Opinion of Advocate General Emiliou delivered on 12 January 2023.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2023:20
Date12 January 2023
Celex Number62021CC0747
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

NICHOLAS EMILIOU

vom 12. Januar 2023(1)

Rechtssache C747/21 P

PAO Severstal

gegen

Europäische Kommission


und


Rechtssache C748/21 P


Novolipetsk Steel PAO

gegen

Europäische Kommission

„Rechtsmittel – Dumping – Einfuhren bestimmter kaltgewalzter Flachstahlerzeugnisse mit Ursprung in China und Russland – Endgültiger Antidumpingzoll – Verordnung (EG) Nr. 1225/2009Verordnung (EU) 2016/1036 – Art. 9 Abs. 4 – Schadensbeseitigung – Regel des niedrigeren Zolls – Zielpreisunterbietungsspanne – Maßgeblicher Zeitraum für die Berechnung des Zielgewinns – Ermessensspielraum – Natur des Antidumpingzolls“






I. Einleitung

1. Mit ihren Rechtsmitteln beantragen die PAO Severstal und die Novolipetsk Steel PJSC (NLMK)(2) – zwei Gesellschaften russischen Rechts, die auf dem Markt für die Herstellung und den Vertrieb von Stahlerzeugnissen, insbesondere von kaltgewalzten Flacherzeugnissen aus Stahl, tätig sind – die Aufhebung der Urteile des Gerichts der Europäischen Union(3), mit denen dieses ihre Klagen auf Nichtigerklärung der Durchführungsverordnung (EU) 2016/1328 der Kommission vom 29. Juli 2016 zur Einführung eines endgültigen Antidumpingzolls und zur endgültigen Vereinnahmung des vorläufigen Zolls auf die Einfuhren bestimmter kaltgewalzter Flachstahlerzeugnisse mit Ursprung in der Volksrepublik China und der Russischen Föderation (im Folgenden: angefochtene Verordnung) abgewiesen hat(4).

2. Die Rechtsmittelführerinnen stützen sich auf drei (nahezu identische) Rechtsmittelgründe. Auf Wunsch des Gerichtshofs werden sich die vorliegenden Schlussanträge jedoch auf die Würdigung des zweiten Rechtsmittelgrundes beschränken, der im Wesentlichen die Auslegung und Anwendung der „Regel des niedrigeren Zolls“ betrifft, die in Art. 9 Abs. 4 der Verordnung (EG) Nr. 1225/2009 des Rates vom 30. November 2009 über den Schutz gegen gedumpte Einfuhren aus nicht zur Europäischen Gemeinschaft gehörenden Ländern(5) enthalten war, der im Wesentlichen durch Art. 9 Abs. 4 der Verordnung (EU) 2016/1036 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2016 über den Schutz gegen gedumpte Einfuhren aus nicht zur Europäischen Union gehörenden Ländern aufgehoben und ersetzt worden ist.(6)

3. Auch wenn die mit den vorliegenden Rechtsmitteln insoweit hauptsächlich aufgeworfenen Rechtsfragen eher technischer Natur sind, ist es angebracht, auf einige „existenzielle“ Fragen der Antidumpingvorschriften der Union zurückzukommen, um auf bestimmte, von den Rechtsmittelführerinnen vorgebrachte Fragen einzugehen: Was ist das Wesen von Antidumpingzöllen und welcher Zweck wird mit ihnen verfolgt?

II. Rechtlicher Rahmen

4. Art. 9 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1225/2009 über die Einführung endgültiger Zölle der zur Zeit der Untersuchung galt, sah vor:

„Ergibt sich aus der endgültigen Feststellung des Sachverhalts, dass Dumping und eine dadurch verursachte Schädigung vorliegen und im Unionsinteresse ein Eingreifen … erforderlich ist, so führt die Kommission … einen endgültigen Antidumpingzoll ein. … Der Antidumpingzoll darf die festgestellte Dumpingspanne nicht übersteigen, sollte aber niedriger sein als die Dumpingspanne, wenn ein niedrigerer Zoll ausreicht, um die Schädigung des Wirtschaftszweigs der Union zu beseitigen.“

5. Art. 9 Abs. 4 der Verordnung 2016/1036 in der zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Verordnung geltenden Fassung hat in dem einschlägigen Teil denselben Wortlaut.

III. Sachverhalt

6. Auf eine Beschwerde hin veröffentlichte die Kommission am 14. Mai 2015 die Bekanntmachung über die Einleitung eines Antidumpingverfahrens nach Maßgabe der Verordnung Nr. 1225/2009 betreffend die Einfuhren bestimmter kaltgewalzter Flachstahlprodukte mit Ursprung in der Volksrepublik China und in der Russischen Föderation(7). Die Untersuchung von Dumping und Schädigung betraf den Zeitraum vom 1. April 2014 bis 31. März 2015 (im Folgenden: Untersuchungszeitraum). Die Untersuchung der für die Schadensermittlung relevanten Entwicklungen betraf den Zeitraum vom 1. Januar 2011 bis 31. März 2015 (im Folgenden: betrachteter Zeitraum).

7. Am 10. Februar 2016 erließ die Kommission die Durchführungsverordnung (EU) 2016/181 zur Einführung eines vorläufigen Antidumpingzolls auf die Einfuhren bestimmter kaltgewalzter Flacherzeugnisse aus Stahl mit Ursprung in der Volksrepublik China und der Russischen Föderation(8).

8. In der Folge erließ die Kommission am 29. Juli 2016 die angefochtene Verordnung. Der endgültige Antidumpingzoll, der Severstal auferlegt wurde, betrug 34 %; der, der NLMK auferlegt wurde, 36,1 %.

IV. Die angefochtenen Urteile

9. Severstal und NLMK erhoben am 28. Oktober 2016 jeweils eine Nichtigkeitsklage gegen die angefochtene Verordnung vor dem Gericht. In ihren Klageschriften machten Severstal sechs bzw. NLMK fünf Klagegründe geltend.

10. Am 22. September 2021 ergingen die beiden angefochtenen Urteile, mit denen das Gericht die Klagen der Rechtsmittelführerinnen abgewiesen und diesen ihre eigenen Kosten sowie die Kosten der Kommission auferlegt hat. Darüber hinaus hat das Gericht Eurofer, der European Steel Association und ASBL, die dem Rechtsstreit zur Unterstützung der Anträge der Kommission beigetreten sind, ihre eigenen Kosten auferlegt.

V. Verfahren vor dem Gerichtshof

11. Mit ihrem am 3. Dezember 2021 beim Gerichtshof eingelegten Rechtsmittel in der Rechtssache C‑747/21 P beantragt Severstal,

– das Urteil in der Rechtssache T‑753/16 aufzuheben;

– den Rechtsstreit endgültig zu entscheiden, wenn dieser zur Entscheidung reif ist;

– hilfsweise, die Sache zur erneuten Entscheidung an das Gericht zurückzuverweisen;

– der Kommission die Kosten beider Instanzen aufzuerlegen.

12. Mit ihrer Rechtsmittelbeantwortung vom 23. Februar 2022 beantragt die Kommission, das Rechtsmittel als unbegründet zurückzuweisen und Severstal die Kosten aufzuerlegen.

13. Mit ihrem am 3. Dezember 2021 beim Gerichtshof eingegangenen Rechtsmittel in der Rechtssache C‑748/21 P beantragt NLMK

– das Urteil in der Rechtssache T‑752/16 aufzuheben;

– den Rechtsstreit endgültig zu entscheiden, wenn dieser zur Entscheidung reif ist;

– hilfsweise, die Sache zur erneuten Entscheidung an das Gericht zurückzuverweisen;

– der Kommission die Kosten beider Instanzen aufzuerlegen.

14. Mit ihrer Rechtsmittelbeantwortung vom 23. Februar 2022 beantragt die Kommission, das Rechtsmittel als unbegründet zurückzuweisen und NLMK die Kosten aufzuerlegen.

15. Mit Entscheidung des Gerichtshofs vom 18. Oktober 2022 sind beide Rechtssachen zu gemeinsamem mündlichen Verfahren und zu gemeinsamem Urteil verbunden worden.

16. Mit Schreiben vom 24. Oktober 2022 sind die Parteien im Rahmen einer prozessleitenden Maßnahme nach Art. 62 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs aufgefordert worden, einige Fragen zu beantworten; dieser Aufforderung sind sie mit Schreiben vom 24. November 2022 (Kommission) und vom 1. Dezember 2022 (Rechtsmittelführerinnen) nachgekommen.

VI. Würdigung des zweiten Rechtsmittelgrundes

17. Wie in der Einleitung dieser Schlussanträge bereits erwähnt, wird sich die Prüfung auf den von den Rechtsmittelführerinnen geltend gemachten zweiten Rechtsmittelgrund beschränken.

18. Mit diesem Rechtsmittelgrund wenden sich die Rechtsmittelführerinnen gegen die Rn. 243 bis 257 (Severstal) bzw. die Rn. 209 bis 223 (NLMK) der angefochtenen Urteile. Das Gericht hat in diesen Passagen den ersten Teil des sechsten Klagegrundes von Severstal und den ersten Teil des fünften Klagegrundes von NLMK als unbegründet zurückgewiesen. Mit diesen Klagegründen hatten die Rechtsmittelführerinnen geltend gemacht, dass die Kommission in der angefochtenen Verordnung Rechtsfehler und offenkundige Beurteilungsfehler bei der Ermittlung der Schadensspanne nach Art. 9 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1225/2009 (jetzt Art. 9 Abs. 4 der Verordnung 2016/1036) begangen habe(9).

A. Vorbringen der Parteien

19. Mit ihren Rechtsmitteln machen die Rechtsmittelführerinnen im Wesentlichen geltend, dass das Gericht Art. 9 Abs. 4 der Verordnung 2016/1036 falsch ausgelegt und bei der Überprüfung der Anwendung dieser Bestimmung durch die Kommission einen Fehler begangen habe. Sie machen ferner geltend, dass die Begründung der angefochtenen Urteile in Anbetracht ihres eigenen Vorbringens zu diesen Gesichtspunkten nicht ausreichend sei.

20. Die Rechtsmittelführerinnen werfen dem Gericht insbesondere vor, die Wahl eines Zielgewinns von 9,9 % für den Wirtschaftszweig der Union bei der Berechnung der „Zielpreisunterbietungsspanne“ für die Anwendung von Art. 9 Abs. 4 der Verordnung 2016/1036 durch die Kommission bestätigt zu haben. Sie heben hervor, dass sich der Untersuchungszeitraum zwar vom 1. April 2014 bis 31. März 2015 erstrecke, die Kommission jedoch um mehrere Jahre – bis in das Jahr 2008 – zurückgegangen sei, um das letzte „repräsentative Jahr“ für die Ermittlung des Zielgewinns festzulegen. Die Feststellung des Gerichts, dass die Kommission bei der Auswahl des letzten repräsentativen Jahres nicht an die zeitlichen Grenzen des betrachteten Zeitraums (im vorliegenden Fall vom 1. Januar 2011 bis zum 31. März 2015) gebunden sei, verstößt nach Ansicht der Rechtsmittelführerinnen gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes.

21. Darüber hinaus habe das Gericht einen offenkundigen Fehler begangen, indem es die Herangehensweise der Kommission gebilligt habe. Der von der Kommission bestimmte Zeitraum sei nicht hinreichend repräsentativ, da er zeitlich viel zu weit vorverlagert sei. Er sei zudem willkürlich gewählt, da kürzer zurückliegende Zeiträume hinreichend repräsentativ seien. Außerdem hätten die Rechtsmittelführerinnen im ersten Rechtszug Argumente vorgebracht, um einen Widerspruch in der angefochtenen Verordnung zu belegen: Die Jahre der Finanzkrise seien bei der Feststellung des Vorliegens einer Schädigung des Wirtschaftszweigs der Union berücksichtigt worden, bei der Ermittlung des Zielgewinns dieses Wirtschaftszweigs hingegen nicht...

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