Landkreis Northeim v Daimler AG.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2022:607
Date01 August 2022
Docket NumberC-588/20
Celex Number62020CJ0588
CourtCourt of Justice (European Union)

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

1. August 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Wettbewerb – Kartelle – Art. 101 AEUV – Klagen auf Schadensersatz für Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Union – Beschluss der Europäischen Kommission, mit dem eine Zuwiderhandlung festgestellt wird – Vergleichsverfahren – Von der Zuwiderhandlung betroffene Produkte – Sonderfahrzeuge – Müllfahrzeuge“

In der Rechtssache C‑588/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landgericht Hannover (Deutschland) mit Entscheidung vom 19. Oktober 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 10. November 2020, in dem Verfahren

Landkreis Northeim

gegen

Daimler AG,

Beteiligte:

Iveco Magirus AG,

Traton SE, Rechtsnachfolgerin der MAN SE, von MAN Truck & Bus und der MAN Truck & Bus Deutschland GmbH,

Schönmackers Umweltdienste GmbH & Co. KG,


erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev (Berichterstatter) sowie der Richter P. G. Xuereb und A. Kumin,

Generalanwältin: L. Medina,

Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 17. November 2021,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– des Landkreises Northeim, vertreten durch die Rechtsanwälte L. Maritzen und B. Rohlfing,

– der Daimler AG, vertreten durch die Rechtsanwälte U. Denzel, L. Schultze-Moderow und C. von Köckritz,

– der Iveco Magirus AG, vertreten durch die Rechtsanwälte A. Boos und M. Buntscheck sowie die Rechtsanwältinnen T. Mühlbach und H. Stichweh,

– der Traton SE, Rechtsnachfolgerin der MAN SE, von MAN Truck & Bus und der MAN Truck & Bus Deutschland GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt C. Jopen, Rechtsanwältin S. Milde und Rechtsanwalt D. J. Zimmer,

– der Schönmackers Umweltdienste GmbH & Co. KG, vertreten durch Rechtsanwalt A. Glöckner,

– der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, E. Samoilova und J. Schmoll als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Baches Opi, M. Farley und L. Wildpanner als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 24. Februar 2022

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des unter dem Aktenzeichen C(2016) 4673 final bekannt gegebenen Beschlusses der Kommission vom 19. Juli 2016 in einem Verfahren nach Artikel 101 [AEUV] und Artikel 53 des EWR-Abkommens (Sache AT.39824 – Lastkraftwagen) (ABl. 2017, C 108, S. 6, im Folgenden: Beschluss).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Landkreis Northeim (Deutschland) und der Daimler AG wegen eines Schadens, der dem Landkreis Northeim durch die im Beschluss festgestellte Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 (ABl. 1994, L 1, S. 3, im Folgenden: EWR-Abkommen) entstanden sein soll.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Verordnung (EG) Nr. 1/2003

3 Art. 2 („Beweislast“) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101] und [102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) lautet:

„In allen einzelstaatlichen und [Unionsverfahren] zur Anwendung der Artikel [101] und [102 AEUV] obliegt die Beweislast für eine Zuwiderhandlung gegen Artikel [101] Absatz 1 oder Artikel [102 AEUV] der Partei oder der Behörde, die diesen Vorwurf erhebt. Die Beweislast dafür, dass die Voraussetzungen des Artikels [101] Absatz 3 [AEUV] vorliegen, obliegt den Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen, die sich auf diese Bestimmung berufen.“

4 Art. 7 („Feststellung und Abstellung von Zuwiderhandlungen“) dieser Verordnung lautet:

„(1) Stellt die Kommission auf eine Beschwerde hin oder von Amts wegen eine Zuwiderhandlung gegen Artikel [101] oder Artikel [102 AEUV] fest, so kann sie die beteiligten Unternehmen und Unternehmensvereinigungen durch Entscheidung verpflichten, die festgestellte Zuwiderhandlung abzustellen. Sie kann ihnen hierzu alle erforderlichen Abhilfemaßnahmen verhaltensorientierter oder struktureller Art vorschreiben, die gegenüber der festgestellten Zuwiderhandlung verhältnismäßig und für eine wirksame Abstellung der Zuwiderhandlung erforderlich sind. Abhilfemaßnahmen struktureller Art können nur in Ermangelung einer verhaltensorientierten Abhilfemaßnahme von gleicher Wirksamkeit festgelegt werden, oder wenn letztere im Vergleich zu Abhilfemaßnahmen struktureller Art mit einer größeren Belastung für die beteiligten Unternehmen verbunden wäre. Soweit die Kommission ein berechtigtes Interesse hat, kann sie auch eine Zuwiderhandlung feststellen, nachdem diese beendet ist.

(2) Zur Einreichung einer Beschwerde im Sinne von Absatz 1 befugt sind natürliche und juristische Personen, die ein berechtigtes Interesse darlegen, sowie die Mitgliedstaaten.“

5 Art. 11 („Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten“) Abs. 6 der Verordnung sieht vor:

„Leitet die Kommission ein Verfahren zum Erlass einer Entscheidung nach Kapitel III ein, so entfällt damit die Zuständigkeit der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten für die Anwendung der Artikel [101] und [102 AEUV]. Ist eine Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats in einem Fall bereits tätig, so leitet die Kommission ein Verfahren erst ein, nachdem sie diese Wettbewerbsbehörde konsultiert hat.“

6 Art. 16 („Einheitliche Anwendung des Wettbewerbsrechts [der Union]“) Abs. 1 der Verordnung bestimmt:

„Wenn Gerichte der Mitgliedstaaten nach Artikel [101] oder [102 AEUV] über Vereinbarungen, Beschlüsse oder Verhaltensweisen zu befinden haben, die bereits Gegenstand einer Entscheidung der Kommission sind, dürfen sie keine Entscheidungen erlassen, die der Entscheidung der Kommission zuwiderlaufen. Sie müssen es auch vermeiden, Entscheidungen zu erlassen, die einer Entscheidung zuwiderlaufen, die die Kommission in einem von ihr eingeleiteten Verfahren zu erlassen beabsichtigt. Zu diesem Zweck kann das einzelstaatliche Gericht prüfen, ob es notwendig ist, das vor ihm anhängige Verfahren auszusetzen. Diese Verpflichtung gilt unbeschadet der Rechte und Pflichten nach Artikel [267 AEUV].“

7 Art. 18 („Auskunftsverlangen“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 bestimmt:

„Die Kommission kann zur Erfüllung der ihr durch diese Verordnung übertragenen Aufgaben durch einfaches Auskunftsverlangen oder durch Entscheidung von Unternehmen und Unternehmensvereinigungen verlangen, dass sie alle erforderlichen Auskünfte erteilen.“

8 Art. 23 („Geldbußen“) Abs. 2 und 3 dieser Verordnung bestimmt:

„(2) Die Kommission kann gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen durch Entscheidung Geldbußen verhängen, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig

a) gegen Artikel [101] oder Artikel [102 AEUV] verstoßen oder

b) einer nach Artikel 8 erlassenen Entscheidung zur Anordnung einstweiliger Maßnahmen zuwiderhandeln oder

c) durch Entscheidung gemäß Artikel 9 für bindend erklärte Verpflichtungszusagen nicht einhalten.

Die Geldbuße für jedes an der Zuwiderhandlung beteiligte Unternehmen oder jede beteiligte Unternehmensvereinigung darf 10 % seines bzw. ihres jeweiligen im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes nicht übersteigen.

Steht die Zuwiderhandlung einer Unternehmensvereinigung mit der Tätigkeit ihrer Mitglieder im Zusammenhang, so darf die Geldbuße 10 % der Summe der Gesamtumsätze derjenigen Mitglieder, die auf dem Markt tätig waren, auf dem sich die Zuwiderhandlung der Vereinigung auswirkte, nicht übersteigen.

(3) Bei der Festsetzung der Höhe der Geldbuße ist sowohl die Schwere der Zuwiderhandlung als auch deren Dauer zu berücksichtigen.“

Leitlinien von 2006

9 Ziff. 6 der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung Nr. 1/2003 (ABl. 2006, C 210, S. 2, im Folgenden: Leitlinien von 2006) sieht vor:

„Die Verbindung des Umsatzes auf den vom Verstoß betroffenen Märkten mit der Dauer stellt eine Formel dar, die die wirtschaftliche Bedeutung der Zuwiderhandlung und das jeweilige Gewicht des einzelnen an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmens angemessen wiedergibt. Sie vermittelt Aufschluss über die Größenordnung der Geldbuße und sollte nicht als Grundlage für eine automatische arithmetische Berechnungsmethode verstanden werden.“

10 Ziff. 13 dieser Leitlinien lautet:

„Zur Festsetzung des Grundbetrags der Geldbuße verwendet die Kommission den Wert der von dem betreffenden Unternehmen im relevanten räumlichen Markt innerhalb des [Europäischen Wirtschaftsraums (EWR)] verkauften Waren oder Dienstleistungen, die mit dem Verstoß in einem unmittelbaren oder mittelbaren … Zusammenhang stehen. Im Regelfall ist der Umsatz im letzten vollständigen Geschäftsjahr zugrunde zu legen, in dem das Unternehmen an der Zuwiderhandlung beteiligt war (nachstehend ‚Umsatz‘).“

11 Ziff. 37 der Leitlinien lautet:

„In diesen Leitlinien wird die allgemeine Methode für die Berechnung der Geldbußen dargelegt; jedoch können die besonderen Umstände eines Falles oder die Notwendigkeit einer ausreichend hohen Abschreckungswirkung ein Abweichen von dieser Methode oder der in Ziffer 21...

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