Opinion of Advocate General Hogan delivered on 12 November 2020.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2020:924
Date12 November 2020
Celex Number62019CC0400
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

GERARD HOGAN

vom 12. November 2020(1)

Rechtssache C400/19

Europäische Kommission

gegen

Ungarn

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Art. 34 AEUV – Gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse – Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 – Nationales Gesetz über das Verbot unlauterer Verkaufspraktiken gegenüber Zulieferern bei Agrar- und Lebensmittelerzeugnissen – Verkaufspreise von Agrar- und Lebensmittelerzeugnissen – Einheitliche auf identische Erzeugnisse anzuwendende Einzelhandelsgewinnspanne“






I. Einleitung

1. Mit ihrer Klage ersucht die Europäische Kommission den Gerichtshof festzustellen, dass Ungarn mit der Beschränkung der Festsetzung der Verkaufspreise für Agrar- und Lebensmittelerzeugnisse, insbesondere mit § 3 Abs. 2 Buchst. u des mezőgazdasági és élelmiszeripari termékek vonatkozásában a beszállítókkal szemben alkalmazott tisztességtelen forgalmazói magatartás tilalmáról szóló, 2009. évi XCV. törvény (Gesetz Nr. XCV von 2009 über das Verbot unlauterer Verkaufspraktiken gegenüber Zulieferern bei Agrar- und Lebensmittelerzeugnissen)(2) (im Folgenden: Gesetz Nr. XCV von 2009), gegen seine Verpflichtungen aus Art. 34 AEUV sowie aus der Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 922/72, (EWG) Nr. 234/79, (EG) Nr. 1037/2001 und (EG) Nr. 1234/2007(3) verstoßen hat.

2. Diese Klage wirft somit erneut die Frage auf, inwieweit und unter welchen Voraussetzungen die Mitgliedstaaten Bestimmungen ihrer Wettbewerbs- oder Verbraucherschutzgesetze zur Begrenzung von Preismechanismen verwenden können, um die Partei oder Parteien besserzustellen, die gemeinhin in der Lebensmittelversorgungskette als sich in einer nachteiligen Verhandlungsposition befindend angesehen werden. Diese Fragen standen bereits im Urteil vom 13. November 2019, Lietuvos Respublikos Seimo narių grupė (C‑2/18, EU:C:2019:962) im Vordergrund und für die Zwecke dieser Schlussanträge wird es erforderlich sein, die Erwägungen und Ergebnisse dieser Entscheidung recht eingehend zu prüfen.

3. Zuvor bedarf es jedoch einer Darstellung der maßgeblichen Gesetzes- und Vertragstexte.

II. Rechtsrahmen

A. Unionsrecht

4. Art. 34 AEUV sieht vor:

„Mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung sind zwischen den Mitgliedstaaten verboten.“

5. Art. 83 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1308/2013 sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten können zusätzliche nationale Rechtsvorschriften über Erzeugnisse, die von einer Vermarktungsnorm der Union erfasst sind, nur erlassen oder beibehalten, wenn diese Bestimmungen mit dem Unionsrecht und insbesondere mit dem Grundsatz des freien Warenverkehrs in Einklang stehen, und unter der Voraussetzung, dass der Richtlinie 98/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates [vom 22. Juni 1998 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften (ABl. 1998, L 204, S. 37)] Genüge getan wird…“.

B. Ungarisches Recht

6. Seinem § 1 zufolge betrifft das Gesetz Nr. XCV von 2009 „landwirtschaftliche Erzeugnisse und Lebensmittel“, die in § 2 Abs. 2 dieses Gesetzes durch Verweis auf die Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit(4) definiert werden.

7. § 2 Abs. 1 des Gesetzes Nr. XCV von 2009 betrifft a) Unternehmen, die Agrar- und Lebensmittelerzeugnisse herstellen, verarbeiten oder ohne Verarbeitung verkaufen, und b) Unternehmen, die diese Erzeugnisse an Endverbraucher verkaufen. Die letztgenannte Kategorie umfasst alle Einzelhändler unabhängig von ihrer Größe und gilt daher sowohl für Großmärkte als auch für kleine Geschäfte, die Agrar- und Lebensmittelerzeugnisse verkaufen.

8. § 3 Abs. 2 des Gesetzes Nr. XCV von 2009 sieht vor:

„Folgendes gilt als unlautere Geschäftspraktik:

u) jede diskriminierende Festsetzung des Preises, zu dem in der Zusammensetzung und den organoleptischen Eigenschaften identische Erzeugnisse an den Endverbraucher verkauft werden, auf der Grundlage des Ursprungslands der Erzeugnisse.“

III. Anträge

9. Die Kommission beantragt,

– festzustellen, dass Ungarn mit der Beschränkung der Festsetzung der Verkaufspreise für Agrar- und Lebensmittelerzeugnisse, insbesondere mit § 3 Abs. 2 Buchst. u des Gesetzes Nr. XCV von 2009 gegen seine Verpflichtungen aus Art. 34 AEUV sowie aus der Verordnung Nr. 1308/2013 verstoßen hat;

– Ungarn die Kosten aufzuerlegen.

10. Ungarn beantragt,

– die Klage der Kommission als unbegründet abzuweisen;

– der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

IV. Die Klage

A. Vorbringen der Parteien

11. Mit ihrer Klage bringt die Kommission zwei Rügen vor. Mit der Beschränkung der Festsetzung von Verkaufspreisen für Agrar- und Lebensmittelerzeugnisse, insbesondere gemäß § 3 Abs. 2 Buchst. u des Gesetzes Nr. XCV von 2009, habe Ungarn gegen seine Verpflichtungen erstens aus der Verordnung Nr. 1308/2013 und zweitens aus Art. 34 AEUV verstoßen.

12. Soweit ihre Klage die Verordnung Nr. 1308/2013 betrifft, macht die Kommission geltend, dass gemäß § 3 Abs. 2 Buchst. u des Gesetzes Nr. XCV von 2009 die Einzelhandelsverkaufspreise für Agrar- und Lebensmittelerzeugnisse aus einem bestimmten Land die gleiche Gewinnspanne umfassen müssten wie diejenige, die auf identische Erzeugnisse unabhängig von ihrem Ursprungsland Anwendung finde. Diese Bestimmung verbiete Einzelhändlern daher, z. B. eingeführte Erzeugnisse zu einem Preis zuzüglich einer Gewinnspanne von 5 % zu verkaufen, wenn sie gleichzeitig identische inländische Erzeugnisse zu einem Preis zuzüglich einer Marge von 10 % anböten. § 3 Abs. 2 Buchst. u des Gesetzes Nr. XCV von 2009 gelte für alle Agrar- und Lebensmittelerzeugnisse und der Begriff „identische Erzeugnisse“ werde durch Verweis auf die Zusammensetzung und die organoleptischen Eigenschaften des Erzeugnisses definiert.

13. § 3 Abs. 2 Buchst. u des Gesetzes Nr. XCV von 2009, der Einzelhändlern praktisch verbiete, eingeführte Erzeugnisse mit einer anderen Gewinnspanne als der zu verkaufen, die auf inländische Erzeugnisse Anwendung finde, unterminiere die Durchführung der Verordnung Nr. 1308/2013, da er mit einem fundamentalen Prinzip dieser Verordnung, nämlich der freien Festsetzung der Verkaufspreise für landwirtschaftliche Erzeugnisse auf der Grundlage lauteren Wettbewerbs, nicht vereinbar sei. Nach Auffassung der Kommission ist die Gewinnspanne ein integraler Bestandteil der Festlegung des Einzelhandelspreises.

14. Die Kommission verweist auf die Urteile vom 4. März 2010, Kommission/Frankreich (C‑197/08, EU:C:2010:111) und Kommission/Irland (C‑221/08, EU:C:2010:113), die sie als ein Beispiel für die Bedeutung ansieht, die dem Schutz der Freiheit der Marktteilnehmer im Bereich der Preisfestsetzung zukomme. Diese Freiheit ermögliche es neuen eingeführten Erzeugnissen, durch attraktive Einzelhandelspreise in einen bestimmten Markt einzudringen.

15. Soweit ihre Klage Art. 34 AEUV betrifft, bringt die Kommission vor, § 3 Abs. 2 Buchst. u des Gesetzes Nr. XCV von 2009 beziehe sich nicht auf die Eigenschaften von Agrar- und Lebensmittelerzeugnissen sondern lediglich auf ihre Verkaufsmodalitäten und sei daher als eine Bestimmung bezüglich Verkaufsmodalitäten im Sinne des Urteils vom 24. November 1993, Keck und Mithouard (C‑267/91 und C‑268/91, EU:C:1993:905) anzusehen. Die fragliche Bestimmung erfülle das in diesem Urteil festgelegte zweiten Kriterium nicht, da sie identischen nationalen Erzeugnissen einen De-facto-Vorteil gewähre. Somit stelle §3 Abs. 2 Buchst. u des Gesetzes Nr. XCV von 2009 eine den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigende mengenmäßige Beschränkung gemäß Art. 34 AEUV dar, da er die Vermarktung bestimmter aus anderen Mitgliedstaaten eingeführter Waren im Vergleich zu identischen nationalen Erzeugnissen erschwere und somit vom Einzelhandelsvertrieb solcher Waren abhalte. Die Verbraucher seien natürlich mit nationalen Erzeugnissen vertrauter, die sich länger auf dem Markt befänden, und zögen diese neu eingetroffenen Erzeugnissen vor. Zusätzlich hätten manche Verbraucher das Gefühl, dass sie durch den Kauf lokaler Erzeugnisse die nationale Wirtschaft unterstützten, und es gebe in manchen Mitgliedstaaten regelrechte Werbekampagnen in diesem Sinne, die sich dieses Gefühl zu Nutze machten. Neben vielen anderen sei es gerade dieser Grund, aus dem Marktteilnehmer auf unterschiedliche Geschäftspraktiken zurückgreifen könnten, von denen eine der geeignetsten die sei, den Preis für bestimmte eingeführte Erzeugnisse zu senken, damit Verbraucher schneller mit ihnen vertrauter würden.

16. Die Kommission ist der Auffassung, der fragliche Eingriff in die freie Preispolitik ziele darauf ab, bestimmte nationale Marktteilnehmer zu schützen, anstatt – wie von Ungarn geltend gemacht – die Interessen der Verbraucher zu verteidigen. Zur Verteidigung der Verbraucherinteressen reiche es aus, nicht kostendeckende Verkäufe zu untersagen. In der vorliegenden Rechtssache gehe der staatliche Eingriff über ein Verbot nicht kostendeckender Verkäufe hinaus und scheine dem Verbraucher keinen Vorteil zu verschaffen. Der Kommission zufolge stellt § 3 Abs. 2 Buchst. u des Gesetzes Nr. XCV von 2009 per se eine solche willkürliche Diskriminierung und gegen Art. 34 AEUV verstoßende Praktik dar, dass anderweitige statistische Daten, die für den Nachweis sprechen könnten, dass die beanstandete Maßnahme keine Diskriminierung darstelle, unerheblich seien. Außerdem führe der Begriff „identische Erzeugnisse“ zu Verunsicherung und somit zu einem Verstoß gegen Art. 34 AEUV. So könnten bestimmte Einzelhändler z. B. auf dem Erzeugnis die Rasse der Kühe angeben, die die...

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