NK v Bezirkshauptmannschaft Feldkirch.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2023:670
Date14 September 2023
Docket NumberC-55/22
Celex Number62022CJ0055
CourtCourt of Justice (European Union)
62022CJ0055

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)

14. September 2023 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Grundsatz ne bis in idem – Rechtskräftige Einstellung eines ersten Verfahrens, das wegen Verstoßes gegen eine Bestimmung des nationalen Glücksspielrechts eingeleitet wurde – Verwaltungsstrafe, die wegen eines auf demselben Sachverhalt beruhenden Verstoßes gegen eine andere Bestimmung dieses Rechts verhängt wurde – Einstellung des ersten Verfahrens wegen einer falschen rechtlichen Einordnung des begangenen Verstoßes“

In der Rechtssache C‑55/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landesverwaltungsgericht Vorarlberg (Österreich) mit Beschluss vom 18. Januar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Januar 2022, in dem Verfahren

NK

gegen

Bezirkshauptmannschaft Feldkirch

erlässt

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. G. Xuereb (Berichterstatter), des Richters A. Kumin und der Richterin I. Ziemele,

Generalanwalt: A. M. Collins,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der österreichischen Regierung, vertreten durch J. Schmoll und C. Leeb als Bevollmächtigte,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und M. Wasmeier als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen NK und der Bezirkshauptmannschaft Feldkirch (Österreich) wegen Verwaltungsstrafen, die diese gegen NK wegen Verstößen gegen das österreichische Glücksspielrecht verhängt hat.

Rechtlicher Rahmen

3

§ 2 („Ausspielungen“) des Glücksspielgesetzes vom 21. Dezember 1989 (BGBl. 620/1989) in der im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: GSpG) bestimmt:

„(1) Ausspielungen sind Glücksspiele,

1.

die ein Unternehmer veranstaltet, organisiert, anbietet oder zugänglich macht und

2.

bei denen Spieler oder andere eine vermögenswerte Leistung in Zusammenhang mit der Teilnahme am Glücksspiel erbringen (Einsatz) und

3.

bei denen vom Unternehmer, von Spielern oder von anderen eine vermögenswerte Leistung in Aussicht gestellt wird (Gewinn).

(2) Unternehmer ist, wer selbstständig eine nachhaltige Tätigkeit zur Erzielung von Einnahmen aus der Durchführung von Glücksspielen ausübt, mag sie auch nicht auf Gewinn gerichtet sein.

Wenn von unterschiedlichen Personen in Absprache miteinander Teilleistungen zur Durchführung von Glücksspielen mit vermögenswerten Leistungen im Sinne der Z 2 und 3 des Abs. 1 an einem Ort angeboten werden, so liegt auch dann Unternehmereigenschaft aller an der Durchführung des Glücksspiels unmittelbar beteiligten Personen vor, wenn bei einzelnen von ihnen die Einnahmenerzielungsabsicht fehlt oder sie an der Veranstaltung, Organisation oder dem Angebot des Glücksspiels nur beteiligt sind.

(4) Verbotene Ausspielungen sind Ausspielungen, für die eine Konzession oder Bewilligung nach diesem Bundesgesetz nicht erteilt wurde und die nicht vom Glücksspielmonopol des Bundes gemäß § 4 ausgenommen sind.“

4

§ 52 („Verwaltungsstrafbestimmungen“) GSpG sieht vor:

„(1) Es begeht eine Verwaltungsübertretung und ist von der Behörde … mit einer Geldstrafe von bis zu 60000 Euro … zu bestrafen,

1.

wer zur Teilnahme vom Inland aus verbotene Ausspielungen im Sinne des § 2 Abs. 4 veranstaltet, organisiert oder unternehmerisch zugänglich macht oder sich als Unternehmer im Sinne des § 2 Abs. 2 daran beteiligt;

(2) Bei Übertretung des Abs. 1 Z 1 mit bis zu drei Glücksspielautomaten oder anderen Eingriffsgegenständen ist für jeden Glücksspielautomaten oder anderen Eingriffsgegenstand eine Geldstrafe in der Höhe von 1000 Euro bis zu 10000 Euro, im Falle der erstmaligen und weiteren Wiederholung von 3000 Euro bis zu 30000 Euro, bei Übertretung mit mehr als drei Glücksspielautomaten oder anderen Eingriffsgegenständen für jeden Glücksspielautomaten oder anderen Eingriffsgegenstand eine Geldstrafe von 3000 Euro bis zu 30000 Euro, im Falle der erstmaligen und weiteren Wiederholung von 6000 Euro bis zu 60000 Euro zu verhängen.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

5

NK ist Betreiber eines Lokals namens I.

6

Bei einer am 29. Dezember 2017 in diesem Lokal durchgeführten Kontrolle wurde festgestellt, dass dort vier funktionsfähige Glücksspielgeräte aufgestellt waren, obwohl keine Konzession für deren Betrieb erteilt worden war.

7

Mit Straferkenntnis vom 19. Februar 2018 verhängte die Bezirkshauptmannschaft Feldkirch gegen NK wegen Verstößen gegen § 52 Abs. 1 Z 1 drittes Tatbild GSpG in Verbindung mit § 2 Abs. 2 und 4 sowie § 4 GSpG vier Geldstrafen samt Ersatzfreiheitsstrafen, weil er als Betreiber des Lokals I Glücksspiele in Form von verbotenen Ausspielungen unternehmerisch zugänglich gemacht habe.

8

Mit Erkenntnis vom 13. August 2018 hob das Landesverwaltungsgericht Vorarlberg (Österreich), bei dem es sich um das hier vorlegende Gericht handelt, das Straferkenntnis vom 19. Februar 2018 auf und stellte das Verfahren mit der Begründung ein, dass ausweislich der getroffenen Sachverhaltsfeststellungen NK Glücksspiele nicht im Sinne von § 52 Abs. 1 Z 1 drittes Tatbild GSpG zugänglich gemacht, sondern im Sinne von § 52 Abs. 1 Z 1 erstes Tatbild GSpG veranstaltet habe. Nach Ansicht dieses Gerichts hätte eine Abänderung des Straferkenntnisses der Bezirkshauptmannschaft Feldkirch dahin, dass NK als Betreiber des Lokals I zu verantworten habe, dass er verbotene Ausspielungen veranstaltet habe, eine „unzulässige Auswechslung der Tat“ bedeutet.

9

Weder die Bezirkshauptmannschaft Feldkirch noch der Bundesminister für Finanzen (Österreich) erhoben gegen das Erkenntnis vom 13. August 2018 Revision, obwohl sie die rechtliche Möglichkeit dazu gehabt hätten.

10

Mit Straferkenntnis vom 30. November 2018 verhängte die Bezirkshauptmannschaft Feldkirch gegen NK wegen Verstößen gegen § 52 Abs. 1 Z 1 erstes Tatbild GSpG in Verbindung mit § 2 Abs. 2 und 4 sowie § 4 GSpG vier Geldstrafen samt Ersatzfreiheitsstrafen, weil er als Eigentümer von Glücksspielgeräten und als Betreiber des Lokals I am 29. Dezember 2017 Glücksspiele in Form von verbotenen Ausspielungen veranstaltet habe.

11

Mit Erkenntnis vom 4. Juli 2019 hob das vorlegende Gericht das Straferkenntnis vom 30. November 2018 auf. Das vorlegende Gericht führte aus, dass die Bezirkshauptmannschaft Feldkirch NK erneut für dieselbe Tat am selben Ort zur selben Zeit bestraft und somit denselben Sachverhalt nur unter ein anderes Tatbild subsumiert habe. Es liege eine Doppel- oder Mehrfachbestrafung im Sinne von Art. 4 Abs. 1 des Protokolls Nr. 7 zur am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vor. Das Straferkenntnis sei deshalb aufzuheben und das Verwaltungsstrafverfahren einzustellen.

12

Gegen das Erkenntnis vom 4. Juli 2019 erhob die Bezirkshauptmannschaft Feldkirch Revision an den Verwaltungsgerichtshof (Österreich).

13

Mit Erkenntnis vom 14. Juni 2021 hob der Verwaltungsgerichtshof das Erkenntnis vom 4. Juli 2019 mit der Begründung auf, dass die rechtskräftige Einstellung des Strafverfahrens mit Erkenntnis vom 13. August 2018 es nicht verwehre, das Strafverfahren zur Feststellung der Verwirklichung des ersten Tatbilds nach § 52 Abs. 1 Z 1 GSpG fortzuführen und somit NK nach diesem Tatbild zu bestrafen.

14

Das vorlegende Gericht, das nach dem Erkenntnis vom 14. Juni 2021 erneut zu entscheiden hat, führt aus, dass es nach § 63 Abs. 1 des Verwaltungsgerichtshofsgesetzes grundsätzlich an die Rechtsansicht des Verwaltungsgerichtshofs gebunden sei, dies nach dessen Rechtsprechung jedoch nicht gelte, wenn nach der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs eine abweichende Entscheidung des Gerichtshofs ergehe.

15

Das vorlegende Gericht sieht sich vor die Frage gestellt, ob Art. 50 der Charta einer neuerlichen Verfolgung entgegensteht, wenn ein Strafverfahren nach dem GSpG wegen desselben Sachverhalts, der Gegenstand der neuerlichen Verfolgung ist, jedoch aufgrund einer anderen Bestimmung dieses Gesetzes nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Sachverhaltsermittlung eingestellt wurde.

16

Zur Anwendbarkeit der Charta führt das vorlegende Gericht zunächst aus, wenn sich ein Mitgliedstaat auf zwingende Gründe des Allgemeininteresses berufe, um eine Regelung zu rechtfertigen, die geeignet sei, die Ausübung der Dienstleistungsfreiheit zu behindern, sei diese Rechtfertigung im Licht der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts und insbesondere der durch die Charta garantierten Grundrechte auszulegen.

17

Unter Heranziehung namentlich des Urteils vom 30. April 2014, Pfleger u. a. (C‑390/12, EU:C:2014:281, Rn. 35 und 36), das ebenfalls zu einer Vorlage eines österreichischen Gerichts in Anwendung des österreichischen Glücksspielrechts ergangen sei, weist das vorlegende Gericht sodann darauf hin, dass es als „Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta anzusehen sei, wenn sich der Mitgliedstaat auf im Unionsrecht vorgesehene Ausnahmen berufe, um eine Beschränkung einer durch den...

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