VT v Ministero dell'Interno and Ministero dell'interno - Dipartimento della Pubblica Sicurezza - Direzione centrale per le risorse umane.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2022:897
Date17 November 2022
Docket NumberC-304/21
Celex Number62021CJ0304
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

17. November 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf – Art. 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Richtlinie 2000/78/EG – Art. 2 Abs. 2, Art. 4 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 – Verbot von Diskriminierungen wegen des Alters – Nationale Regelung, die für die Einstellung von Polizeikommissaren eine Höchstaltersgrenze von 30 Jahren festlegt – Rechtfertigungsgründe“

In der Rechtssache C‑304/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) mit Entscheidung vom 23. April 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Mai 2021, in dem Verfahren

VT

gegen

Ministero dell’Interno,

Ministero dell’Interno – Dipartimento della Pubblica Sicurezza – Direzione centrale per le risorse umane

erlässt

DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin M. L. Arastey Sahún (Berichterstatterin) sowie der Richter N. Wahl und J. Passer,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– von VT, vertreten durch A. Bonanni und P. Piselli, Avvocati,

– der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von E. De Bonis und G. M. De Socio, Avvocati dello Stato,

– der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und A. Hoesch als Bevollmächtigte,

– der hellenischen Regierung, vertreten durch M. Tassopoulou als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Martin und D. Recchia als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303, S. 16) sowie von Art. 3 EUV, Art. 10 AEUV und Art. 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits, den VT gegen das Ministero dell’Interno (Innenministerium, Italien) und das Ministero dell’Interno – Dipartimento della Pubblica Sicurezza – Direzione centrale per le risorse umane (Innenministerium – Abteilung öffentliche Sicherheit – Zentraldirektion Humanressourcen, Italien) führt. Gegenstand dieses Rechtsstreits ist die Entscheidung, VT nicht zur Teilnahme an einem Auswahlverfahren zur Besetzung von Stellen als Kommissar der Polizia di Stato (staatliche Polizei, Italien) zuzulassen, da er die hierfür vorgesehene Höchstaltersgrenze überschritten habe.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3 Die Erwägungsgründe 18 und 23 der Richtlinie 2000/78 lauten:

„(18) Insbesondere darf mit dieser Richtlinie den Streitkräften sowie der Polizei, den Haftanstalten oder den Notfalldiensten unter Berücksichtigung des rechtmäßigen Ziels, die Einsatzbereitschaft dieser Dienste zu wahren, nicht zur Auflage gemacht werden, Personen einzustellen oder weiter zu beschäftigen, die nicht den jeweiligen Anforderungen entsprechen, um sämtliche Aufgaben zu erfüllen, die ihnen übertragen werden können.

(23) Unter sehr begrenzten Bedingungen kann eine unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt sein, wenn ein Merkmal, das mit … dem Alter … zusammenhängt, eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt. …“

4 Zweck der Richtlinie 2000/78 ist gemäß ihrem Art. 1 die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten.

5 In Art. 2 („Der Begriff ‚Diskriminierung‘“) der Richtlinie heißt es:

„(1) Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe geben darf.

(2) Im Sinne des Absatzes 1

a) liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde;

…“

6 Art. 3 („Geltungsbereich“) der Richtlinie bestimmt:

„(1) Im Rahmen der auf die [Europäische Union] übertragenen Zuständigkeiten gilt diese Richtlinie für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, in Bezug auf

a) die Bedingungen – einschließlich Auswahlkriterien und Einstellungsbedingungen – für den Zugang zu unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit, unabhängig von Tätigkeitsfeld und beruflicher Position, einschließlich des beruflichen Aufstiegs;

…“

7 Art. 4 („Berufliche Anforderungen“) Abs. 1 der Richtlinie lautet:

„Ungeachtet des Artikels 2 Absätze 1 und 2 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass eine Ungleichbehandlung wegen eines Merkmals, das im Zusammenhang mit einem der in Artikel 1 genannten Diskriminierungsgründe steht, keine Diskriminierung darstellt, wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt.“

8 In Art. 6 („Gerechtfertigte Ungleichbehandlung wegen des Alters“) Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 heißt es:

„Ungeachtet des Artikels 2 Absatz 2 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass Ungleichbehandlungen wegen des Alters keine Diskriminierung darstellen, sofern sie objektiv und angemessen sind und im Rahmen des nationalen Rechts durch ein legitimes Ziel, worunter insbesondere rechtmäßige Ziele aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung zu verstehen sind, gerechtfertigt sind und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind.

Derartige Ungleichbehandlungen können insbesondere Folgendes einschließen:

c) die Festsetzung eines Höchstalters für die Einstellung aufgrund der spezifischen Ausbildungsanforderungen eines bestimmten Arbeitsplatzes oder aufgrund der Notwendigkeit einer angemessenen Beschäftigungszeit vor dem Eintritt in den Ruhestand.“

Italienisches Recht

Gesetzesdekret Nr. 165/1997

9 Gemäß den Art. 1 und 2 des Decreto legislativo n. 165 – Attuazione delle deleghe conferite dall’articolo 2, comma 23, della legge 8 agosto 1995, n. 335, e dall’articolo 1, commi 97, lettera g), e 99, della legge 23 dicembre 1996, n. 662, in materia di armonizzazione al regime previdenziale generale dei trattamenti pensionistici del personale militare, delle Forze di polizia e del Corpo nazionale dei vigili del fuoco, nonchè del personale non contrattualizzato del pubblico impiego (Gesetzesdekret Nr. 165 zur Umsetzung der Ermächtigungen gemäß Art. 2 Abs. 23 des Gesetzes Nr. 335 vom 8. August 1995 sowie Art. 1 Abs. 97 Buchst. g und Abs. 99 des Gesetzes Nr. 662 vom 23. Dezember 1996 zur Harmonisierung der Ruhegehälter von Angehörigen des Militärs, der Polizei und der nationalen Feuerwehr sowie von öffentlichen Bediensteten, die keine Vertragsbediensteten sind, mit dem allgemeinen Sozialversicherungssystem) vom 30. April 1997 (GURI Nr. 139 vom 17. Juni 1997) beträgt die Altersgrenze, bei deren Erreichen das Personal der staatlichen Polizei in den Ruhestand versetzt wird, 61 Jahre.

Gesetz Nr. 127/1997

10 Die allgemeinen Regeln zum Alter in Bezug auf die Teilnahme an öffentlichen Auswahlverfahren sind in Art. 3 Abs. 6 der Legge n. 127 – Misure urgenti per lo snellimento dell’attività amministrativa e dei procedimenti di decisione e di controllo (Gesetz Nr. 127 über dringende Maßnahmen zur Rationalisierung der Verwaltungstätigkeit sowie von Entscheidungs- und Kontrollverfahren) vom 15. Mai 1997 (GURI Nr. 113 vom 17. Mai 1997 – Supplemento ordinario zur GURI Nr. 98) festgelegt, wonach „[d]ie Teilnahme an Auswahlverfahren der öffentlichen Verwaltung … keinen Altersbegrenzungen [unterliegt], vorbehaltlich der Ausnahmen, die in den Regelungen der einzelnen Verwaltungen im Zusammenhang mit der Art des Dienstes oder den objektiven Bedürfnissen der Verwaltung vorgesehen sind“.

Gesetzesdekret Nr. 334/2000

11 Die Aufgaben eines Polizeikommissars sind im Decreto legislativo n. 334 – Riordino dei ruoli del personale direttivo e dirigente della Polizia di Stato, a norma dell’articolo 5, comma 1, della legge 31 marzo 2000, n. 78 (Gesetzesdekret Nr. 334 – Neuordnung der Aufgaben des Exekutiv- und Führungspersonals der staatlichen Polizei gemäß Art. 5 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 78 vom 31. März 2000) vom 5. Oktober 2000 (GURI Nr. 271 vom 20. November 2000 – Supplemento ordinario zur GURI Nr. 190) (im Folgenden: Gesetzesdekret Nr. 334/2000) geregelt.

12 Art. 2 Abs. 2 dieses Gesetzesdekrets beschreibt die Aufgaben eines Polizeikommissars wie folgt:

„Laufbahnbeamte bis zum Dienstgrad eines Hauptkommissars bekleiden die Dienstgrade von Schutzpolizeibeamten und Kriminalpolizeibeamten. Sie üben je nach Dienstgrad Funktionen aus, die zu den institutionellen Aufgaben der staatlichen Polizei und der Verwaltung für öffentliche Sicherheit gehören, mit autonomer Entscheidungsverantwortung und entsprechendem beruflichem Beitrag. Sie sorgen auch für die Ausbildung der Mitarbeiter und übernehmen, entsprechend ihrer beruflichen Qualifikation, Aufgaben der Ausbildung und Schulung des Personals der staatlichen Polizei. Sie arbeiten unmittelbar mit den Beamten der höheren Dienstgrade derselben Laufbahn zusammen und vertreten diese bei Abwesenheit oder Verhinderung in der Leitung von Ämtern und Abteilungen. Wenn sie das entsprechende Amt innehaben sowie...

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