RTG v Tuk Tuk Travel S.L.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2023:664
Date14 September 2023
Docket NumberC-83/22
Celex Number62022CJ0083
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

14. September 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie (EU) 2015/2302 – Art. 5 – Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen – Rücktritt von einem Pauschalreisevertrag – Unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände – Covid-19-Pandemie – Rücktrittsrecht – Anspruch auf volle Erstattung – Dem Reiseveranstalter obliegende Informationspflicht – Art. 12 – Anwendung der im nationalen Recht verankerten Grundsätze der Verhandlungsmaxime und der Bindung an die Parteianträge – Wirksamer Verbraucherschutz – Prüfung von Amts wegen durch das nationale Gericht – Voraussetzungen“

In der Rechtssache C‑83/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Juzgado de Primera Instancia nº 5 de Cartagena (Gericht erster Instanz Nr. 5 Cartagena, Spanien) mit Entscheidung vom 11. Januar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Februar 2022, in dem Verfahren

RTG

gegen

Tuk Tuk Travel SL

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), der Richterin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter F. Biltgen, N. Wahl und J. Passer,

Generalanwältin: L. Medina,

Kanzler: L. Carrasco Marco, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. Januar 2023,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der spanischen Regierung, vertreten durch I. Herranz Elizalde als Bevollmächtigten,

– der tschechischen Regierung, vertreten durch L. Halajová, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

– der finnischen Regierung, vertreten durch H. Leppo als Bevollmächtigte,

– des Europäischen Parlaments, vertreten durch P. López-Carceller und M. Menegatti als Bevollmächtigte,

– des Rates der Europäischen Union, vertreten durch S. Sáez Moreno und L. Vétillard als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch I. Rubene und N. Ruiz García als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 23. März 2023

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Gültigkeit von Art. 5 der Richtlinie (EU) 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen, zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 90/314/EWG des Rates (ABl. 2015, L 326, S. 1) im Hinblick auf die Art. 114 und 169 AEUV sowie die Auslegung dieser beiden letztgenannten Artikel und von Art. 15 der Richtlinie 2015/2302.

2 Das Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen RTG, einem Reisenden, und der Tuk Tuk Travel SL, einem Reiseveranstalter, wegen eines von dem Reisenden nach Abschluss eines Pauschalreisevertrags gezahlten Betrags, dessen teilweise Erstattung er nach seinem Rücktritt von dem Reisevertrag aufgrund der Verbreitung des Coronavirus in den Zielländern von dem Reiseveranstalter fordert.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3 Im fünften Erwägungsgrund der Richtlinie 2015/2302 heißt es:

„Gemäß Artikel 26 Absatz 2 und Artikel 49 AEUV umfasst der Binnenmarkt einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren und Dienstleistungen sowie die Niederlassungsfreiheit gewährleistet sind. Um einen echten Binnenmarkt für Verbraucher bei Pauschalreisen und verbundenen Reiseleistungen zu schaffen, müssen die Rechte und Pflichten, die sich aus Pauschalreiseverträgen und verbundenen Reiseleistungen ergeben, so harmonisiert werden, dass ein ausgewogenes Verhältnis zwischen einem hohen Verbraucherschutzniveau und der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen dieser Branche gewährleistet ist.“

4 Art. 1 („Gegenstand“) der Richtlinie 2015/2302 sieht vor:

„Der Zweck dieser Richtlinie ist die Angleichung bestimmter Aspekte der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für Verträge über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen zwischen Reisenden und Unternehmern, um so zum ordnungsgemäßen Funktionieren des Binnenmarkts und zu einem hohen und möglichst einheitlichen Verbraucherschutzniveau beizutragen.“

5 Art. 5 („Vorvertragliche Informationen“) der Richtlinie 2015/2302 bestimmt:

„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass dem Reisenden, bevor er durch einen Pauschalreisevertrag oder ein entsprechendes Vertragsangebot gebunden ist, von dem Reiseveranstalter und, wenn die Pauschalreise über einen Reisevermittler verkauft wird, auch von dem Reisevermittler die jeweiligen Standardinformationen durch das zutreffende Formblatt gemäß Anhang I Teil A oder B bereitgestellt werden und er, sofern diese Informationen für die betreffende Pauschalreise relevant sind, über Folgendes informiert wird:

a) die wesentlichen Eigenschaften der Reiseleistungen:

g) Angaben darüber, dass der Reisende den Vertrag jederzeit vor Beginn der Pauschalreise gemäß Artikel 12 Absatz 1 gegen Zahlung einer angemessenen Rücktrittsgebühr, oder gegebenenfalls der pauschalen Rücktrittsgebühren, die der Reiseveranstalter verlangt, beenden kann;

(3) Die in den Absätzen 1 und 2 genannten Informationen sind klar, verständlich und deutlich mitzuteilen. Werden diese Informationen schriftlich mitgeteilt, so müssen sie lesbar sein.“

6 Art. 12 („Beendigung des Pauschalreisevertrags und Recht zum Widerruf vor Beginn der Pauschalreise“) der Richtlinie 2015/2302 sieht vor:

„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass der Reisende vor Beginn der Pauschalreise jederzeit vom Pauschalreisevertrag zurücktreten kann. Tritt der Reisende gemäß diesem Absatz vom Pauschalreisevertrag zurück, so kann der Reiseveranstalter die Zahlung einer angemessenen und vertretbaren Rücktrittsgebühr verlangen. Im Pauschalreisevertrag können angemessene pauschale Rücktrittsgebühren festgelegt werden, die sich nach dem Zeitpunkt des Rücktritts vom Vertrag und der Dauer bis zum Beginn der Pauschalreise und den erwarteten ersparten Aufwendungen und Einnahmen aus anderweitigen Verwendungen der Reiseleistungen bemessen. In Ermangelung pauschaler Rücktrittsgebühren entspricht die Rücktrittsgebühr dem Preis der Pauschalreise abzüglich der ersparten Aufwendungen und Einnahmen aus anderweitigen Verwendungen der Reiseleistungen. Auf Ersuchen des Reisenden begründet der Reiseveranstalter die Höhe der Rücktrittsgebühren.

(2) Ungeachtet des Absatzes 1 hat der Reisende das Recht, vor Beginn der Pauschalreise ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Pauschalreisevertrag zurückzutreten, wenn am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen. Im Fall des Rücktritts vom Pauschalreisevertrag gemäß diesem Absatz hat der Reisende Anspruch auf volle Erstattung aller für die Pauschalreise getätigten Zahlungen, jedoch auf keine zusätzliche Entschädigung.

…“

7 Art. 23 („Unabdingbarkeit der Richtlinie“) der Richtlinie 2015/2302 bestimmt:

„(1) Die Erklärung eines Veranstalters einer Pauschalreise oder eines Unternehmers, der verbundene Reiseleistungen vermittelt, dass er ausschließlich als Erbringer einer Reiseleistung, als Vermittler oder in anderer Eigenschaft handelt oder dass eine Pauschalreise oder verbundene Reiseleistungen keine Pauschalreise bzw. keine verbundenen Reiseleistungen darstellt, entbindet diesen Reiseveranstalter oder Unternehmer nicht von den Pflichten, die ihm aus dieser Richtlinie obliegen.

(2) Reisende dürfen nicht auf die Rechte verzichten, die ihnen aus den nationalen Maßnahmen zur Umsetzung dieser Richtlinie zustehen.

(3) Vertragliche Vereinbarungen oder Erklärungen des Reisenden, die einen Verzicht auf die sich aus dieser Richtlinie ergebenden Rechte oder deren Einschränkung unmittelbar oder mittelbar bewirken oder die darauf gerichtet sind, die Anwendung dieser Richtlinie zu umgehen, sind für den Reisenden nicht bindend.“


8 In Art. 24 („Durchsetzung“) der Richtlinie 2015/2302 heißt es:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass angemessene und wirksame Mittel vorhanden sind, mit denen die Einhaltung dieser Richtlinie sichergestellt wird.“

9 Teil A („Standardinformationsblatt für Pauschalreiseverträge für Fälle, in denen ein Hyperlink verwendet werden kann“) des Anhangs I der Richtlinie 2015/2302 stellt in einem Textfeld den Inhalt dieses Formulars dar und weist darauf hin, dass der Reisende durch Anklicken des Hyperlinks die folgenden Informationen erhält:

„Wichtigste Rechte nach der Richtlinie (EU) 2015/2302

– Die Reisenden können bei Eintritt außergewöhnlicher Umstände vor Beginn der Pauschalreise ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Vertrag zurücktreten, beispielsweise wenn am Bestimmungsort schwerwiegende Sicherheitsprobleme bestehen, die die Pauschalreise voraussichtlich beeinträchtigen.

…“

10 Teil B („Standardinformationsblatt für Pauschalreiseverträge in anderen Fällen als dem von Teil A erfassten“) des Anhangs I der Richtlinie 2015/2302 gibt in einem Textfeld den Inhalt des Formblatts wieder und führt dieselben wichtigsten Rechte nach dieser Richtlinie an wie diejenigen, die in Teil A ihres Anhangs I aufgeführt sind.

Spanisches Recht

Königliches Gesetzesdekret 1/2007

11 Die Art. 153 und 160 des durch das Königliche Gesetzesdekret 1/2007 genehmigten konsolidierten Textes des Allgemeinen Gesetzes zum Schutz der Verbraucher und Nutzer sowie anderer ergänzender Gesetze vom 16. November 2007 (BOE Nr. 287 vom 30. November 2007, S. 49181) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung sowie Teil A und Teil B des Anhangs II dieses Königlichen Gesetzesdekrets setzen die Art. 5 und 12 der Richtlinie 2015/2302 sowie Teil A und Teil B des Anhangs I der Richtlinie in das spanische Recht um.

Zivilprozessordnung

12 Art. 216 der Ley 1/2000 de Enjuiciamiento Civil (Gesetz 1/2000 über den Zivilprozess) vom 7. Januar 2000 (BOE Nr. 7 vom 8. Januar 2000, S. 575) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit...

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