Michael Schütte v Finanzamt Brilon.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2023:639
Date07 September 2023
Docket NumberC-453/22
Celex Number62022CJ0453
Procedure TypeReference for a preliminary ruling
CourtCourt of Justice (European Union)
62022CJ0453

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

7. September 2023 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer – Effektivitätsgrundsatz – Zu hoher Mehrwertsteuersatz auf einer Kaufrechnung – Rückzahlung des zu viel gezahlten Betrags – Unmittelbare Klage gegen die Verwaltung – Auswirkung der Gefahr einer doppelten Erstattung derselben Mehrwertsteuer“

In der Rechtssache C‑453/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Finanzgericht Münster (Deutschland) mit Beschluss vom 27. Juni 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Juli 2022, in dem Verfahren

Michael Schütte

gegen

Finanzamt Brilon

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Safjan, der Präsidentin der Dritten Kammer K. Jürimäe (Berichterstatterin) und des Richters N. Piçarra,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Michael Schütte, vertreten durch Rechtsanwalt H. Nieskens,

der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und N. Scheffel als Bevollmächtigte,

der tschechischen Regierung, vertreten durch O. Serdula, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Jokubauskaitė und L. Mantl als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 (ABl. 2010, L 189, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) sowie des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer und des Effektivitätsgrundsatzes.

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Kläger des Ausgangsverfahrens, Herrn Michael Schütte, und dem Finanzamt Brilon (Deutschland) (im Folgenden: Finanzamt) wegen des Anspruchs auf einen aus Billigkeitsgründen zu gewährenden Erlass der von den deutschen Finanzbehörden nachträglich geforderten Mehrwertsteuer und der darauf festgesetzten Zinsen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Art. 168 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:

a)

die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden“.

4

Gemäß Art. 178 Buchst. a dieser Richtlinie muss der Steuerpflichtige, um das Recht auf Vorsteuerabzug nach ihrem Art. 168 Buchst. a ausüben zu können, „in Bezug auf die Lieferung von Gegenständen oder das Erbringen von Dienstleistungen … eine gemäß Titel XI Kapitel 3 Abschnitte 3 bis 6 ausgestellte Rechnung besitzen“.

Deutsches Recht

5

In § 163 der Abgabenordnung (BGBl. 2002 I, S. 3866) (im Folgenden: AO) heißt es:

„(1) Steuern können niedriger festgesetzt werden und einzelne Besteuerungsgrundlagen, die die Steuern erhöhen, können bei der Festsetzung der Steuer unberücksichtigt bleiben, wenn die Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre. …

…“

6

§ 227 AO bestimmt:

„Die Finanzbehörden können Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre; unter den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete Beträge erstattet oder angerechnet werden.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

7

Der Kläger des Ausgangsverfahrens ist Land- und Forstwirt. In den Jahren 2011 bis 2013 erwarb er Holz von verschiedenen Lieferanten, das er anschließend als Brennholz an seine Kunden weiterverkaufte und lieferte. Während in den Rechnungen seiner Lieferanten als Mehrwertsteuersatz der normale Steuersatz von 19 % ausgewiesen wurde, wurde in den Rechnungen des Klägers des Ausgangsverfahrens an seine Kunden der ermäßigte Satz von 7 % ausgewiesen.

8

Die Lieferanten erklärten jeweils die Umsätze und führten die Mehrwertsteuer in Höhe von 19 % an die deutschen Finanzbehörden ab. Dagegen erklärte der Kläger des Ausgangsverfahrens die von ihm getätigten Verkäufe zu einem Satz von nur 7 % und brachte die Vorsteuer aus den Käufen zu einem Satz von 19 % in Abzug. Die sich hieraus ergebene Steuerschuld wurde vom Kläger des Ausgangsverfahrens an die deutsche Finanzbehörde gezahlt.

9

Das Finanzgericht Münster (Deutschland), das vorlegende Gericht, führt aus, dass es zu keinem Zeitpunkt Anhaltspunkte für eine drohende Zahlungsunfähigkeit des Klägers des Ausgangsverfahrens gegeben habe und dass kein Betrugsverdacht gegen ihn vorgelegen habe. Im Rahmen einer Betriebsprüfung gelangte das Finanzamt jedoch zu der Auffassung, dass die Ausgangsumsätze des Klägers des Ausgangsverfahrens nicht dem ermäßigten Steuersatz, sondern dem Regelsteuersatz hätten unterliegen müssen.

10

Im Anschluss an diese Betriebsprüfung wurde ein Gerichtsverfahren beim Finanzgericht Münster eingeleitet. Am Ende dieses Gerichtsverfahrens kam dieses Gericht mit Urteil vom 2. Juli 2019, das mittlerweile rechtskräftig ist, zu dem Ergebnis, dass die Ausgangsumsätze des Klägers des Ausgangsverfahrens durchaus dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz unterlegen hätten. Jedoch hätten auch die Einkäufe, die der Kläger des Ausgangsverfahrens getätigt habe, dem ermäßigten Steuersatz von 7 % unterlegen. Der Vorsteuerabzug des Klägers des Ausgangsverfahrens wurde daher entsprechend gekürzt.

11

Zur Umsetzung dieses Urteils forderte das Finanzamt mit Bescheiden vom 30. September 2019 die Mehrwertsteuer für die Jahre 2011 bis 2013 zuzüglich Zinsen nach. Der Kläger des Ausgangsverfahrens wandte sich daher an seine Lieferanten, damit diese die Rechnungen ihm gegenüber berichtigen und ihm den Differenzbetrag auszahlen.

12

Sämtliche Lieferanten beriefen sich gegenüber dem Kläger des Ausgangsverfahrens auf die Einrede der Verjährung nach deutschem Zivilrecht. Die fraglichen Rechnungen wurden demnach nicht berichtigt, und der Kläger des Ausgangsverfahrens erhielt die Rückzahlungen, die er von den Lieferanten gefordert hatte, nicht.

13

Unter diesen Umständen stellte der Kläger des Ausgangsverfahrens mit Schreiben vom 24. Oktober 2019 einen Antrag beim Finanzamt, ihm die nachgeforderte Mehrwertsteuer und die darauf festgesetzten Zinsen im Wege der Billigkeit gemäß den §§ 163 und 227 AO zu erlassen.

14

Das Finanzamt lehnte diesen Antrag mit Bescheiden vom 3. und vom 16. Dezember 2019 mit der Begründung ab, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens für die Situation selbst verantwortlich sei. Die Einsprüche, die dieser gegen die genannten ablehnenden Bescheide richtete, wurden mit Einspruchsentscheidung vom 24. Juli 2020 ebenfalls als unbegründet angesehen.

15

Der Kläger des Ausgangsverfahrens erhob vor dem vorlegenden Gericht Klage gegen die Ablehnung seines Antrags auf Erlass der nachträglich geforderten Mehrwertsteuer. Dieses hat Zweifel hinsichtlich der Auslegung der Mehrwertsteuerrichtlinie in Bezug auf die Anwendung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität und des Effektivitätsgrundsatzes auf Erstattungsansprüche.

16

Seine Zweifel beziehen sich auch darauf, dass den Lieferanten die Möglichkeit der Rechnungsberichtigung zeitlich unbegrenzt zustehe, so dass sie diese Berichtigung vornehmen könnten, nachdem der Erwerber die Erstattung von den deutschen Finanzbehörden erhalten habe. Wenn die Lieferanten anschließend von der betreffenden Behörde den zu viel gezahlten Betrag zurückverlangten, setze dies die Behörde der Gefahr aus, dieselbe Mehrwertsteuer zweimal erstatten zu müssen, ohne unbedingt gegen den Erwerber der Gegenstände, über die die Rechnungen ausgestellt worden seien, Rückgriff nehmen zu können.

17

Unter diesen Umständen hat das Finanzgericht Münster beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Gebieten die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie – insbesondere der Grundsatz der steuerlichen Neutralität sowie der Effektivitätsgrundsatz – unter den Umständen des Ausgangsverfahrens, dass dem Kläger ein Anspruch auf Erstattung der von ihm an seine Vorlieferanten zu viel gezahlten Mehrwertsteuer einschließlich der Zinsen unmittelbar gegen die Finanzbehörde zusteht, auch wenn noch die Möglichkeit besteht, dass die Finanzbehörde durch die Vorlieferanten aufgrund einer Berichtigung der Rechnungen zu einem späteren Zeitpunkt in Anspruch genommen wird und dann – möglicherweise – nicht mehr Rückgriff beim Kläger nehmen kann, so dass die Gefahr besteht, dass die Finanzbehörde dieselbe Mehrwertsteuer zweimal erstatten muss?

Zur Vorlagefrage

18

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Mehrwertsteuerrichtlinie sowie der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Effektivitätsgrundsatz dahin auszulegen sind, dass sie verlangen, dass dem Empfänger von Lieferungen von Gegenständen ein Anspruch auf Erstattung der zu Unrecht in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer, die er an seine Lieferer gezahlt hat und die...

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