Paget Approbois SAS y Alpha Insurance A/S contra Depeyre entreprises SARL y otros.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2022:9
Docket NumberC-724/20
Date13 January 2022
Celex Number62020CJ0724
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

13. Januar 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Niederlassungsfreiheit – Freier Dienstleistungsverkehr – Versicherungs- und Rückversicherungstätigkeit – Richtlinie 2009/138/EG – Liquidation von Versicherungsunternehmen – Art. 292 – Wirkungen von Liquidationsverfahren auf anhängige Rechtsstreitigkeiten – Ausnahme von der Anwendung der lex concursus – Lex processus“

In der Rechtssache C‑724/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) mit Entscheidung vom 17. Dezember 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Dezember 2020, in dem Verfahren

Paget Approbois SAS

gegen

Depeyre entreprises SARL,

Alpha Insurance A/S

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Präsidentin der Zweiten Kammer A. Prechal in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Dritten Kammer, der Richter J. Passer und F. Biltgen, der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin) und des Richters N. Wahl,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der Alpha Insurance A/S, vertreten durch F. Rocheteau, avocat,

– der französischen Regierung, vertreten durch E. Leclerc und A.‑L. Desjonquères als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Triantafyllou und H. Tserepa-Lacombe als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 292 der Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II) (ABl. 2009, L 335, S. 1).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Paget Approbois (im Folgenden: Paget) einerseits und der Depeyre entreprises SARL (im Folgenden: Depeyre) und der Alpha Insurance A/S andererseits über die Zahlung einer Versicherungsentschädigung wegen Schäden, die Paget infolge eines Schadensfalls erlitten hat.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2009/138

3 Die Erwägungsgründe 3, 117, 123 bis 125 und 130 der Richtlinie 2009/138 lauten:

„(3) Im Interesse eines reibungslos funktionierenden Binnenmarktes sollten abgestimmte Regelungen für die Beaufsichtigung von Versicherungsgruppen und – mit Blick auf den Gläubigerschutz – für die Sanierungs- und Liquidationsverfahren im Falle von Versicherungsunternehmen aufgestellt werden.

(117) Da die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften für Sanierungsmaßnahmen und Liquidationsverfahren nicht harmonisiert sind, empfiehlt es sich im Rahmen des Binnenmarktes, die gegenseitige Anerkennung von Sanierungsmaßnahmen und Liquidationsvorschriften für Versicherungsunternehmen sowie die nötige Zusammenarbeit sicherzustellen, wobei den Geboten der Einheit, der Universalität, der Abstimmung und der Publizität dieser Maßnahmen sowie der Gleichbehandlung und des Schutzes der Versicherungsgläubiger Rechnung zu tragen ist.

(123) Die zuständigen Behörden des Herkunftsmitgliedstaats sollten als Einzige befugt sein, über Verfahren zur Liquidation eines Versicherungsunternehmens zu entscheiden. Die Entscheidungen sollten in der gesamten Gemeinschaft wirksam werden und von allen Mitgliedstaaten anerkannt werden. Die Entscheidungen sollten gemäß den Verfahren des Herkunftsmitgliedstaats und im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht werden. Auch bekannte, in der Gemeinschaft ansässige Gläubiger sollten unterrichtet werden und das Recht haben, Forderungen anzumelden und zu erläutern.

(124) Alle Forderungen und Verbindlichkeiten des Versicherungsunternehmens sollten in das Liquidationsverfahren einbezogen werden.

(125) Alle Voraussetzungen für die Eröffnung, Durchführung und Beendigung eines Liquidationsverfahrens sollten durch das Recht des Herkunftsmitgliedstaats geregelt werden.

(130) Um in den anderen Mitgliedstaaten als dem Herkunftsmitgliedstaat Vertrauensschutz und Rechtssicherheit zu gewährleisten, muss geregelt werden, welches Recht für die Auswirkungen von Sanierungsmaßnahmen und Liquidationsverfahren auf anhängige Rechtsstreitigkeiten und Rechtsverfolgungsmaßnahmen einzelner Gläubiger gilt.“

4 Titel IV („Sanierung und Liquidation von Versicherungsunternehmen“) der Richtlinie 2009/138 umfasst deren Art. 267 bis 296.

5 Art. 268 („Begriffsbestimmungen“) dieser Richtlinie bestimmt:

„(1) Für die Zwecke dieses Titels bezeichnet der Ausdruck

a) ‚die zuständigen Behörden‘ die Behörden oder Gerichte der Mitgliedstaaten, die für Sanierungsmaßnahmen oder Liquidationsverfahren zuständig sind;

c) ‚Sanierungsmaßnahmen‘ Maßnahmen, die das Tätigwerden der zuständigen Behörden mit dem Ziel beinhalten, die finanzielle Lage eines Versicherungsunternehmens zu sichern oder wiederherzustellen und die die bestehenden Rechte anderer Beteiligter als des Versicherungsunternehmens selbst beeinträchtigen; dazu zählen unter anderem auch Maßnahmen, die die Aussetzung der Zahlungen, die Aussetzung der Vollstreckungsmaßnahmen oder eine Kürzung der Forderungen erlauben;

d) ‚Liquidationsverfahren‘ Gesamtverfahren, bei denen das Vermögen eines Versicherungsunternehmens verwertet und der Erlös in angemessener Weise unter den Gläubigern, Anteilseignern oder Mitgliedern verteilt wird, wozu in jedem Fall das Tätigwerden der zuständigen Behörden erforderlich ist; dazu zählen auch Gesamtverfahren, die durch einen Vergleich oder eine ähnliche Maßnahme abgeschlossen werden; es ist unerheblich, ob die Verfahren infolge Zahlungsunfähigkeit eröffnet werden oder nicht oder ob sie freiwillig oder zwangsweise eingeleitet werden;

…“

6 Art. 273 („Eröffnung eines Liquidationsverfahrens – Unterrichtung der Aufsichtsbehörden“) Abs. 2 der Richtlinie 2009/138 sieht vor:

„Eine nach dem Recht des Herkunftsmitgliedstaats ergangene Entscheidung zur Eröffnung eines Verfahrens zur Liquidation eines Versicherungsunternehmens einschließlich seiner Zweigniederlassungen in anderen Mitgliedstaaten wird in allen anderen Mitgliedstaaten ohne weitere Formalität anerkannt und ist dort wirksam, sobald die Entscheidung in dem Mitgliedstaat, in dem das Verfahren eröffnet wurde, wirksam wird.“

7 Art. 274 („Maßgebliches Recht“) dieser Richtlinie lautet:

„(1) Für die Entscheidung über die Eröffnung eines Verfahrens zur Liquidation eines Versicherungsunternehmens, das Liquidationsverfahren und dessen Wirkungen ist das Recht des Herkunftsmitgliedstaats maßgebend, soweit in den Artikeln 285 bis 292 nicht etwas anderes bestimmt ist.

(2) Das Recht des Herkunftsmitgliedstaats regelt Folgendes:

a) welche Vermögenswerte zur Masse gehören und wie die nach der Verfahrenseröffnung von dem Versicherungsunternehmen erworbenen oder auf das Versicherungsunternehmen übertragenen Vermögenswerte zu behandeln sind;

b) die jeweiligen Befugnisse des Versicherungsunternehmens und des Liquidators;

c) die Voraussetzungen für die Wirksamkeit einer Aufrechnung;

d) wie sich das Liquidationsverfahren auf laufende Verträge des Versicherungsunternehmens auswirkt;

e) wie sich die Eröffnung eines Liquidationsverfahrens auf Rechtsverfolgungsmaßnahmen einzelner Gläubiger auswirkt; ausgenommen sind die Wirkungen auf die in Artikel 292 genannten anhängigen Rechtsstreitigkeiten;

f) welche Forderungen gegen das Vermögen des Versicherungsunternehmens anzumelden sind und wie Forderungen zu behandeln sind, die nach der Eröffnung des Liquidationsverfahrens entstehen;

g) die Anmeldung, Prüfung und Feststellung der Forderungen;

h) die Verteilung des Erlöses aus der Verwertung der Vermögenswerte, den Rang der Forderungen und die Rechte der Gläubiger, die nach der Eröffnung des Liquidationsverfahrens aufgrund eines dinglichen Rechts oder infolge einer Aufrechnung teilweise befriedigt wurden;

i) die Voraussetzungen und Wirkungen der Beendigung des Insolvenzverfahrens, insbesondere durch Vergleich;

j) die Rechte der Gläubiger nach der Beendigung des Liquidationsverfahrens;

k) welche Partei die Kosten des Insolvenzverfahrens einschließlich der Auslagen zu tragen hat; und

l) welche Rechtshandlungen nichtig, anfechtbar oder relativ unwirksam sind, weil sie die Gesamtheit der Gläubiger benachteiligen.“

8 Art. 280 („Öffentliche Bekanntmachung von Entscheidungen zur Eröffnung von Liquidationsverfahren“) Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:

„Die zuständige Behörde, der Liquidator oder jede andere von der zuständigen Behörde zu diesem Zweck benannte Person veranlasst die Bekanntmachung der Entscheidung zur Eröffnung des Liquidationsverfahrens entsprechend den Bestimmungen des Herkunftsmitgliedstaats für öffentliche Bekanntmachungen sowie außerdem durch Veröffentlichung eines Auszugs aus der Entscheidung im Amtsblatt der Europäischen Union.“

9 In Art. 282 Abs. 1 dieser Richtlinie heißt es:

„Jeder Gläubiger, einschließlich öffentlich-rechtlicher Stellen in den Mitgliedstaaten, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt, seinen Wohnsitz oder seinen Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als dem Herkunftsmitgliedstaat hat, hat das Recht, seine Forderung anzumelden oder schriftlich zu erläutern.“

10 Art. 292 („Anhängige Rechtsstreitigkeiten“) der Richtlinie 2009/138 bestimmt:

„Für die Wirkungen der Sanierungsmaßnahme oder des Liquidationsverfahrens auf einen anhängigen Rechtsstreit über einen Vermögensgegenstand oder ein Recht der Masse ist ausschließlich das Recht des Mitgliedstaats maßgeblich, in dem der Rechtsstreit anhängig ist.“

Verordnung (EG) Nr. 1346/2000

11 In Art. 4 („Anwendbares Recht“) der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren (ABl. 2000, L 160, S. 1), die durch die Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren (ABl. 2015, L 141, S. 19) aufgehoben und ersetzt wurde, hieß es:

„(1) Soweit diese Verordnung...

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