DX v Instituto Nacional de la Seguridad Social (INSS) and Tesorería General de la Seguridad Social.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2023:665
Date14 September 2023
Docket NumberC-113/22
Celex Number62022CJ0113
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

14. September 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Richtlinie 79/7/EWG – Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit – Art. 6 – Nationale Regelung, wonach nur Frauen einen Anspruch auf eine Rentenzulage haben – Vorabentscheidungsurteil des Gerichtshofs, wonach diese Regelung eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darstellt – Verwaltungspraxis, wonach diese Regelung ungeachtet des Urteils weiterhin angewandt wird – Andere Diskriminierung – Finanzielle Wiedergutmachung – Erstattung der Auslagen für Prozesskosten und Anwaltshonorare“

In der Rechtssache C‑113/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal Superior de Justicia de Galicia (Obergericht Galicien, Spanien) mit Entscheidung vom 2. Februar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 17. Februar 2022, in dem Verfahren

DX

gegen

Instituto Nacional de la Seguridad Social (INSS),

Tesorería General de la Seguridad Social (TGSS)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), der Richterin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter F. Biltgen, N. Wahl und J. Passer,

Generalanwältin: L. Medina,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– von DX, vertreten durch J. de Cominges Cáceres, Abogado,

– des Instituto Nacional de la Seguridad Social (INSS), vertreten durch M. P. García Perea und M. P. Madrid Yagüe als Letradas,

– der spanischen Regierung, vertreten durch L. Aguilera Ruiz als Bevollmächtigten,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch I. Galindo Martín und A. Szmytkowska als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (ABl. 1979, L 6, S. 24).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen DX, Vater von zwei Kindern, einerseits sowie dem Instituto Nacional de la Seguridad Social (INSS) (Nationales Institut der Sozialen Sicherheit, Spanien) und der Tesorería General de la Seguridad Social (TGSS) (Allgemeine Sozialversicherungskasse, Spanien) andererseits wegen der Weigerung des INSS, dem Kläger eine Rentenzulage zu gewähren, die gemäß den nationalen Rechtsvorschriften nur Frauen erhielten, die mindestens zwei leibliche oder adoptierte Kinder hatten.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3 Art. 1 der Richtlinie 79/7 lautet:

„Diese Richtlinie hat zum Ziel, dass auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit und der sonstigen Bestandteile der sozialen Sicherung im Sinne von Artikel 3 der Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit – im Folgenden ‚Grundsatz der Gleichbehandlung‘ genannt – schrittweise verwirklicht wird.“

4 Art. 2 dieser Richtlinie sieht vor:

„Diese Richtlinie findet Anwendung auf die Erwerbsbevölkerung – einschließlich der Selbständigen, deren Erwerbstätigkeit durch Krankheit, Unfall oder unverschuldete Arbeitslosigkeit unterbrochen ist, und der Arbeitsuchenden – sowie auf die im Ruhestand befindlichen oder arbeitsunfähigen Arbeitnehmer und Selbständigen.“

5 Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:

„Diese Richtlinie findet Anwendung

a) auf die gesetzlichen Systeme, die Schutz gegen folgende Risiken bieten:

– Krankheit,

– Invalidität,

– Alter,

– Arbeitsunfall und Berufskrankheit,

– Arbeitslosigkeit;

…“

6 Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie lautet:

„Der Grundsatz der Gleichbehandlung beinhaltet den Fortfall jeglicher unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, insbesondere unter Bezugnahme auf den Ehe- oder Familienstand, und zwar im Besonderen betreffend:

– den Anwendungsbereich der Systeme und die Bedingungen für den Zugang zu den Systemen,

– die Beitragspflicht und die Berechnung der Beiträge,

– die Berechnung der Leistungen, einschließlich der Zuschläge für den Ehegatten und für unterhaltsberechtigte Personen, sowie die Bedingungen betreffend die Geltungsdauer und die Aufrechterhaltung des Anspruchs auf die Leistungen.“

7 In Art. 5 der Richtlinie 79/7 heißt es:

„Die Mitgliedstaaten treffen die notwendigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung unvereinbaren Rechts- und Verwaltungsvorschriften beseitigt werden.“

8 Art. 6 dieser Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten erlassen die innerstaatlichen Vorschriften, die notwendig sind, damit jeder, der sich wegen Nichtanwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung für beschwert hält, nach etwaiger Befassung anderer zuständiger Stellen seine Rechte gerichtlich geltend machen kann.“

Spanisches Recht

9 Art. 53 der Ley General de la Seguridad Social (Allgemeines Gesetz über die soziale Sicherheit) in ihrer konsolidierten Fassung, gebilligt durch das Real Decreto Legislativo 8/2015 (Königliches Gesetzesdekret 8/2015) vom 30. Oktober 2015 (BOE Nr. 261 vom 31. Oktober 2015, S. 103291) (im Folgenden: LGSS), lautet:

„(1) Der Anspruch auf Zuerkennung der Leistungen verjährt in fünf Jahren, gerechnet ab dem Folgetag des Tages, an dem der betreffende Versicherungsfall eingetreten ist, vorbehaltlich der in diesem Gesetz vorgesehenen Ausnahmen; eine Zuerkennung wirkt für den Zeitraum von drei Monaten vor der Antragstellung zurück.

Wirken sich Änderungsanträge auf den wirtschaftlichen Gehalt bereits zuerkannter Leistungen aus, beläuft sich die Rückwirkung der sich aus dem neuen Betrag ergebenden finanziellen Folgen auf nicht mehr als drei Monate ab dem Tag der Antragstellung. Diese Regelung zur Höchstdauer der Rückwirkung findet keine Anwendung, wenn Schreibfehler, sachliche Fehler oder Rechenfehler berichtigt werden …“.

10 Art. 60 („Mutterschaftszulage bei beitragsbezogenen Renten des Systems der sozialen Sicherheit“) Abs. 1 LGSS sah in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung vor:

„Frauen, die leibliche oder adoptierte Kinder hatten und von einer Untergliederung des Systems der sozialen Sicherheit eine beitragsbezogene Alters- oder Witwenrente oder Rente wegen dauernder Invalidität erhalten, wird aufgrund ihres demografischen Beitrags zur sozialen Sicherheit eine Rentenzulage gewährt.

Diese Zulage, die in jeder Hinsicht die Rechtsnatur einer öffentlichen beitragsbezogenen Rente hat, besteht aus einem Betrag in Höhe eines bestimmten, auf den Ausgangsbetrag der entsprechenden Renten angewandten Prozentsatzes, der sich je nach der Zahl der Kinder wie folgt bemisst:

a) bei 2 Kindern: 5 Prozent,

…“

11 Art. 10 der Ley Orgánica 3/2007 para la igualdad efectiva de mujeres y hombres (Organgesetz 3/2007 zur tatsächlichen Gleichstellung von Frauen und Männern) vom 22. März 2007 (BOE Nr. 71 vom 23. März 2007, S. 12611) bestimmt:

„Rechtshandlungen …, die eine Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts darstellen oder hierzu führen können, sind nichtig und unwirksam und begründen [für den Handelnden] eine Haftung im Rahmen eines Systems tatsächlicher, effektiver und in einem zu dem entstandenen Schaden angemessenen Verhältnis stehender Wiedergutmachungs‑ und Entschädigungsleistungen sowie gegebenenfalls im Rahmen eines wirksamen und abschreckenden, diskriminierenden Verhaltensweisen vorbeugenden Sanktionssystems.“

12 Art. 183 der Ley 36/2011 reguladora de la jurisdicción social (Gesetz 36/2011 über die Sozialgerichtsbarkeit) vom 10. Oktober 2011 (BOE Nr. 245 vom 11. Oktober 2011, S. 106584) (im Folgenden: Gesetz 36/2011) sieht in seinen Abs. 1 und 2 vor:

„(1) Wird im Urteil eine Rechtsverletzung festgestellt, entscheidet das Gericht unter Berücksichtigung des immateriellen Schadens infolge der Grundrechtsverletzung sowie der daraus folgenden zusätzlichen Schäden über die Höhe des Schadensersatzes, der der klagenden Partei wegen Diskriminierung oder einer anderen Verletzung ihrer Grundrechte und Grundfreiheiten gegebenenfalls zusteht.

(2) Das Gericht entscheidet über die Höhe des Schadensersatzes, der zurückhaltend zu veranschlagen ist, wenn der Nachweis seiner genauen Höhe zu schwierig oder zu kostspielig ist, um das Opfer angemessen zu entschädigen und es im Rahmen des Möglichen in seine Lage vor der Rechtsverletzung zurückzuversetzen und um zum Ziel der Schadensvermeidung beizutragen.“

13 Im Criterio de Gestión 1/2020 (Rundschreiben 1/2020) der Subdirección General de Ordenación y Asistencia Jurídica del Instituto Nacional de la Seguridad Social (Untergeneraldirektion für Organisation und Rechtsbeistand des INSS) vom 31. Januar 2020 (im Folgenden: Rundschreiben 1/2020) hieß es:

„Bis zur erforderlichen Gesetzesänderung zur Anpassung von Art. 60 LGSS an das Urteil [vom 12. Dezember 2019, Instituto Nacional de la Seguridad Social (Rentenzulage für Mütter) (C‑450/18, EU:C:2019:1075)] …, gelten für diese Verwaltungsstelle folgende Handlungsanweisungen:

1. Die in Art. 60 TRLGSS geregelte Zulage zu Renten wegen dauernder Invalidität, Alter oder Witwenschaft wird bis zur entsprechenden Änderung dieser Vorschrift weiterhin, wie bisher, ausschließlich Frauen zuerkannt, die die dort festgelegten Voraussetzungen erfüllen.

2. Die Regelung in Nr. 1 gilt selbstverständlich unbeschadet der Verpflichtung, rechtskräftige Urteile durchzuführen, mit denen die genannte Rentenzulage Männern zuerkannt wird …“.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

14 DX, Vater von zwei Kindern, wurde vom INSS mit Wirkung vom 10. November 2018 auf einer Berechnungsgrundlage in Höhe von 1 972,87 Euro eine Leistung wegen dauernder Vollinvalidität zugesprochen. Im Rahmen des entsprechenden Verwaltungsverfahrens hatte er die Zuerkennung des Anspruchs auf die in Art. 60 Abs. 1 LGSS für Altersrenten, Renten wegen dauernder Invalidität oder Witwenrenten vorgesehene Rentenzulage für...

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