Opinion of Advocate General Sharpston delivered on 23 April 2020.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2020:303
Date23 April 2020
Celex Number62018CC0743
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

ELEANOR SHARPSTON

vom 23. April 2020(1)

Rechtssache C743/18

Elme Messer Metalurgs

gegen

Latvijas Investīciju un attīstības aģentūra

(Vorabentscheidungsersuchen der Rēzeknes tiesa [Gericht erster Instanz Rēzekne, Lettland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Strukturfonds – Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 – Art. 98 und 57 sowie Art. 2 Nr. 7 – Europäischer Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) – Pflicht, bei Unregelmäßigkeiten finanzielle Berichtigungen vorzunehmen – Dauerhaftigkeit der Vorhaben – Bedeutung von ‚Unregelmäßigkeit‘ – Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers – Insolvenz des einzigen Geschäftspartners des Begünstigten“






1. Alle geschäftlichen Unternehmungen sind mit einem gewissen Risiko verbunden. Selbst die sichersten Unternehmen können manchmal scheitern, von einem wirtschaftlichen Abschwung mitgerissen werden oder durch das Unglück eines wichtigen Geschäftspartners oder Kunden ruiniert werden. Im vorliegenden Fall muss der Gerichtshof eine Situation beurteilen, in der ein vom Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) kofinanziertes Projekt bestimmte Ziele nicht erreicht hat, weil der einzige Geschäftspartner des Begünstigten insolvent wurde. Sollte der Begünstigte in einer solchen Situation verpflichtet werden, die gesamte durch den EFRE gewährte Finanzierung zurückzuzahlen, auch wenn die Nichterreichung dieser Ziele auf Umstände zurückzuführen ist, die sich seiner Kontrolle entziehen?

2. Insbesondere gibt die von der Rēzeknes tiesa (Gericht erster Instanz Rēzekne, Lettland) im vorliegenden Fall vorgelegte Frage dem Gerichtshof die Gelegenheit, die Bedeutung des Begriffs der „Unregelmäßigkeit“ im Sinne von Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006(2) zu klären. Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende eine „Unregelmäßigkeit“ im Sinne dieser Verordnung darstellt, bei der ein Mitgliedstaat eine finanzielle Berichtigung vornehmen und die gewährte Finanzierung ganz oder teilweise wieder einziehen muss.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Verordnung Nr. 2988/95

3. Die Verordnung Nr. 2988/95(3) enthält zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union eine Rahmenregelung für die Überwachung und für Sanktionen. Art. 1 Abs. 2 dieser Verordnung lautet:

„Der Tatbestand der Unregelmäßigkeit ist bei jedem Verstoß gegen eine Gemeinschaftsbestimmung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers gegeben, die einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Gemeinschaften oder die Haushalte, die von den Gemeinschaften verwaltet werden, bewirkt hat bzw. haben würde, sei es durch die Verminderung oder den Ausfall von Eigenmitteleinnahmen, die direkt für Rechnung der Gemeinschaften erhoben werden, sei es durch eine ungerechtfertigte Ausgabe.“

Verordnung Nr. 1080/2006

4. Art. 2 der Verordnung Nr. 1080/2006(4), in der die Aufgaben des EFRE, sein Interventionsbereich hinsichtlich der Ziele nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 und die Regeln für die Förderfähigkeit festgelegt werden, lautet:

„Nach Artikel 160 des Vertrags und nach der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 trägt der EFRE finanziell zu den Maßnahmen bei, die darauf abzielen, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt durch Ausgleich der wichtigsten regionalen Ungleichgewichte zu stärken, indem die Regionalwirtschaften entwickelt und strukturell angepasst werden, einschließlich der Umstellung der Industriegebiete mit rückläufiger Entwicklung und der rückständigen Gebiete und indem die grenzübergreifende, transnationale und interregionale Zusammenarbeit gefördert wird.

Dabei trägt der EFRE den Prioritäten der Gemeinschaft Rechnung, insbesondere der Notwendigkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Innovation zu stärken, dauerhafte Arbeitsplätze zu schaffen und zu erhalten und eine nachhaltige Entwicklung zu gewährleisten.“

Verordnung Nr. 1083/2006

5. Die Verordnung Nr. 1083/2006 enthält die allgemeinen Bestimmungen für den EFRE, den Europäischen Sozialfonds und den Kohäsionsfonds (im Folgenden zusammen: Fonds) für den Zeitraum von 2007 bis 2013. Sie legt auf der Grundlage von zwischen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission geteilten Zuständigkeiten u. a. die Grundsätze und Regeln für die finanzielle Abwicklung, die Begleitung und die Kontrolle fest.

6. In den Erwägungsgründen 22, 28, 60 und 61 der Verordnung Nr. 1083/2006 heißt es:

„(22) Die Tätigkeiten der Fonds und die Vorhaben, die sie mitfinanzieren, sollten in einem kohärenten Verhältnis zu den anderen Gemeinschaftspolitiken stehen und dem Gemeinschaftsrecht entsprechen.

(28) Gemäß Artikel 274 des Vertrags sollten im Hinblick auf die geteilte Mittelverwaltung die Bedingungen festgelegt werden, unter denen die Kommission ihre Befugnisse beim Vollzug des Gesamthaushaltsplans der Europäischen Union wahrnimmt, und es sollten die Befugnisse für die Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten klargestellt werden. Die Anwendung dieser Bedingungen sollte der Kommission ermöglichen, sich zu vergewissern, dass die Mitgliedstaaten die Fondsmittel in rechtmäßiger und ordnungsgemäßer Weise sowie im Einklang mit dem Grundsatz der wirtschaftlichen Haushaltsführung im Sinne der Haushaltsordnung verwenden.

(60) In Übereinstimmung mit dem Subsidiaritätsprinzip sollten, abgesehen von den Ausnahmen, die im Rahmen der Verordnung (EG) Nr. 1080/2006 …, der Verordnung (EG) Nr. 1081/2006[(5)] und der Verordnung (EG) Nr. 1084/2006[(6)] vorgesehen sind, für die Zuschussfähigkeit der Ausgaben die nationalen Vorschriften gelten.

(61) Um die Wirksamkeit, Ausgewogenheit und nachhaltige Wirkung der Tätigkeit der Fonds sicherzustellen, sind Bestimmungen festzulegen, die die Beständigkeit der Unternehmensinvestitionen gewährleisten und zugleich verhindern, dass die Inanspruchnahme der Fonds zu einem ungerechtfertigten Vorteil missbraucht wird. Es ist daher sicherzustellen, dass sich die Investitionen, für die Zuschüsse aus den Fonds gewährt werden, während eines ausreichenden Zeitraums amortisieren.“

7. Nach Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 bezeichnet der Ausdruck „Unregelmäßigkeit“ (ähnlich formuliert wie in Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95) „jeden Verstoß gegen eine Gemeinschaftsbestimmung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers, die dadurch einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Union bewirkt hat oder haben würde, dass ihm eine ungerechtfertigte Ausgabe angelastet werden muss oder müsste“.

8. Nach Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1083/2006 soll mit der Politik, die die Europäische Union im Rahmen des nunmehrigen Art. 174 AEUV verfolgt, der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt der erweiterten Europäischen Union gestärkt werden, um eine harmonische, ausgewogene und nachhaltige Entwicklung der Union zu fördern. Mit dieser Politik sollen die wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Disparitäten verringert werden, die sich insbesondere in den Mitgliedstaaten und Regionen mit Entwicklungsrückstand, im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen und sozialen Umstrukturierung sowie aus der Alterung der Bevölkerung ergeben(7).

9. Nach Art. 9 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1083/2006 haben die Kommission und die Mitgliedstaaten für die Kohärenz der Förderung aus den Fonds mit den Tätigkeiten, Politiken und Prioritäten der Europäischen Union zu sorgen. Nach Art. 9 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1083/2006 müssen die aus den Fonds finanzierten Vorhaben den Bestimmungen des Vertrags und den aufgrund des Vertrags erlassenen Rechtsakten entsprechen.

10. Art. 56 („Förderfähigkeit der Ausgaben“) der Verordnung Nr. 1083/2006 bestimmt:

„(1) Für eine Beteiligung der Fonds kommen – auch für Großprojekte – nur Ausgaben in Betracht, die zwischen dem Tag der Vorlage der operationellen Programme bei der Kommission oder dem 1. Januar 2007 – je nachdem, welches der frühere Termin ist – und dem 31. Dezember 2015 tatsächlich getätigt wurden. Die Vorhaben dürfen nicht vor Beginn der Förderfähigkeit abgeschlossen worden sein.

(3) Die Ausgaben kommen nur dann für eine Beteiligung der Fonds in Betracht, wenn sie für Vorhaben getätigt werden, die von der für das betreffende operationelle Programm zuständigen Verwaltungsbehörde oder unter deren Verantwortung nach vom Begleitausschuss festgelegten Kriterien beschlossen wurden.

(4) Die Regeln für die Förderfähigkeit der Ausgaben werden bis auf die in den Verordnungen der einzelnen Fonds vorgesehenen Ausnahmen auf nationaler Ebene festgelegt. Sie umfassen die Gesamtheit der Ausgaben, die im Rahmen eines operationellen Programms geltend gemacht werden.

…“

11. In Art. 57 („Dauerhaftigkeit der Vorhaben“) der Verordnung Nr. 1083/2006 heißt es:

„(1) Der Mitgliedstaat oder die Verwaltungsbehörde stellt sicher, dass die Beteiligung der Fonds an einem Vorhaben, das Infrastruktur- oder produktive Investitionen umfasst, nur dann beibehalten wird, wenn das kofinanzierte Vorhaben innerhalb von fünf Jahren nach dessen Abschluss keine wesentliche Änderung erfährt, die sich aus einem Wechsel der Besitzverhältnisse bei einer Infrastruktur oder aus der Einstellung einer Produktionstätigkeit ergibt und die seine Art oder Durchführungsbedingungen beeinträchtigt oder einem Unternehmen oder einer öffentlichen Körperschaft einen ungerechtfertigten Vorteil verschafft.

…“

12. Art. 60 der Verordnung Nr. 1083/2006 bestimmt:

„Die Verwaltungsbehörde ist verantwortlich dafür, dass das operationelle Programm im Einklang mit dem Grundsatz der wirtschaftlichen Haushaltsführung verwaltet und durchgeführt wird; sie hat insbesondere

a) sicherzustellen, dass die zu finanzierenden Vorhaben nach den für das operationelle Programm geltenden Kriterien ausgewählt werden und während ihrer Durchführung stets den geltenden gemeinschaftlichen und einzelstaatlichen Rechtsvorschriften entsprechen;

b) sich zu vergewissern, dass die kofinanzierten Wirtschaftsgüter und...

To continue reading

Request your trial

VLEX uses login cookies to provide you with a better browsing experience. If you click on 'Accept' or continue browsing this site we consider that you accept our cookie policy. ACCEPT