Jääskinen,

Generalanwalt: E. Tanchev,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– von O.D., R.I.H.V., B.O., F.G., M.K.F.B., E.S. und S.E.A., vertreten durch A. Guariso, L. Neri, R. Randellini, E. Fiorini und M. Nappi, avvocati,

– von N.P., vertreten durch A. Andreoni und V. Angiolini, avvocati,

– des Istituto nazionale della previdenza sociale (INPS), vertreten durch M. Sferrazza und V. Stumpo, avvocati,

– der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Gentili, avvocato dello Stato,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und D. Martin als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 34 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), von Art. 3 Abs. 1 Buchst. b und j der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, und Berichtigungen im ABl. 2004, L 200, S. 1, und im ABl. 2015, L 213, S. 65) sowie von Art. 12 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2011/98/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über ein einheitliches Verfahren zur Beantragung einer kombinierten Erlaubnis für Drittstaatsangehörige, sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufzuhalten und zu arbeiten, sowie über ein gemeinsames Bündel von Rechten für Drittstaatsarbeitnehmer, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten (ABl. 2011, L 343, S. 1).

2 Es ergeht im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen O.D., R.I.H.V., B.O., F.G., M.K.F.B., E.S., N.P. und S.E.A., Drittstaatsangehörigen, die Inhaber einer kombinierten Erlaubnis sind, und dem Istituto Nazionale della Previdenza Sociale (INPS) (Staatliche Sozialversicherungsanstalt, Italien) wegen dessen Weigerung, ihnen eine Geburtsbeihilfe und eine Mutterschaftsbeihilfe zu gewähren.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2011/98

3 In den Erwägungsgründen 20, 24 und 31 der Richtlinie 2011/98 heißt es:

„(20) Alle Drittstaatsangehörigen, die sich rechtmäßig in den Mitgliedstaaten aufhalten und dort arbeiten, sollten nach dem Grundsatz der Gleichbehandlung zumindest ein gemeinsames Bündel gleicher Rechte wie die Staatsangehörigen des jeweiligen Aufnahmemitgliedstaates genießen, ungeachtet des ursprünglichen Zwecks bzw. der Grundlage ihrer Zulassung. Das Recht auf Gleichbehandlung in den in dieser Richtlinie geregelten Bereichen sollte nicht nur jenen Drittstaatsangehörigen zuerkannt werden, die zu Beschäftigungszwecken in einem Mitgliedstaa[t] zugelassen wurden, sondern auch denjenigen, die für andere Zwecke zugelassen wurden und denen der Zugang zum Arbeitsmarkt in jenem Mitgliedstaat im Rahmen anderer Vorschriften des Unionsrechts oder des einzelstaatlichen Rechts gewährt wurde, einschließlich der Familienangehörigen eines Drittstaatsarbeitnehmers, die gemäß der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung [(ABl. 2003, L 251, S. 12)] in dem Mitgliedstaat zugelassen werden, der Drittstaatsangehörigen, die gemäß der Richtlinie 2004/114/EG des Rates vom 13. Dezember 2004 über die Bedingungen für die Zulassung von Drittstaatsangehörigen zur Absolvierung eines Studiums oder zur Teilnahme an einem Schüleraustausch, einer unbezahlten Ausbildungsmaßnahme oder einem Freiwilligendienst [(ABl. 2004, L 375, S. 12)] in dem Mitgliedstaat zugelassen werden, und der Forscher, die gemäß der Richtlinie 2005/71/EG des Rates vom 12. Oktober 2005 über ein besonderes Zulassungsverfahren für Drittstaatsangehörige zum Zwecke der wissenschaftlichen Forschung [(ABl. 2005, L 289, S. 15)] zugelassen werden.

(24) Drittstaatsarbeitnehmer sollten ein Recht auf Gleichbehandlung in Bezug auf die soziale Sicherheit haben. Die Zweige der sozialen Sicherheit sind in der [Verordnung Nr. 883/2004] definiert. Die Bestimmungen dieser Richtlinie über die Gleichbehandlung im Bereich der sozialen Sicherheit sollten auch für Arbeitnehmer, die direkt aus einem Drittstaat in einem Mitgliedstaat zugelassen wurden, gelten. …

(31) Diese Richtlinie wahrt im Einklang mit Artikel 6 [des Vertrags über die Europäische Union (EUV)] die Grundrechte und Prinzipien, die in der [Charta] verankert sind.“

4 Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2011/98 bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

a) ‚Drittstaatsangehöriger‘ jede Person, die nicht Unionsbürger im Sinne von Artikel 20 Absatz 1 [des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)] ist;

b) ‚Drittstaatsarbeitnehmer‘ jeden Drittstaatsangehörigen, der in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zugelassen wurde, sich dort rechtmäßig aufhält und in diesem Mitgliedstaat im Rahmen eines unselbstständigen Beschäftigungsverhältnisses im Einklang mit dem einzelstaatlichen Recht oder den einzelstaatlichen Gepflogenheiten arbeiten darf;

c) ‚kombinierte Erlaubnis‘ einen von den Behörden eines Mitgliedstaats ausgestellten Aufenthaltstitel, der es einem Drittstaatsangehörigen gestattet, sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats zu Arbeitszwecken aufzuhalten;

…“

5 Art. 3 („Geltungsbereich“) der Richtlinie 2011/98 sieht in seinen Abs. 1 und 2 vor:

„(1) Diese Richtlinie gilt für

b) Drittstaatsangehörige, die in einem Mitgliedstaat zu anderen als zu Arbeitszwecken nach Unionsrecht oder einzelstaatlichem Recht zugelassen wurden und die eine Arbeitserlaubnis sowie einen Aufenthaltstitel im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 1030/2002 [des Rates vom 13. Juni 2002 zur einheitlichen Gestaltung des Aufenthaltstitels für Drittstaatenangehörige (ABl. 2002, L 157, S. 1)] besitzen, und

c) Drittstaatsangehörige, die in einem Mitgliedstaat zu Arbeitszwecken nach Unionsrecht oder einzelstaatlichem Recht zugelassen wurden.

(2) Diese Richtlinie gilt nicht für Drittstaatsangehörige,

i) die langfristig Aufenthaltsberechtigte gemäß der Richtlinie 2003/109/EG [des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44)] sind;

…“

6 In Art. 12 („Recht auf Gleichbehandlung“) der Richtlinie 2011/98 heißt es:

„(1) Drittstaatsarbeitnehmer im Sinne des Artikels 3 Absatz 1 Buchstaben b und c haben ein Recht auf Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen des Mitgliedstaats, in dem sie sich aufhalten, in Bezug auf

e) Zweige der sozialen Sicherheit nach der Verordnung [Nr. 883/2004];

(2) Die Mitgliedstaaten können die Gleichbehandlung wie folgt einschränken:

b) sie können die gemäß Absatz 1 Buchstabe e eingeräumten Rechte für Drittstaatsarbeitnehmer beschränken, wobei solche Rechte nicht für solche Drittstaatsarbeitnehmer beschränkt werden dürfen, die in einem Beschäftigungsverhältnis stehen oder die mindestens sechs Monate beschäftigt waren und als arbeitslos gemeldet sind.

Zusätzlich können die Mitgliedstaaten beschließen, dass Absatz 1 Buchstabe e hinsichtlich Familienleistungen nicht für Drittstaatsangehörige gilt, denen die Erlaubnis erteilt wurde, für einen Zeitraum von höchstens sechs Monaten im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu arbeiten, für Drittstaatsangehörige, die zu Studienzwecken zugelassen wurden oder für Drittstaatsangehörige, die aufgrund eines Visums die Erlaubnis haben zu arbeiten;

…“

7 Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2011/98 sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten setzen die Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie bis zum 25. Dezember 2013 nachzukommen. Sie übermitteln der Kommission unverzüglich den Wortlaut dieser Vorschriften.“

Verordnung Nr. 883/2004

8 Nach Art. 1 Buchst. z der Verordnung Nr. 883/2004 bezeichnet der Ausdruck „Familienleistungen“ für die Zwecke dieser Verordnung alle Sach- oder Geldleistungen zum Ausgleich von Familienlasten, mit Ausnahme von Unterhaltsvorschüssen und besonderen Geburts- und Adoptionsbeihilfen nach Anhang I der Verordnung.

9 Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 bestimmt:

„Diese Verordnung gilt für alle Rechtsvorschriften, die folgende Zweige der sozialen Sicherheit betreffen:

b) Leistungen bei Mutterschaft und gleichgestellte Leistungen bei Vaterschaft;

j) Familienleistungen.“

10 Anhang I („Unterhaltsvorschüsse und besondere...

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