Opinion of Advocate General Bobek delivered on 10 September 2020.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2020:689
Date10 September 2020
Celex Number62019CC0449
CourtCourt of Justice (European Union)

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MICHAL BOBEK

vom 10. September 2020(1)

Rechtssache C449/19

WEG Tevesstraße

gegen

Finanzamt Villingen-Schwenningen

(Vorabentscheidungsersuchen des Finanzgerichts Baden-Württemberg [Deutschland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Mehrwertsteuer – Steuerbefreiung für Verpachtung von Grundstücken – Nationale Vorschrift, nach der die Lieferung von Wärme durch eine Wohnungseigentümergemeinschaft an die Wohnungseigentümer von der Steuer befreit ist“






I. Einleitung

1. Eine Wohnungseigentümergemeinschaft lieferte Wärme an die Wohnungseigentümer und nahm für die mit dieser Tätigkeit in Zusammenhang stehenden Ausgaben den Vorsteuerabzug in Anspruch. Dieser Antrag wurde von der zuständigen Steuerbehörde abgelehnt. Sie stellte fest, dass nach deutschem Recht die Lieferung von Wärme an Wohnungseigentümer von der Mehrwertsteuer befreit sei.

2. In diesem Zusammenhang möchte das Finanzgericht Baden-Württemberg (Deutschland) wissen, ob die Richtlinie 2006/112/EG(2) (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Lieferung von Wärme durch eine Wohnungseigentümergemeinschaft an die Wohnungseigentümer von der Mehrwertsteuer befreit. Bei der Beantwortung dieser Frage wird der Gerichtshof die Gelegenheit haben, Hinweise zu liefern, wann davon auszugehen ist, dass eine für die Lieferung von Gegenständen (wie Wärme) erbrachte Gegenleistung in einem hinreichend angemessenen Verhältnis zu dem aus diesem Umsatz gezogenen „Vorteil“ steht, so dass die Lieferung im Sinne von Art. 2 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie „gegen Entgelt“ erfolgt ist.

II. Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht

3. Der vierte Erwägungsgrund der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Voraussetzung für die Verwirklichung des Ziels, einen Binnenmarkt zu schaffen ist, dass in den Mitgliedstaaten Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuern angewandt werden, durch die die Wettbewerbsbedingungen nicht verfälscht und der freie Waren- und Dienstleistungsverkehr nicht behindert werden. Es ist daher erforderlich, eine Harmonisierung der Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuern im Wege eines Mehrwertsteuersystems vorzunehmen, um soweit wie möglich die Faktoren auszuschalten, die geeignet sind, die Wettbewerbsbedingungen sowohl auf nationaler Ebene als auch auf Gemeinschaftsebene zu verfälschen.“

4. Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und c der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„(1) Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:

a) Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt;

c) Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt“.

5. Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie, in dem es um die „Steuerpflichtigen“ geht, lautet:

„Als ‚Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.

Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.“

6. Art. 14 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie definiert die „Lieferung von Gegenständen“ als „die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen“, während nach Art. 15 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie „[Wärme e]inem körperlichen Gegenstand gleichgestellt [ist]“.

7. Art. 135 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Titel IX Kapitel 3 („Steuerbefreiungen für andere Tätigkeiten“) legt eine Reihe von Befreiungen von der Mehrwertsteuer fest. Die relevante Passage lautet:

„1. Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:

l) Vermietung und Verpachtung von Grundstücken.“

B. Deutsches Recht

1. Deutsches Umsatzsteuergesetz

8. Die §§ 1 und 4 des Umsatzsteuergesetzes (im Folgenden: UStG) enthalten allgemeine Vorschriften darüber, wann Mehrwertsteuer zu zahlen ist, und zu Steuerbefreiungen, einschließlich der Befreiung für die Lieferung von Wärme durch Wohnungseigentümergemeinschaften an die Wohnungseigentümer:

„§ 1 Steuerbare Umsätze

(1) Der Umsatzsteuer unterliegen die folgenden Umsätze:

1. die Lieferungen und sonstigen Leistungen, die ein Unternehmer im Inland gegen Entgelt im Rahmen seines Unternehmens ausführt. Die Steuerbarkeit entfällt nicht, wenn der Umsatz auf Grund gesetzlicher oder behördlicher Anordnung ausgeführt wird oder nach gesetzlicher Vorschrift als ausgeführt gilt;

§ 4 Steuerbefreiungen bei Lieferungen und sonstigen Leistungen

Von den unter § 1 Abs. 1 Nr. 1 fallenden Umsätzen sind steuerfrei:

13. die Leistungen, die die Gemeinschaften der Wohnungseigentümer im Sinne des Wohnungseigentumsgesetzes … an die Wohnungseigentümer und Teileigentümer erbringen, soweit die Leistungen in der Überlassung des gemeinschaftlichen Eigentums zum Gebrauch, seiner Instandhaltung, Instandsetzung und sonstigen Verwaltung sowie der Lieferung von Wärme und ähnlichen Gegenständen bestehen;

…“

2. Gesetz über das Wohnungseigentum und das Dauerwohnrecht

9. Das Gesetz über das Wohnungseigentum und das Dauerwohnrecht (Wohnungseigentumsgesetz) regelt die Grundsätze, auf denen die formale Aufteilung des Eigentums auf die Eigentümer beruht. Die relevanten Passagen lauten:

„§ 10 Allgemeine Grundsätze

(1) Inhaber der Rechte und Pflichten nach den Vorschriften dieses Gesetzes, insbesondere des Sondereigentums und des gemeinschaftlichen Eigentums, sind die Wohnungseigentümer, soweit nicht etwas anderes ausdrücklich bestimmt ist.

§ 16 Nutzungen, Lasten und Kosten

(2) Jeder Wohnungseigentümer ist den anderen Wohnungseigentümern gegenüber verpflichtet, die Lasten des gemeinschaftlichen Eigentums sowie die Kosten der Instandhaltung, Instandsetzung, sonstigen Verwaltung und eines gemeinschaftlichen Gebrauchs des gemeinschaftlichen Eigentums nach dem Verhältnis seines Anteils (Absatz 1 Satz 2) zu tragen.

(3) Die Wohnungseigentümer können abweichend von Absatz 2 durch Stimmenmehrheit beschließen, dass die Betriebskosten des gemeinschaftlichen Eigentums oder des Sondereigentums … die nicht unmittelbar gegenüber Dritten abgerechnet werden, und die Kosten der Verwaltung nach Verbrauch oder Verursachung erfasst und nach diesem oder nach einem anderen Maßstab verteilt werden, soweit dies ordnungsmäßiger Verwaltung entspricht.“

III. Sachverhalt, nationales Verfahren und Vorlagefrage

10. Die WEG Tevesstraße (im Folgenden: Klägerin) ist eine Wohnungseigentümergemeinschaft. Die Wohnungseigentümer sind drei juristische Personen (eine private Gesellschaft, eine staatliche Behörde und eine Gemeinde) (im Folgenden: Eigentümer). Die Klägerin ist ersichtlich mit der Verwaltung einer gemischt genutzten Immobilie in Baden-Württemberg (im Folgenden: Anwesen) betraut. Das Anwesen umfasst 20 vermietete Wohnungen, eine staatliche Behörde und eine Einrichtung der Gemeinde.

11. Im Jahr 2012 errichtete die Klägerin auf dem Anwesen ein Blockheizkraftwerk (im Folgenden: BHKW). Sie begann, Strom aus dem BHKW zu erzeugen. Sodann verkaufte sie den Strom an ein Energieversorgungsunternehmen und lieferte die daneben erzeugte Wärme an die Eigentümer.

12. Im selben Jahr reichte die Klägerin ihre Umsatzsteuervoranmeldung ein und machte insgesamt 19 765,17 Euro an Vorsteuerbeträgen aus den Kosten für die Anschaffung und den Betrieb des BHKW geltend.

13. Am 3. Dezember 2014 ließ das Finanzamt Villingen-Schwenningen nach Prüfung dieses Antrags die geltend gemachten Vorsteuerbeträge nur zu einem Anteil von 28 % zum Vorsteuerabzug zu. Nach seiner Berechnung entsprach dies dem Anteil der oben genannten Kosten, der auf die Stromerzeugung entfiel. Für die auf die Wärmeerzeugung entfallenden 72 % des Vorsteuerabzugs wies das Finanzamt den Antrag der Klägerin mit der Begründung zurück, dass die Lieferung von Wärme an Wohnungseigentümer nach § 4 Nr. 13 UStG von der Mehrwertsteuer befreit sei.

14. Nachdem die Klägerin gegen diesen Bescheid erfolglos Einspruch beim Finanzamt eingelegt hatte, erhob sie Klage beim Finanzgericht Baden-Württemberg (Deutschland). Sie vertritt u. a. die Ansicht, dass § 4 Nr. 13 UStG europarechtswidrig sei, da sich die darin enthaltene Befreiung nicht aus der Mehrwertsteuerrichtlinie ergebe. Aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts sollte die Lieferung von Wärme an die Eigentümer als umsatzsteuerpflichtig behandelt werden, so dass der Klägerin auch die restlichen 72 % des Vorsteuerabzugs zustünden.

15. Da das Finanzgericht Baden-Württemberg (Deutschland) Zweifel an der Vereinbarkeit der nationalen Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht hegt, hat es beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind die Vorschriften der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der die Lieferung von Wärme durch Wohnungseigentümergemeinschaften an die Wohnungseigentümer von der Mehrwertsteuer befreit ist?

16. Die deutsche Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Am 22. Mai 2020 haben sie auch an die Beteiligten gerichtete schriftliche Fragen beantwortet.

IV. Würdigung

17. Die vorliegenden Schlussanträge sind folgendermaßen aufgebaut: Ich werde mit Vorbemerkungen beginnen und eine Reihe von Hypothesen zum Sachverhalt aufstellen sowie die Annahmen darlegen, von denen ich ausgehe, um dem vorlegenden Gericht eine Antwort zu geben (A). Sodann werde ich die rechtlichen Kriterien darlegen, anhand deren festgestellt werden kann, ob ein steuerbarer Umsatz nach der Mehrwertsteuerrichtlinie vorliegt (B). Anschließend werde ich auf das Vorbringen der deutschen Regierung und der Kommission eingehen, bevor ich die rechtlichen Kriterien auf die...

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