S v Familienkasse Niedersachsen-Bremen der Bundesagentur für Arbeit.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2022:602
Date01 August 2022
Docket NumberC-411/20
Celex Number62020CJ0411
CourtCourt of Justice (European Union)

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

1. August 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Freizügigkeit – Gleichbehandlung – Richtlinie 2004/38/EGArt. 24 Abs. 1 und 2 – Leistungen der sozialen Sicherheit – Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – Art. 4 – Familienleistungen – Ausschluss wirtschaftlich nicht aktiver Staatsangehöriger anderer Mitgliedstaaten während der ersten drei Monate des Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat“

In der Rechtssache C‑411/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Finanzgericht Bremen (Deutschland) mit Entscheidung vom 20. August 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 2. September 2020, in dem Verfahren

S

gegen

Familienkasse Niedersachsen-Bremen der Bundesagentur für Arbeit


erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentinnen A. Prechal und K. Jürimäe (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, E. Regan und N. Jääskinen, der Kammerpräsidentin I. Ziemele sowie der Richter M. Ilešič, F. Biltgen, P. G. Xuereb und N. Wahl,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,

– der tschechischen Regierung, vertreten durch J. Pavliš, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

– der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Martin und B.-R. Killmann als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Dezember 2021

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, berichtigt in ABl. 2004, L 200, S. 1) sowie von Art. 24 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, berichtigt in ABl. 2004, L 229, S. 35).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen S, einer aus einem anderen Mitgliedstaat als der Bundesrepublik Deutschland stammenden Unionsbürgerin, und der Familienkasse Niedersachsen-Bremen der Bundesagentur für Arbeit (Deutschland) (im Folgenden: Familienkasse) über deren Ablehnung des Kindergeldantrags von S für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts in Deutschland.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Verordnung Nr. 883/2004

3 Art. 1 Buchst. j, k und z der Verordnung Nr. 883/2004 enthält für die Zwecke dieser Verordnung folgende Definitionen:

„j) [Der Ausdruck] ‚Wohnort‘ [bezeichnet] den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts einer Person;

k) ‚Aufenthalt‘ den vorübergehenden Aufenthalt;

z) ‚Familienleistungen‘ alle Sach- oder Geldleistungen zum Ausgleich von Familienlasten, mit Ausnahme von Unterhaltsvorschüssen und besonderen Geburts- und Adoptionsbeihilfen nach Anhang I.“

4 Zum persönlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung heißt es in ihrem Art. 2 Abs. 1:

„Diese Verordnung gilt für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, sowie für ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen.“

5 Zum sachlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung bestimmt ihr Art. 3 Abs. 1:

„Diese Verordnung gilt für alle Rechtsvorschriften, die folgende Zweige der sozialen Sicherheit betreffen:

j) Familienleistungen.“

6 Art. 4 („Gleichbehandlung“) der Verordnung Nr. 883/2004 lautet:

„Sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, haben Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates.“

7 Art. 11 dieser Verordnung sieht folgende Allgemeine Regelung zur Bestimmung des anwendbaren Rechts vor:

„(1) Personen, für die diese Verordnung gilt, unterliegen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften dies sind, bestimmt sich nach diesem Titel.

(3) Vorbehaltlich der Artikel 12 bis 16 gilt Folgendes:

a) [E]ine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats;

b) ein Beamter unterliegt den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, dem die ihn beschäftigende Verwaltungseinheit angehört;

c) eine Person, die nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats Leistungen bei Arbeitslosigkeit gemäß Artikel 65 erhält, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats;

d) eine zum Wehr- oder Zivildienst eines Mitgliedstaats einberufene oder wiedereinberufene Person unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats;

e) jede andere Person, die nicht unter die Buchstaben a) bis d) fällt, unterliegt unbeschadet anders lautender Bestimmungen dieser Verordnung, nach denen ihr Leistungen aufgrund der Rechtsvorschriften eines oder mehrerer anderer Mitgliedstaaten zustehen, den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats.

…“

Verordnung (EG) Nr. 987/2009

8 Art. 11 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung Nr. 883/2004 (ABl. 2009, L 284, S. 1) bestimmt:

„(1) Besteht eine Meinungsverschiedenheit zwischen den Trägern von zwei oder mehreren Mitgliedstaaten über die Feststellung des Wohnortes einer Person, für die die Grundverordnung gilt, so ermitteln diese Träger im gegenseitigen Einvernehmen den Mittelpunkt der Interessen dieser Person und stützen sich dabei auf eine Gesamtbewertung aller vorliegenden Angaben zu den einschlägigen Fakten, wozu gegebenenfalls die [f]olgenden gehören können:

a) Dauer und Kontinuität des Aufenthalts im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats;

b) die Situation der Person, einschließlich

i) der Art und der spezifischen Merkmale jeglicher ausgeübten Tätigkeit, insbesondere des Ortes, an dem eine solche Tätigkeit in der Regel ausgeübt wird, der Dauerhaftigkeit der Tätigkeit und der Dauer jedes Arbeitsvertrags,

ii) ihrer familiären Verhältnisse und familiären Bindungen,

iii) der Ausübung einer nicht bezahlten Tätigkeit,

iv) im Falle von Studierenden ihrer Einkommensquelle,

v) ihrer Wohnsituation, insbesondere deren dauerhafter Charakter,

vi) des Mitgliedstaats, der als der steuerliche Wohnsitz der Person gilt.

(2) Können die betreffenden Träger nach Berücksichtigung der auf die maßgebenden Fakten gestützten verschiedenen Kriterien nach Absatz 1 keine Einigung erzielen, gilt der Wille der Person, wie er sich aus diesen Fakten und Umständen erkennen lässt, unter Einbeziehung insbesondere der Gründe, die die Person zu einem Wohnortwechsel veranlasst haben, bei der Bestimmung des tatsächlichen Wohnortes dieser Person als ausschlaggebend.“

Richtlinie 2004/38

9 In den Erwägungsgründen 9, 10, 20 und 21 der Richtlinie 2004/38 heißt es:

„(9) Die Unionsbürger sollten das Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten haben, ohne jegliche Bedingungen oder Formalitäten außer der Pflicht, im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses zu sein, unbeschadet einer günstigeren Behandlung für Arbeitssuchende gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofs.

(10) Allerdings sollten Personen, die ihr Aufenthaltsrecht ausüben, während ihres ersten Aufenthalts die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen. Daher sollte das Aufenthaltsrecht von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen für eine Dauer von über drei Monaten bestimmten Bedingungen unterliegen.

(20) Das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit erfordert, dass alle Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die sich aufgrund dieser Richtlinie in einem Mitgliedstaat aufhalten, in diesem Mitgliedstaat in den Anwendungsbereichen des Vertrags die gleiche Behandlung wie Inländer genießen; dies gilt vorbehaltlich spezifischer und ausdrücklich im Vertrag und im abgeleiteten Recht vorgesehener Bestimmungen.

(21) Allerdings sollte es dem Aufnahmemitgliedstaat überlassen bleiben, zu bestimmen, ob er anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen, Personen, die diesen Status beibehalten, und ihren Familienangehörigen Sozialhilfe während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder im Falle von Arbeitssuchenden für einen längeren Zeitraum gewährt oder vor Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt Unterhaltsbeihilfen für die Zwecke des Studiums, einschließlich einer Berufsausbildung, gewährt.“

10 Art. 6 dieser Richtlinie bestimmt:

„(1) Ein Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten, wobei er lediglich im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein muss und ansonsten keine weiteren Bedingungen zu erfüllen oder Formalitäten zu erledigen braucht.

(2) Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige im Besitz eines gültigen Reisepasses, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen.“

11 Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 lautet:

„Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen steht das Aufenthaltsrecht nach Artikel 6 zu, solange sie die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen.“

12 Art. 24 der Richtlinie 2004/38 sieht vor:

...

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